Ruta Wermuth: Im Mahlstrom der Zeiten. Die ungewöhnliche Geschichte eines jüdischen Geschwisterpaares. Herausgegeben von Alois Bauer und Stefan Heitzmann. Verlag Pro-Business, Berlin 2005. 196 Seiten, 14,80 Euro. ISBN 3-938262-75-3 (Maximilian Kolbe-Werk)
Die heute in Polen lebende Autorin Ruta Wermuth wurde 1928 als Jüdin in der heutigen Ukraine liegenden Stadt Kolomea geboren. Ihre in deutscher Sprache vorliegenden Lebenserinnerungen wurden bislang leider noch kaum rezipiert, sie bilden aber einen wichtigen Beitrag insbesondere für die Erziehung der künftigen Generationen über die Verbrechen der Shoah, über das jüdische Leben vor der dunklen Nacht des Terrors und über das jüdische Leben nach 1945 in Polen und in Europa generell.
Ruta Wermuths Lebenserinnerungen sind für das deutschsprachige LeserInnenpublikum auch deshalb so wichtig, weil sie die spezielle Situation der vom 17. September 1939 bis zum Überfall des NS-Staates auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 durch die Sowjetunion besetzten Teile Polens etwas näher beleuchtet. Immerhin fiel ja beispielsweise der Grossrabbiner von Warschau, Moses Schorr, am 8. Juli 1941 durch die Mörderhand des NKWD.
Bis zum 1. September 1939 verläuft das Leben der Tochter einer angesehenen jüdischen Familie in der damaligen polnischen Republik - zusammen mit ihren beiden Brüdern Salek und Pawel - in sehr geordneten Bahnen.
Erst im Jahr 1943, als Ruta als Zwangsarbeiterin im deutsch besetzten Elsass weilt - so schreibt sie auf Seite 94 ihres Buches -, kommen ihr wieder die Erinnerungen an den letzten, heilen, wunderbaren Sommer des Jahres 1939, vom Duft der Fichten bei den Ausflügen mit der Familie in die Berge der Umgebung sowie vom Sommerurlaub im polnischen Höhenkurort Krynica in der Tatraregion. Eines Morgens weckt die Urlauber das grässliche Heulen der Luftschutzsirenen und die Nachricht vom Pakt Hitlerdeutschlands mit der Sowjetunion. Unruhe und Chaos macht sich breit; jeder weiss nun - dieser Pakt bedeutet für Polen Krieg. Der große Bruder Salek muss das 10-jährige Mädchen durch das Fenster in den Zug heben, so viele Menschen drängen sich auf dem Bahnsteig; und am 29. August1939 kommt die Familie wieder nach Umsteigen in Krakau und Lemberg in Kolomea an.
Erst im Ghetto Kolomea, das im März 1942 errichtet wird, erfährt Ruta, dass ihr Bruder Salek noch im Juni 1942 - kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht - sich in die Sowjetunion retten kann. Er, der Büchermensch und Idealist, fand bei seinen Eltern und auch bei seinem Bruder Pawel für seinen damaligen Glauben an das „rote Halstuch" kein Verständnis. Erst nach dem Tod des Bruders Pawel durch die Nazi-Schergen erkennt die Familie, wie Recht Salek hatte bei seiner Idee, sich zunächst in die UdSSR durchzuschlagen. Der Vater verabschiedet sich noch von seinem Sohn Salek mit den Worten: „Nach dem Krieg werden wir ja sehen, wer Recht behalten hat" (Seite 158).
Die Nazis verlieren keine Zeit dabei, ihre Verbrechen in die Tat umzusetzen. Im September 1942 wird die Bevölkerung des Ghettos in das Todeslager Belzec gebracht. Mit blossen Händen reissen die dem sicheren Tod vor sich Habenden Bretter aus der Wagonwand; der Mutter und Ruta gelingt durch einen Sprung vom fahrenden Todeszug der Sprung in die Freiheit, der Vater wird erschossen.
Der Rezensent möchte den Leserinnen und Lesern die bewegende Geschichte bis zum ersten Telefonat mit ihrem Bruder Salek im Jahr 1994 nicht vorwegnehmen. Das vorliegende Buch ist jedenfalls ein sehr ergreifendes Zeugnis über jüdisches Leben, jüdisches Leiden und die Wiedergewinnung jüdischer Identität in Ostmitteleuropa. Dieses Buch verdient ein breiteres Auditorium, und auch, verfilmt zu werden.