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Shem Tov Semo

Michael HALÉVY

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte der aus Sarajevo stammende Journalist Shem Tov Semo (1827-1881) die österreichische Hauptstadt zusammen mit seinen Söhnen Moshe Haim, Shabtay und Aron und seinem Schwiegersohn Adolf von Zemlins(z)ky für zwei Jahrzehnte zu einem bedeutenden Zentrum sefardischer Publizistik. Die von ihnen verlegten Zeitschriften wurden nicht nur in Wien, sondern vor allem in den Balkanstaaten begierig gelesen. Nicht ohne Erfolg, denn seine Guerta de Istorya und Ilustra Guerta de Istorya wurden für zwei Generationen zur intellektuellen „Gartenlaube" der türkischen Sefarden, wohl nicht zuletzt auch aus dem Grund, weil zahlreiche Texte später in Saloniki nachgedruckt wurden. Angetrieben von seiner Mission, eine Synthese aus sefardischer Tradition, Zionismus sowie moderner Pädagogik zu schaffen, wie dies vor ihm schon von Rav Yehuda Bibas aus Korfu und Rav Yehuda Alkalay aus Sarajevo propagiert worden war, bemühte sich Semo zwei Jahrzehnte lang mit Eifer und spitzer Feder, seine Leser und die Wiener Sefardengemeinde voranzubringen. So sehr wir uns über seine journalistische Arbeit ein Bild machen können, so wenig wissen wir über das Leben dieses so ungemein produktiven Herausgebers, Redakteurs, Autors und Übersetzers, der es nicht verdient hat, vergessen und zu allem Unglück auch noch mit einer abenteuerlich-fehlerhaften Vita in der (meist wenig ergiebigen) Sekundärliteratur bedacht zu sein.

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Ilustra Guerta de Istorya. Foto: M. Halévy.

Semo, der sich meist A[lexander] Semo nannte, aber durchwegs Shem Tov Semo genannt wurde, kam 1827 in Sarajevo als Sohn des aus dem bulgarischen Vidin stammenden, späteren Wiener Gemeindevorstands und Kaufmanns David b. Shabtay Semo und der aus Sarajevo stammenden Klara, Tochter des Aron de Mayo (Danon?) zur Welt. Nach seiner Heirat mit Blanca Perere - angeblich die Tochter eines Sefarden und einer Muslima - liess er sich Ende der Fünfzigerjahre des 19. Jahrhunderts in Wien nieder, wo wenig später seine beindruckende Karriere begann. Er war nicht nur Herausgeber des Koreo de Vyenah und dessen Beilagen El Treoro de la Kaza und La Politika, sondern auch der Zeitschriften El Dragoman, Guerta de Istorya, Ilustra Guerta de Istorya sowie anderer Druckwerke. Und er verfasste bzw. übersetzte zahlreiche Romane aus dem Deutschen ins Judezmo: El Konde i el Djidyo und El emperador Djuzepo el segundo, kuento muy milagrozo ke akontesyo en tyempo del emperador Djuzepo el segundo en Vyenah (Jerusalem 1902), um nur zwei zu nennen.

Über Semos verlegerische Aktivitäten, vor allem aber über seine pädagogischen Intentionen, berichtet der Bukarester Sefarde Leon Haim Tuvy im Mai 1881 in der Ilustra Guerta de Istorya. In diesem Gespräch äussert sich Shem Tov Semo pessimistisch und desillusioniert über Erfolg und Wirkung seiner Arbeit. Er beklagt die geringe Anzahl an Abonnenten und das Desinteresse der djidyos frankos an seiner Arbeit. In diesem Gespräch, das einem Testament nahe kommt, sagt er:

„Ich begann meine journalistische Tätigkeit mit dem Ziel, die Lust an der Literatur zu wecken, meine Leser für die jüdische Sache zu interessieren, sie über politische und soziale Entwicklungen zu unterrichten und mit meinen Texten eine Bibliothek an guter Literatur zu schaffen. „

Für Shem Tov Semo ist eine gute literatura populara vor allem eine judenspanische Übersetzung aus dem Deutschen und Hebräischen. Im Gegensatz zu den Verlegern in Saloniki, die ihre Leser mit Übersetzungen bzw. Adaptionen seichter französischer Unterhaltungsromane geradezu quälten, bestand Semo auf literarischer Qualität, auch wenn ihm dadurch die Jugend ihre Gefolgschaft versagte. Aus diesem Grunde veröffentlichte Semo im Koreo de Vyenah und in der Guerta de Istorya mit Vorliebe die viel gelesenen und in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Geschichten (novelas) des Mainzer Rabbiners Marcus Lehmann (Konde o Djidyo) und des deutschen Publizisten und Herausgebers der Allgemeinen Zeitschrift des Judenthums Ludwig Philippson (El korason djudaiko), aber auch - dies wohl dem Zeitgeschmack geschuldet - Romane des in Wien überaus populären Feuilletonisten Theodor Scheibe, des wohl erfolgreichsten Vertreters des Wiener Feuilletonromans.

Mitglieder der Familie Semo- Zemlins(z)ky beteilig-ten sich als Autoren und Übersetzer ebenfalls am Familienunternehmen. Shem Tov Semo übersetzte novelas seines Schwiegersohns Adolf(o) von Zemlins(z)ky (El riko i el prove; La ija loka del Rabi und La ora de mekubal). Sein Sohn Moshe Haim, der nach dem Tod des Vaters die Zeitschriften übernahm, übersetzte die Romane El renyegador de Israel (Wien 1894) und El kantador de Toledo. Sein Sohn Aron, von dem keine Lebensdaten dokumentiert sind, übersetzte die Romane Un defendedor i mamparador de djidyos, Una ija de Israel (Ruse 1894) und El estabilimento de la onorada Comuna Spagnola en Viena. Nach einem Aufenthalt in Turnu-Severin bzw. Craiova veröffentlichte er in der in Turnu Severin erscheinenden Zeitschrift El Luzero de la Pasensia die Erzählungen La Ermoza Ğudia, El Mayo und Australia.

Shem Tov Semo starb am 10. April 1881 im Alter von gerade einmal 54 Jahren in Wien. In einem der wenigen Nachrufe, in der in Saloniki verlegten Zeitschrift La Epoka vom 9. Mai 1881, heisst es unter anderem:

„Der Koreo de Vyena teilt uns den Tod seines im Alter von 54 Jahren verstorbenen Redakteurs Sh[em] T[ov] Semo mit, eines der herausragenden Redakteure der [juden-] spanischen Sprache. Seine tüchtigen Söhne werden sein Werk fortsetzen."

(La Epoka, 9. 5. 1881).

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Rechts: Grab des Vaters, David ben Shabtay Semo aus Vidin in Bulgarien, gestorben am 15. Juni 1846 im Alter von 63 Jahren, am jüdischen Friedhof Währing in Wien. Foto: T. Walzer.

Gräber der Familie Semo liegen auf dem Zentralfriedhof in der alten jüdischen Abteilung bei Tor 1 sowie auf dem jüdischen Friedhof Währing. Semos Verehrer und Mitarbeiter Leon Haim Tuvy liess sich später in Rotterdam nieder. Nach dem Überfall der Wehrmacht wurde er ins Lager Westerbork verbracht, aus dem er später nach Auschwitz deportiert wurde, wo er 1944 ermordet wurde. n

Bibliographie:

Studemund-Halévy, Michael/ Gaëlle Collin: Sefarad sur les rives du Danube. In: Miscelánea de Estudios Árabes y Hebraicos, sección de hebreo, 57 (2008),  S. 149-211.

Studemund-Halévy, Michael: Die Wiener Sefarden und die deutschsprachige Romanistik.  Hamburg: Helmut Buske Verlag 2009. (= Romanistik in Geschichte und Gegenwart XV, 2)

Studemund-Halévy, Michael: Sefarad an der Donau. Los impresos sefardies en Viena en los siglos XIX y XX. Barcelona: Tirocinio 2010 (in Vorbereitung).