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Zweideutige Vorliebe für israelische Filme

Jérôme SEGAL

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Israelische Filme brachten in den letzten Jahren genügend ‘Kuriosa', um ein kleines Kunstkabinett eröffnen zu können. Ein Goldener Löwe wurde 2009 in Venedig von Samuel Maoz mit seinem Film Lebanon erbeutet. Joseph Cedar hatte schon zwei Jahre vorher mit Beaufort einen Silbernen Bären ergattert, und inzwischen hatte der fruchtbare Regisseur Amos Gitai (Kadosh, Promised Land, Free Zone, Disengagement) 2008 einen Ehrenleoparden in Locarno erjagt. Kein Cineast, der mit dem Anspruch auftritt, die interessantesten Filme der letzten Jahre gesehen zu haben, könnte heute auf die israelische Filmproduktion verzichten. Es ist auch ein Zeichen, dass unter den Oscar-Nominierungen für den besten ausländischen Film seit vier Jahren fast immer auch ein israelischer Film dabei ist (2007 Beaufort, 2008 Waltz with Bashir, 2009 Ajami, 2010 wurde in der letzten Entscheidungsrunde The Human Resources Manager herausgenommen).

Bei der Vielfalt der israelischen Produktion scheint aber ein unausgesprochener Filter zu gelten, bevor die Filme zu den Festivals kommen. Es sind meistens politische Filme oder eher Genrefilme mit politischen Hintergründen, die den Zugang zur Leinwand finden. Festivalteams sind anscheinend von einem Paradox angezogen: Während die israelische Regierung mehr und mehr steif aussehen mag, antworten die Filmschaffenden mit immer gewagteren Streifen. Parallel zu den letzten Meilensteinen der israelischen Geschichte - 2006 Libanonkrieg, 2008/09 Operation ‘Gegossenes Blei', 2010 Ship-to-Gaza-Zwischenfall - könnte man eine Reihe von Filmen nennen, die sich mit den Spuren von Kriegen befassen (exemplarisch dafür steht Z32 von Avi Mograbi aus dem Jahr 2008).

Im Ursprung war die Vielfalt

Mit zehn Filmhochschulen in einem kleinen Staat mit ca. 7,5 Millionen EinwohnerInnen ist Israel definitiv ein wichtiges Land für die Filmindustrie. Seit dem Filmförderungsgesetz von 2000 wurden mehr und mehr Komödien, Thrillers, Animationsfilme, Krimis und Dramen produziert. Allein im Jahre 2010 wurden 44 Filme mit einer Dauer von über einer Stunde herausgebracht. Diese Vielfalt entspricht einem politischen Willen seitens des seit 30 Jahren bestehenden Israeli Film Fund. Die Besonderheit der geförderten Filme besteht vielleicht darin, dass die Genres vermischt sind.

Nehmen wir zum Beispiel Filme, die das Thema Homosexualität behandeln. The Bubble von Eytan Fox, der 2007 bei der Berlinale den Teddy Award bekam, war auch ein Film über die Stadt Tel Aviv und über den Konflikt mit den Arabern. Beim Filmfestival von Cannes 2009 hatte der ausgezeichnete Film Eyes Wide Open (‘Du sollst nicht lieben', Haim Tabakman, 2009) grossen Erfolg. Die Anspielung auf den letzten Film von Stanley Kubrick (Eyes Wide Shut) zeigt, dass es hier nicht um Träume geht, sondern um eine traurige Realität: das Leben in einem ultra-orthodoxen Bezirk von Jerusalem. Ein Metzger beherbergt einen Studenten, der eine Jeschiwa verlassen hat, und die beiden verlieben sich ineinander. „Ich habe fast einen Science-Fiction-Film gedreht, mehr als eine Provokation ist er ein Tabubruch. Für diese Leute [die Orthodoxen, Anm. die Redaktion] existiert Homosexualität einfach nicht", betonte Tabakman bei einem Interview. Dieser differenzierte Film ist auch für orthodoxe Kreise so interessant, dass er zum Beispiel am 29. Dezember 2010 im Wiener Maimonides Zentrum gezeigt wurde.

Das Glücksspiel von Koproduktionen

Der Erfolg von israelischen Filmen bei Filmfestivals scheint am Koproduktionssystem zu liegen. Interessanterweise sind alle bekannteren israelische Filme das Ergebnis von Koproduktionsabkommen. Eyes Wide Open zum Beispiel wurde mit Frankreich und Deutschland produziert, genau wie der inzwischen berühmte Trickfilm Waltz with Bashir von Ari Folman. Der Leiter des Filmfestivals von Cannes, Thierry Frémaux, erklärte, dass die Überraschung des Festivals von 2008 darin bestand, dass dieser Film leer ausging, obwohl er begeisterte Kritiken erntete. Ein anderes Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Produzenten aus verschiedenen Ländern ist Paradise Now von Hany Abu-Assad (2005). Der Film  zeigt sehr realistisch, wie zwei arme Palästinenser zu Selbstmordattentätern werden. Etwas verstehen heisst natürlich nicht, es auch zu rechtfertigen, und das Publikum der Berlinale hatte keine Hemmung, seinen Publikumspreis an diesen Film zu vergeben.

Koproduktionen sind aber nicht immer ein Rezept zum Erfolg. Defamation von Yoav Shamir (2009) versucht die Bedeutung der Shoah in der jüdischen Identität in Frage zu stellen, fällt aber davon weit ab, und der Film beinhaltet Gespräche mit dem Historiker Norman Finkelstein, die einfach inakzeptabel sind (inklusive Hitlergruss von Finkelstein). Dieser Film wurde leider von Österreich mitfinanziert, mit Geldern aus Israel, den Vereinigten Staaten und Dänemark.

Immer noch nur politische Filme?

Fast alle Filme, die bis jetzt erwähnt wurden, beinhalten eine politische Dimension. Waltz mit Bashir bietet zum Beispiel die Gelegenheit, die Frage nach der Verantwortung Israels in den blutigen Massakern von Sabra und Schatila während des Libanonkriegs von 1982 zu stellen Die ästhetische Qualität dieses Animationsfilmes sowie seine subtile Konstruktion als Mischung aus persönlichen Erinnerungen, Träumen sowie offizieller Geschichte und aktuellen Lebensausschnitten haben anerkannte Vertretungen von jüdischen Gemeinden dazu gebracht, den Film zu loben (siehe Die Gemeinde in Wien, L'Arche in Frankreich). Paradise Now wurde aber in jüdischen Gemeinden eher abgelehnt, obwohl der Film ebenfalls viele Qualitäten aufweist. Dieser Unterschied mag in der Angst liegen, dass die Rezeption des Filmes Einfluss auf aktuelle Konflikte nehmen könnte.

Auch ein Film, der zunächst als rein ästhetischer Film erscheinen könnte, wie The Band's Visit von Eran Kolirin (ägyptische Musiker, die mit ihrer Band in Israel ein Konzert geben sollen, verlaufen sich und landen unabsichtlich in einem israelischen Dorf; der Film lief 2007 in Cannes), hat eine politische Dimension, und diese vielleicht zuerst für Europäer, da hier der Kulturunterschied zwischen Israelis und Ägyptern thematisiert wird.

Als der Autor im Jänner 2011 die Rezeption von israelischen Filmen mit dem israelischen Botschafter in Wien, Aviv Shir-On, diskutierte, erklärte dieser, dass er sich besonders über die Vielfalt der israelischen Produktion freue. Er bedauerte aber, dass Filme, die auf großen Festivals gespielt werden, immer politisch seien (und manchmal einen kritischen Blick gegenüber der aktuellen israelischen Regierung unterstützen). Ein Art Standardisierung könnte entstehen, so wie der israelische Schriftsteller und Regisseur Etgar Keret bei einem Interview im vergangenen Jahr erzählte, dass manche Produzenten darauf beharrten, dass er in seinen Film $9.99 politische Motive einfliessen lässt.

Beim Thema Gleichberechtigung von Frauen wird häufig behauptet, dass derzeitige berufliche Probleme gelöst werden könnten, wenn auch ungenügend qualifizierte Frauen in Spitzenpositionen gelangen. In diesem Sinn kann man den Wunsch des Botschafters Shir-On verstehen, dass einem israelischen Film auch ein ähnlicher Erfolg wie Lebanon, Paradise Now oder Walz with Bashir begegnen könnte, wenn es zum Beispiel eine reine Liebesgeschichte wäre. Dürfte es aber um eine Liebesgeschichte zwischen einer Israeli und einem Palästinenser gehen? Ja, wir können hoffen, dass eine solche Beziehung demnächst zur Normalität gehören wird.

Literaturangabe

Marta S. Halpert, ‘Der israelische Film im Scheinwerferlicht', Die Gemeinde, Nr. 661, Januar 2010, S. 38-41

Hubert Prolongeau, ‘Embellie du cinéma israélien', Le Monde diplomatique, Mai 2010, S. 27.

Jérôme Segal, ‘Der unaufhaltsame Aufstieg des israelischen Kinos', Illustrierte Neue Welt, Mai-Juli 2009, S. 8