Die historische Bukowina - deutsch auch Buchenland, rumänisch und ukrainisch Bucovina - liegt im östlichen Mitteleuropa, am Nordosthang der Karpaten, zwischen Galizien, der Moldau, Marmatien und Siebenbürgen. Jahrhunderte hindurch war dieses Gebiet - so wie auch das angrenzende Bessarabien, die heutige Republik Moldova/Moldawien - Teil des rumänischen Fürstentums Moldau.
Im Jahr 1514 kam das 10.441 qkm umfassende, waldreiche und dünn besiedelte Land unter türkische Oberhoheit. 1774 besetzten es österreichische Truppen, und ab Mai 1775 wurde es für 143 Jahre Teil des multiethnischen österreichischen Kaiserreichs. Im November 1918 marschierten dann rumänische Truppen ein, und nach dem Vertrag von St. Germain (1919) gehörte die Bukowina zum Königreich Rumänien. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts wurde das Gebiet - ebenso wie Bessarabien und die Provinz Hertza - 1940 der Sowjetunion angegliedert; dann aber 1941, nach der Besetzung durch rumänische und deutsche Truppen, wieder an Rumänien angeschlossen. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Nordbukowina mit der Hauptstadt Czernowitz (heute: �ernivzy) an die Ukraine; und nur die Südbukowina mit der Hauptstadt Sutschawa (rum. Suceava) verblieb weiterhin bei Rumänien.
Bereits seit dem 14. Jh. hatte es hier eine alteingesessene jüdische Bevölkerung, meist Handwerker, Bauern und kleine Händler, gegeben, die dann 1914 über 120.000 Einwohner zählte - neben Ruthenen, Rumänen, Deutschen, Polen, Armeniern, Ungarn, Slowaken, Lipowanern und anderen Ethnien. Berühmte Zentren des Chassidismus waren die Rabbinerhöfe in Sadagora (seit 1842) und in Bojan (seit 1886). Zum wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Zentrum des deutschen Judentums entwickelte sich im 19. Jh. die Hauptstadt Czernowitz. Hier fand übrigens 1908 eine denkwürdige Sprachkonferenz statt - unter Teilnahme von renommierten Autoren wie Schalom Asch, Isaak Leib Perez u.a. -, die der aufstrebenden jiddischen Literatur neue Impulse vermittelte.
Aus der Bukowina stammt auch eine Reihe bedeutender deutsch-jüdischer Schriftsteller und Dichter wie Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner u.a. sowie berühmte jiddische Dichter wie Itzik Manger, Eliezer Steinbarg, Josef Burg, ausserdem der Regisseur Mauriciu Sekler, die Schauspielerin Sidy Tal, der weltbekannte Sänger Josef Schmidt und der Maler Arnold Daghani (Korn), um hier nur an einige Namen zu erinnern.
In der Hauptstadt Czernowitz lebten 1940 annähernd über 50.000 Juden, vorwiegend mit deutscher Muttersprache; das war damals etwa die Hälfte der gesamten Stadtbevölkerung. Vor dem Ersten Weltkrieg waren 10 von 63 Landtagsvertretern und 20 von 50 Mitgliedern des Gemeinderats der bukowinischen Hauptstadt jüdischen Glaubens. In Czernowitz wurden zweimal jüdische Bürgermeister gewählt; in anderen damals österreichisch geprägten Städten, wie Suczawa (Suceava), Sereth (Siret) oder Wischnitz (Viznica), sogar öfter.
An der 1875 gegründeten deutschen Franz-Josephs-Universität gab es ebenfalls eine Reihe herausragender jüdischer Professoren, und auch das jüdische Kulturleben nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. einen bemerkenswerten Aufschwung. Es entstanden zahlreiche jüdische akademische Vereine, wie „Hasmonäa" (1891), „Zephira" (1897), „Humanitas" (1900) u.a. sowie zionistische Gesellschaften und Organisationen, jüdische Studenten-, Musik- und Sportvereine. Im Jahr 1896 waren 49,8 Prozent der Studenten Juden, und 1914 betrug ihr Anteil immerhin noch 38,5 Prozent, wonach er ab 1921 - infolge des rumänischen Chauvinismus - auf 9,4 Prozent sank. In der Zeit von 1875 bis 1919 gab es hier insgesamt 127 Professoren, davon 82 Österreicher und Deutsche, 20 Rumänen, 16 Juden, 5 Ukrainer, 2 Slowaken, 1 Tschechen und 1 Polen. Der letzte deutsche Rektor - vor dem Anschluss der Bukowina (1919), der Rumänisierung der Universität (1921) und der beginnenden Rassenverfolgungen - war ebenfalls Jude: der aus Galizien stammende Professor Dr. Cäsar Pomeranz.
Nachdem Österreich-Ungarn 1919 die Bukowina - mit knapp einer Million Einwohner - an Rumänien abgetreten hatte, wirkte die jüdische Bevölkerung weiterhin aktiv am kulturellen, politischen und sozialen Leben des Landes mit, obwohl die antisemitischen Strömungen des aufkommenden Faschismus und manchmal auch der „volksdeutschen Buchenländer" zunahmen und immer aggressiver wurden.
Der Zweite Weltkrieg mit seinen einzigartigen Verbrechen und schmerzlichen Folgen sowie der Anschluss der Nordbukowina an die Sowjetunion 1945 beendeten dann endgültig das vielseitige, deutsch-jüdisch und europäisch geprägte Kulturleben in Czernowitz. Schon bald nach Kriegsausbruch kam es durch deutsche und rumänische Truppen zu Massenmassakern, Plünderungen und Deportationen - in die berüchtigten Vernichtungslager nach Transnistrien -, denen über die Hälfte der jüdischen Einwohner zum Opfer fielen. In Transnistrien, dem Gebiet jenseits des Dnjester, gab es während der deutsch-rumänischen Besatzungszeit 1941-1944 49 Ghettos, 58 Arbeits- oder Durchgangslager und acht Vernichtungslager. Nur ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung hatte 1945 den Holocaust überlebt.
In �ernivzy, dem ehemaligen Czernowitz, das inzwischen zu einer ukrainischen Provinzstadt verblasst ist, soll es heute noch etwa 5000 Juden geben, meist Rentner und ältere Menschen - das sind kaum zehn Prozent der einstigen jüdischen Einwohnerzahl -; und in der rumänischen Südbukowina, so in Sutschawa (Suceava), Radautz (R�d�u�i), Moldauisch-Kimpolung (Câmpulung Moldovenesc) und Dorna-Watra (Vatra Dornei), bestehen noch kleine jüdische Gemeinden mit insgesamt etwa 200 Mitgliedern. In der einst deutsch-jüdisch geprägten Stadt Sereth am Sereth (Siret), bekannt durch ihr farbiges Kulturleben und einem bodenständigen „Wiener Flair", verstarb vor einigen Jahren der Heimatkundler Herbert Gropper. Er war der letzte deutsche Jude im Ort. So ist die Bukowina nun ein Land der Vergangenheit.
An diese Vergangenheit und an die inzwischen verstummten Stimmen herausragender deutsch-jüdischer Dichter erinnerte eine Ausstellung, die 2010 drei Monate hindurch in München zu sehen war. Denn diese Dichter kamen einst aus den zärtlichen Landschaften, die Rose Ausländer „Grüne Mutter Bukowina" nannte - so auch der Titel der Ausstellung -, und sie trugen hinaus in die Welt den unvergesslichen Klang ihrer Sprache. Veranstaltet wurde diese bisher umfangreichste Dokumentarschau zum Thema Bukowina auf Initiative von Brigitte Steinert, stellvertretende Direktorin im Haus des deutschen Ostens, sowie von der Kommission für ostjüdische Volkskunde e.V., in Zusammenarbeit mit der Literaturhandlung Dr. Rachel Salamander, München. Ein grafisch exzellent gestalteter Katalog vereint auf 46 Seiten zwei einführende Texte, ein Verzeichnis der Exponate (Handschriften, Bücher und Bilder) sowie wichtige Quellenhinweise.
Keijnmol mer - Nie wieder!
Im Jahr 1959, als er längst aus seiner Heimat Bukowina vertrieben worden war, schrieb Alfred Margul-Sperber das meditative, schmerzliche Gedicht „Auf den Namen eines Vernichtungslagers":
„Dass es bei Weimar liegt, vergass ich lang.
Ich weiß nur: man hat Menschen dort verbrannt.
Für mich hat dieser Ort besonderen Klang,
Denn meine Heimat heisst: das Buchenland.
Entrücktes Leben, unvergessner Tag:
Der Buchenwald - ich weiss es noch genau,
Wie ich als Bub in seiner Lichtung lag,
Und eine weisse Wolke schwamm im Blau...
O Schmach der Zeit, die meinen Traum zerstört!
Erinnern so verhext in ihrem Band,
Dass wenn mein Ohr jetzt diesen Namen hört,
Ich nicht mehr an die Kindheit denken kann,
Weil sich ein Alpdruck in mein Träumen schleicht,
Ein Schreckgedanke jeden Sinnes bar:
Ob jene weisse Wolke dort vielleicht
nicht auch der Rauch verbrannter Menschen war?"
„Ich bin ein Ostjude, und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben," lässt Joseph Roth in seinem Roman „Hotel Savoy" den Millionär Henry Bloomfield sagen, als dieser das Grab seines Vaters Jechiel Blumenfeld besucht. „In diesem Satz", erkennt der Historiker Heiko Haumann, „ist die Geschichte der Ostjuden zusammengefasst. Sie sind nicht einfach die Juden in Osteuropa, obwohl sie sich dort als besonderer Typus herausgebildet haben, sondern sie wurden über die ganze Welt zerstreut. Tote liessen sie in vielen Ländern zurück. Die Erinnerung blieb oft die einzige Heimat."
Hier stehen zwei Begriffe nebeneinander, worüber man nachdenken sollte: Erinnerung und Heimat.
Was aber ist Erinnerung?
Erinnern, als kulturwissenschaftliches Thema, kann nicht solitär aufgefasst werden, denn es fliesst immer auch Vergessen ein. Doch jeder Mensch bestimmt letzten Endes selbst, was - im Überlieferungsprozess - aus seinem individuellen Gedächtnis verdrängt und vergessen und was als Erinnerung über Jahre hinweg oder ein Leben lang als geistiges Mitgepäck bewahrt werden soll.
Erinnern aber gehört, wie auch Überlieferung, zum jüdischen Weltbild. Der Begründer des Chassidismus, Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow, der aus Podolien stammte und als Wanderprediger auch weiter südlich in der damaligen Bukowina unterwegs war, soll einmal gesagt haben: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."
Und Heimat, das verwundete Wort, von Politikern und Vertriebenenfunktionären oft bis zur Glanzlosigkeit strapaziert - dürfen wir es heute noch unbeschwert aussprechen?
Manès Sperber sagt über sein vernichtetes jüdisches Schtetl: „Es ist in meinem Gedächtnis beheimatet." Und so bleibt Heimat eine Notwendigkeit, um Identität überhaupt zu markieren und zu erkennen.
Die innere Bindung an einen geistigen Raum - sie besteht retrospektiv weiter, auch wenn man eines Tages aus der traditionsgeprägten Lebenswelt gewaltsam hinausgedrängt, vertrieben oder deportiert wurde ... Das zeigen uns diese verschwundenen, teils vergessenen Bukowiner Juden, die jedoch heute zu den klangvollsten Stimmen deutscher Dichtung gehören.
Sie mussten ihre österreichisch-deutsch und gleichzeitig auch multiethnisch und multikulturell geprägte Heimat Bukowina verlassen, und was sie mitnehmen konnten in die USA, nach England, Frankreich, China, Israel oder nach Südrumänien, das war die deutsche Sprache; und so blieben sie weiterhin in ihr beheimatet. Denn man kann wohl aus einem Land vertrieben werden oder auswandern müssen - doch nicht auch aus der eigenen Sprache.
Bevor ich diese Zeilen schrieb, lief gerade im deutschen Fernsehen ein Film über den letzten Landesrabbiner von Oldenburg, Leo Trepp, der 1913 in Mainz geboren wurde und seit über sechzig Jahren in den USA lebt. Der renommierte Religionswissenschaftler und weise Rabbiner, den ich bei seinem Besuch in München 1997 persönlich kennen lernen durfte, sagte, dass die Nazis ihn einst aus Deutschland vertrieben haben. Doch sie vermochten nicht auch „das Deutschland aus ihm vertreiben", denn er blieb weiterhin innerlich zutiefst mit diesem Land verbunden. Dasselbe könnte man auch von den in dieser Ausstellung in Wort und Bild präsentierten Bukowiner Schriftstellern sagen.
Der Titel dieser Ausstellung wurde dem Gedicht „Bukowina III" entnommen, in dem sich Rose Ausländer nach dem letzten Weltkrieg an ihre ferne, verlorene Heimat erinnert:
„Grüne Mutter
Bukowina
Schmetterlinge im Haar
Trink,
sagt die Sonne
rote Melonenmilch
weisse Kukuruzmilch
ich machte sie süss
Violette Föhrenzapfen
Luftflügel Vögel und Laub
Der Karpatenrücken
väterlich
lädt dich ein
dich zu tragen (...)"
Alfred Margul-Sperber schrieb 1963 sein subtiles und prägnantes Heimatgedicht „Mit geschlossenen Augen":
„Heimat, Heumahd -
das ist wahrhaftig kein Wortspiel:
Wenn ich mit geschlossenen Augen
diese beiden Worte
langsam und leise sage,
dann bin ich in meiner Kindheit."
Im Frühjahr 1945, als der Zweite Weltkrieg folgenschwer zu Ende ging und die Nordbukowina endgültig an die Ukraine und somit an die Sowjetunion angeschlossen wurde, ahnte Margul-Sperber, der damals bereits längst seine Heimat verlassen hatte:
„Nie wieder werden wir die Wälder sehn:
Ich trug sie treulich durch die toten Tage.
Nie wieder wird das Wort des Windes wehn
Und tönt im Buchenlaub die Flötenklage."
Dieses intuitive Niewieder - das heute auch auf manchen europäischen Gedenksteinen in jiddischer Sprache steht: kejnmol mer - weist auf die Problematik hin, auf die Schwierigkeit, Erlebnis, Erfahrungen und Schmerz, als Bestandteile menschlicher und dichterischer Existenz, zu verarbeiten oder einfach nur damit weiter zu leben.
Niewieder bleibt für Millionen Menschen nach dem letzten Weltkrieg - nach Abschied, Flucht, Emigration, Entheimatung und Vernichtung durch das Unmenschentum - und bis in unsere Gegenwart die stumme Mahnung, dass es kein Vergessen geben darf.
„Chasak - sei stark..."
Als ich im Oktober 1960 zum Studium nach Bukarest ging - in jene Stadt, die man vor dem letzten Weltkrieg „Klein-Paris" nannte - lernte ich bald auch Lotte Berg, Alfred Kittner, Immanuel Weissglas, Maurice Fischer und andere Bukowiner persönlich kennen. Mit Alfred Margul-Sperber hatte ich das Glück, befreundet zu sein, und so wurde ich öfters zu ihm nach Hause eingeladen. Unsere Gespräche bewegten sich dann meist in der alten Kulturlandschaft der Bukowina, und für mich war das wie eine „Rückkehr zu den Wurzeln". Denn Sperber konnte sich noch an die Familie meiner Mutter erinnern, als diese in Czernowitz gelebt hat, und er erzählte gern von vertrauten Namen und Orten. Und so wurde langsam eine Welt lebendig, die ich bis dahin nur von einigen vergilbten Fotos her kannte.
Einmal las Sperber sein Gedicht „Judenfriedhof" vor und sagte mit der ihm eigenen weisen Selbstironie, wie sehr es ihn schmerzt, dass er eines Tages wahrscheinlich in Bukarest, in der südlichen Walachei, fern von den Gräbern seiner Eltern, fern von der Bukowina und nicht in heimatlicher Erde begraben sein wird: „... und wenn fremde Erde dann auf die Kiste fällt, in der ich liege, werde ich meinen, es ist Bukowiner Erde, denn Erdklumpen klingen, wenn sie herabfallen, zum Verwechseln ähnlich ..."
Paul Celan, Rose Ausländer, Immanuel Weissglas, Selma Meerbaum-Eisinger - vier eminente Namen deutschsprachiger Dichtung des 20. Jhs. -, doch auch Alfred Kittner, Moses Rosenkranz, Robert Flinker, Alfred Bong, Lotte Berg, Klara Blum und viele andere liegen nicht in Bukowiner Erde, auch wenn sie Zeit ihres Lebens in der Erinnerung an das stille, weite Land der Buchen beheimatet blieben. Und manche haben schliesslich sogar nirgendwo ein Grab gefunden.
An diese jüdischen Dichter und Schriftsteller, deren Präsenz einst die deutsche Sprach- und Kulturlandschaft geprägt hat, sollte in der grossen Münchener Dokumentarschau durch Handschriften, Bücher und Bilder erinnert werden.
Als Alfred Kittner 1980 von einer Auslandsreise nicht mehr nach Bukarest zurückkehrte, wurden zwei Redaktionskollegen und ich vom rumänischen Schriftstellerverband als Vertreter der „Neuen Literatur" beauftragt, seine NL-Kollektion zu übernehmen. So konnte ich damals zufällig auch einige Handschriften und Typoskripte kurz vor ihrer Vernichtung retten. Diese befanden sich noch in Kittners aufgelassener Wohnung, die gerade geräumt wurde, und warteten in einer Besenkammer als wirrer Haufen „Altpapier" auf den Abtransport zur staatlichen Verwertungszentrale D.A.C., zum Reisswolf. Da das Türfenster zur Kammer fehlte, hatte man durch diese Öffnung wahllos Papier und Kartons hineingeworfen. Als ich die Tür zu dem kleinen Raum öffnete, stürzte mir eine Flut von diversen Mappen und beschriebenen Blättern entgegen ... Darüber wurde der anwesende Staatsbeamte sehr ungehalten. Er sagte, ich müsse nun selbst „den ganzen Mist" wieder zurückräumen - was ich auch tat. Einige Blätter, Briefe und Postkarten legte ich allerdings beiseite. Die wertvolle Büchersammlung war bereits vorher von der staatlichen Antiquariatszentrale beschlagnahmt worden.
Unter den künstlerisch-dokumentarischen Belegen von grossem Seltenheitswert, die zum ersten Mal zu sehen waren, befindet sich z.B. der Debütband Rose Ausländers, der unter dem Titel „Der Regenbogen" 1939 in Czernowitz erschienen ist, dessen Auflage jedoch bald danach beinahe vollständig vernichtet wurde, dann die beiden Gedichtbände von Alfred Margul-Sperber, „Gleichnisse der Landschaft" (Storojinetz, 1934) und „Geheimnis und Verzicht" (Czernowitz, 1939) und der schmale Erstlingsband von Alfred Kittner, „Der Wolkenreiter" (Czernowitz, 1939) sowie Handschriften von Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Kubi Wohl, Klara Blum, Maurice Fischer, Otto Seidmann, Jona Gruber, Alfred Kittner - von ihm auch zwei frühe Gedichthefte, die durch Verbannung und Lager gekennzeichnet sind - u.a.; dann einige Zeichnungen, die Veronica Porumbacu (Veronika Schwefelberg) ahnungslos verschenkte, bevor sie im März 1977, während des grossen Erdbebens in Bukarest, mit allen ihren Gedichten, Büchern und künstlerischen Werken unter den Trümmern eines Wohnblocks begraben wurde. Ausserdem wurden hier auch Grafiken von Otto Piene, Rudolf Rybiczka und Aurel Jiquidi gezeigt sowie Zeichnungen von Maurice Fischer, Sofia Fränkel und Mosche Krinitz, dem feinsinnigen „Landschaftspoeten mit dem Stift in der Hand", dessen grafisches Oeuvre seit 1942 verschollen ist.
So hätte als Motto zur Ausstellung der elegische Satz von Margul-Sperber stehen können: „Auf und ab, verweilend mit verlorenem Schritt, nahmen wir die Landschaft in das Leben mit." Es sind schlichte, grosse Worte, die auch heute noch gültig sind, weil immer wieder Menschen ihre Heimat verlassen müssen und oft nicht mehr als die Erinnerung an die Landschaft mitnehmen können - ohne zu wissen, wohin die „verlorenen Schritte" sie dann führen werden.
Abschliessend sollte hier an ein Gedicht der jüngsten Lyrikerin der Ausstellung erinnert werden: Selma Meerbaum-Eisinger, die mit nur achtzehn Jahren diese Welt verlassen musste - in Michailowka, einem rumänisch-deutschen KZ, nachdem sie vorher in Cariera de piatr� am Bug gewesen war. Die bekannte Schriftstellerin Hilde Domin schrieb über das schmale eindrucksvolle poetische Werk dieses jüdischen Mädchens, das heute zur Weltliteratur gehört: „Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht."
Cariera war eine KZ-Sammelstelle für Arbeitskräfte, die von reichsdeutschen Strassenbaufirmen bei den Arbeiten an der Durchgangsstraße 4 gebraucht wurden, wie der Literaturwissenschaftler Jürgen Serke berichtet. Die „Organisation Todt" und die SS sorgten für die Zuteilung. Wer den SS-Männern für diese Arbeit untauglich schien, wurde einfach erschossen. So auch die Eltern Paul Celans. Drei Monate „kampierte" Selma dort unter freiem Himmel, zusammen mit ihren Eltern und mit anderen jüdischen Frauen, Kindern, Greisen und Kranken. Ausser einer dünnen Suppe gab es nichts zu essen.
Jeden Tag starben Menschen. Doch auf dem Lagergelände durften keine Gräber ausgehoben werden. Die Leichen wurden einfach in die Tümpel am Ufer des Bug geworfen, Krähen und streunenden Hunden zum Frass ... In ihrem letzten Brief an ihre Freundin Renée Abramovici, die sich in einem anderen Lager in der Nähe befand, schrieb die junge Dichterin: „Man hält es aus, trotzdem man immer wieder meint: Jetzt ist es zuviel, ich halte nicht mehr durch, jetzt breche ich zusammen ..." Ihre letzten Worte: „Küsse. Chasak - Selma". Chasak bedeutet auf Hebräisch: „Sei stark." Selma starb am 16. Dezember 1942 im KZ Michailowka.
Monate vor ihrem Weg in den Tod entstand das Gedicht „Lied"; und das soll nun, wie eine Solostimme vor einem großen „unsichtbaren Chor", am Ende dieses Beitrags stehen - ohne weiteren Kommentar:
„Nimm hin mein Lied -
Es ist nicht froh,
der Regen weint und weint.
Und wer ihn sieht,
weiss sowieso,
wie es das Glück gemeint.
Es ist vorbei
die helle Zeit,
die Lachen uns gelehrt.
Sie ging entzwei,
Zwiespalt gedeiht -
wenn auch die Welt sich wehrt.
Kehrt sie zurück?
Ich weiss es nicht.
Vielleicht weiss es der Wind...
Er kennt das Glück,
wenn's nicht zerbricht,
so sagt er's uns geschwind.
Doch sieh, der Wind
verbirgt sich doch -
Er ist ja gar nicht da.
Ganz wie ein Kind,
so glaubt er noch:
Nur er weiss, was geschah.
Nimm hin mein Lied.
Vielleicht bringt es
das Lachen einst zurück.
Und wer es liest,
der sagt: Ich seh's,
und meint damit das Glück."