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Der ideale jüdische Mann

Felice Naomi WONNENBERG

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Glikl Bat Juda Leib (geb. 1646 in Hamburg - gest. am 19 September 1724 in Metz), fälschlicher Weise oft auch als Glikl von Hameln bezeichnet,1 begann 1691 ihre "Sichrones", ihre Memoiren, zu schreiben, "aus vielen Sorgen und Nöten und Herzeleid"2, als sie den Tod ihres geliebten Ehemannes Haim betrauerte.
Was sie als eine persönliche Trauertherapie begann, entwickelte sich zu einem faszinierenden Dokument privater Geschichte der frühen Neuzeit.

Ihre Memoiren wuchsen auf sieben Bände an, die bis heute in verschiedenen Sprachen verlegt werden und in den Jüdischen Studien zum Kanon der Lehrliteratur gehören. In ihnen schildert Glikl Bat Juda ihr fast 80-jähriges Leben als erfolgreiche internationale Grosshändlerin und verwitwete, aber unverzagten Frau. Sie war nach dem frühen Tod ihres ersten Ehemannes lange Zeit "alleinerziehende Mutter" von 14 Kindern, schaffte es aber dank Ihres beruflichen Erfolges, ihre Töchter und Söhne in angesehene und wohlhabende jüdische Familien in ganz Europa zu verheiraten. Mit diesen "Filialen" baute sie gleichzeitig ihr Handelsnetz weiter aus. Eine dreifache Karrierefrau, kann man sie wahrhaft als Eshet Hail bezeichnen, eine wie im Schabbatgebet gepriesene tüchtige, wackere Frau.

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Porträt von Bertha Pappenheim als Glikl von Leopold Pilichowski (1869-1933), vor 1925. Copyright: Alice und Moshe Shalvi. Mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Museums Berlin.

Nun soll sich dieser Beitrag allerdings nicht der Beschreibung ihrer Qualitäten als bemerkenswerter Frau widmen, so wichtig ihr Vorbild im Sinne der Selbstbehauptung jüdischer Frauen auch sein mag. Vielmehr soll die Betrachtungsweise sozusagen umgedreht werden - durch die Augen dieser  beispielhaften Frau soll ein Bild des "idealen jüdischen Mannes" gezeichnet und nachvollziehbar gemacht werden.

In ihren Memoiren finden sich zwei ausführliche Beschreibungen eines solchen vorbildlichen jüdischen Mannes. Eine ist die Lobeshymne auf ihren verstorbenen ersten Ehemann Haim. Die zweite Beschreibung könnte man eine "Phantasievorstellung der idealen Männlichkeit" nennen, eine Moralitätengeschichte, die sie in ihre Memoiren einwebt als Belehrung und Ermutigung für ihre Nachkommen, die sie als Leserschaft ihrer Memoiren intendiert hatte.

Untersuchen wir zuerst einmal die Beschreibung ihres eigenen Ehemanns. Glikl lobt an ihm ihren Kindern gegenüber seine sanftmütigen, unagressiven Charaktereigenschaften, besonders "Wie der liebe Mann bescheiden und duldsam war so findet man seinesgleichen nicht. Was ihm auch oft von Freunden und Fremden geschehen und angestellt worden ist, er hat alles mit Geduld angenommen ...". Daniel Boyarin kommentiert in seinem Buch über jüdische Männlichkeitsentwürfe "Unheroic Conduct" diese Textstelle. "In ihrer Beschreibung ihres jungen Ehemannes als den idealen jüdischen Mann ihrer Zeit betont sie seine nach `in-sich-Gekehrtheit", Mildtätigkeit und besonders seine Demütigkeit. (...) Das sind nicht Charaktereigenschaften eines `Ritters in glänzender Rüstung´. Ja viele dieser Eigenschaften, Demütigkeit, Sanftmütigkeit, Geduld und Leidensfähigkeit"3, würden eher zu einer bedrängten Jungfrau passen.

Die Autorin und Ehefrau lässt jedoch in ihrer liebevollen und anerkennenden Ausdrucksweise keinen Zweifel daran, wie sie diese Charaktereigenschaften bewertet, und fasst diese schliesslich zusammen im moralischen Schluss: "Kurz, er ist ein rechter Ausbund von einem frommen Juden gewesen." 

Zur Ode an ihren verblichenen "lieben Freund"4, wie sie ihn bezeichnet, stellt sie jedoch auch ein weiteres Vor-"Bild von einem Mann". In Form einer eingearbeiteten moralisierenden Legende, die sie, wie sie schreibt, "in einem Buch geschrieben gefunden, welches ein ehrenwerter Mann hat gemacht, Prager mit Namen". Nathaniel Riemer erforschte vergleichend die von ihr nacherzählten Moralitäten mit dem Manuskript "Beer Schewa", das von der gelehrten Frau Bila und ihrem Ehemann und Rabbiner Shmuel Issachar Perlhefter aus Prag geschrieben wurde und findet so viele Parallelen, dass er hierhin die literarische Vorlage vermutet, zudem sie "die Möglichkeit hatte das Paar aus Prag kennenzulernen als Beer als Dajan, Gutachter im jüdischen Gericht zu Hamburg-Wandsbeck tätig war"5. "Prager mit Namen" kann hier als ein Toponym verwendet worden sein, im aschkenasischen Kulturraum damals gang und gäbe.

Interessant ist die Auswahl der Geschichte durch die Autorin Glikl Bat Juda, da sie in ihren Memoiren eine moralisches Vermächtnis an ihre Nachkommen sah. Insofern ist die Geschichte nicht als ein literarisches Divertimento gedacht, sondern als ein Bild gezeichnet, das als Vorbild stehen soll. Auch in ihrer sehr mitfühlenden Erzählerstimme zeigt sich deutlich die Wertschätzung, die sie dem beschriebenen Mann entgegenbringt. Sie belässt ihn namenlos, vielleicht auch um seine universale Vorbildhaftligkeit nicht mit einer Personifizierung zu schmälern. Sie beschreibt ihn als einen Schriftgelehrten (des Talmud), der verheiratet ist, aber sich mit dem Broterwerb so ungeschickt angestellt, dass die Familie beständig an materiellem Mangel zu leiden hat: "er wusste (sic) keinen Handel zu treiben, nichts anderes als Talmud zu lernen."6

Trotzdem ist die Beschreibung seiner Person mit grosser Sympathie gestaltet: "Obschon er arm war, Widerwärtigkeiten und vielerlei Nöten (sic) auf ihn gekommen waren, hat er alles mit Geduld angenommen."7 Gänzlich passiv erleidet er sein Schicksal, die Erzählerin kommentiert: "Das Glück wollte ihm nicht wohl".8  Auch die Ehefrau hat in der Erzählung  Mitleid mit ihrem Mann und ist nicht zornig auf ihn, ganz im Gegenteil: "Sie tröstet ihren Mann, er sollte nicht ungeduldig werden und nur bei seinem Talmudlernen bleiben, sie wolle Tag und Nacht arbeiten, dass sie ihn und ihre Kinder ernährt."9 Seine Reaktion darauf ist denkbar jämmerlich: "da hub der fromme Mann erst recht an bitterlich zu weinen und sein frommes Weib mit ihm."10 Wieder zeigt sie Mitleid, sie "weint mit ihm", aber schon im nächsten Satz heisst es: "Aber die kluge, fromme Frau ermannte (Hervorhebung durch die Autorin) sich zuerst wieder und sprach: "Mein lieber Mann, das Schreien und Heulen wird uns und unseren Kindern kein Brot bringen. Ich will gehen... dass ich was verdiene ...11"

Aus dieser geschilderten Situation, die wohl symptomatisch steht für das authentische Elend vieler frommer Familien in Osteuropa jener Zeit, entspinnt sich die Moralität dann jedoch in märchenhafte Sphären. Der Mann tritt eine Schiffsreise an, ein mitleidiger Schiffer nimmt ihn mit, er erleidet Schiffbruch und "wird in eine grosse Wüstenei ausgeworfen, an einem Ort, wo sich dorten die wilden Leute aufhalten."12 In dieser Wildnis ergeht es ihm gar schrecklich: "Die Tochter des Königs der Wilden ersah ihn.. Und sie ging zu ihm und beweist ihm Liebschaft, als sollt er sie zum Weibe nehmen, und aus grosser Furcht erweist er ihr auch Liebschaft"13.

Die Erzählerin bemüht sich dabei sehr, die Leser von der Ungewolltheit dieses sexuellen Verhältnisses zu überzeugen. Sie führt dazu zum einem die Unattraktivität der "wilden Frau" an: "Sie war ganz nackt, mit Haar verwachsen..."14 und kontrastiert sie mit der Schönheit der Ehefrau des Mannes, die "so hübsch war", dass ein Mann "verwundert sich über die Schönheit"15. Zum anderen wird beschrieben, wie der Schriftgelehrte durch die soziale Macht und Gewalt der wilden Frau - immerhin der Tochter des Königs der "Wilden" - vergewaltigt wird. Höchst bedrohlich wird die Lage für ihn, denn so heisst es:

"Sie (die "Wilden") laufen alle auf ihn, sein Blut zu trinken und sein Fleisch zu essen, und ihr König war auch dabei. Der Schriftgelehrte erschrickt eine grosse Erschrecknis und es war bald kein Atem in ihm. Das sah des Königs Tochter und sie bedeutet ihm, dass er sich nicht fürchten sollt. Sie ging zu dem König, ihrem Vater, und bat ihn gar sehr, dass er den Menschen sollt leben lassen, denn sie wollte ihn zum Manne nehmen."16

Voila. Sie nimmt ihn - und nicht umgekehrt. "Also folgt er ihr und liess ihn leben, und der Schriftgelehrte musste sich in der Nacht zu ihr legen...wiewohl er oftmals... an sein hübsch fromm Weib gedacht... Doch war das alles nicht zu ändern. Er nahm alles mit Geduld an...".17 Womit die absonderliche Begebenheit der Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau narrativ erklärt und festgeschrieben wird.

Kontrastierend zu dieser Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau, wird in der Moralität parallel dazu die drohende Vergewaltigung einer Frau durch einen Mann konstruiert. Die Ehefrau des Schriftgelehrten ist ebenfalls von den Wirren des Schicksals in eine gewalttätig erzwungene Ehe geworfen. Ein Schiffer entführte sie auf seinem Boot. Doch weiss das kluge Weib auf recht selten originelle Art, die anstehende Vergewaltigung abzuwenden, sie entgegnet nämlich ihrem Entführer: "Wer das Rätsel (Rätselwort meines Ehemannes) trifft, der gleicht meinem Manne an Verstand und ich lass ihn bei mir schlafen. Wenn aber nicht, lass ich mich erschlagen, ehe dass ich liesse einen bei mir schlafen, oder brächte mich selbst ums Leben."18 Sie droht also mit dem Selbstmord als Liebesopfer und schliesst ihre Forderung recht pointiert ab mit den Worten: "Denn es ist nicht billig, dass der Bauernflegel auf des Königs Pferd sollt  reiten."19 Ein erotisches Bild, das wohl keiner Erläuterung bedarf und laut der Erzählung von durchschlagendem Erfolg, es heisst der Entführer habe "sie all die Zeit her nicht berührt"20 - sie entgeht Dank ihrer Weisheit der Vergewaltigung.

Der vergewaltigte Ehemann unterdessen "lag in den Löchern in dem Gebirge mit seinem wilden Weibe...und er bedenkt all das Leid" und kommt entmutigt zu dem Schluss, es sei wohl besser "ich ... laufe bis in das Meer und ertränke mich".21 Doch G‘tt kam ihm zur Hilfe und führt die ganze Familie wieder zusammen, macht sie reich und glücklich und Ihn zum König.

Die moralische Intention, die hinter dieser nacherzählten Geschichte steht, ist - obwohl die Narration absonderlich verläuft - sehr klar. Die zentrale positive Charaktereigenschaft, die sie herausstellt, ist genau wie in der Beschreibung ihres Ehemannes die Duldsamkeit, die "Geduld": "Aber Gtt wird euch alles zu gutem tun, wenn ihr es in Geduld tragen werdet."22 Der Mann, der nur genug Duldsamkeit zeigt, dem helfe G‘tt zum Guten. Geduld sei die höchste Charaktereigenschaft, die ein jüdischer Mann aufweisen kann, höher geschätzt als finanzieller Erfolg, Mut, Initiative oder gar kämpferischer Geist wird aus Glikl Bat Juda Schilderung ihres verstorbenen Ehemannes deutlich. Mit Geduld gesegnet, fehlt dem guten Mann zum Glück und Segen nur noch ein "eshet hail".

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Vitrine mit den Memoiren der Glikl bas Juda Leib in der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin. Foto: Jens Ziehe. Mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Museums Berlin.

Die Memoiren der Glikl Bat Juda Leib werden auch heute noch in verschiedenen Sprachen aufgelegt. In der ausgezeichneten Übersetzung aus dem Jiddischen ins Hochdeutsche, welche die in Wien geborene jüdische Frauenrechlerin Bertha Pappenheim 1910 erstellte, werden sie derzeit im Beltz Verlag angeboten unter dem Titel "Die Memoiren der Glückel von Hameln". Wer sich in die Philosophie und Lebenswelt dieser Frau und durch ihre Memoiren in die  jüdische Lebenswelt des 17. Jahrhundert in Mitteleuropa generell weiter einlesen möchte, dem sei auch Natalie Zemon Davis "Mit Gott rechten: Das Leben der Glikl bas Judah Leib" empfohlen.

Im Jüdischen Museum Berlin ist Glikl Bat Juda und ihrer Zeit eine ganze Abteilung der Dauerausstellung gewidmet, und es werden spezielle Führungen zum Thema "Glikl - aus dem Leben einer jüdischen Händlerin" angeboten.

1  Glikl hat noch 1712 ( nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes) eigenhändig mit dem Namen Glikl Bat Juda (mit hebräischen Buchstaben, wie im Jiddischen üblich) unterschrieben (in der mündlichen jiddischen Aussprache wird daraus Glikl bas Juda), der patronymen Namensform nach ihrem Vater Jehuda Josepf Leib, zu Deutsch wörtlich Glückel Tochter des Juda. Der Name "Glückel von Hameln" ist eine Erfindung des Herausgebers der ersten Ausgabe der Memoiren in jiddischer Sprache 1896, er benennt sie damit gemäss der patriachialischen Sitte und Denkart seiner Zeit nach ihrem ersten Ehemann, der aus Hameln kam, also toponymisch Glückel von Hameln, obwohl sie aus Hamburg stammte und in ihrem langen Leben nur ein einziges Jahr, gleich nach der Hochzeit, in Hameln verbracht hat.

2  Die Memoiren der Glückel von Hameln, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2005, Seite 1.

3  Daniel Boyarin, Unheroic Conduct, Berkeley and Los Angeles: University of California Press, 1997, Seite 55.

4  Memoiren, Seite XII.

5  Nathaniel Riemer, some parallels of stories in Glikls of Hameln Zikhroynes, in Pardes Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien, e.V., Universitätsverlag Potsdam, Heft 14, 2008.

6  Memoiren, Seite 37.

7  Memoiren, Seite 36.

8  Memoiren, Seite 37.

9  Memoiren, Seite 38.

10  Memoiren, Seite 38.

11  Memoiren, Seite 38.

12  Memoiren, Seite 40 - 41.

13  Memoiren, Seite 41.

14  Memoiren, Seite 41.

15  Memoiren, Seite 38.

16  Memoiren, Seite 41.

17  Memoiren, Seite 41.

18  Memoiren, Seite 44.

19  Memoiren, Seite 45.

20  Memoiren, Seite 44.

21  Memoiren, Seite 42.

22  Memoiren, Seite 37.