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Die vier Söhne der Haggada

Rabbiner Schlomo HOFMEISTER

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Pessach ist das achttägige Fest unserer Freiheit, an dem wir sowohl des physischen als auch des spirituellen Aspektes der Befreiung unserer Vorfahren aus der Sklaverei und deren Auszuges aus Ägypten gedenken. Die beiden Sedorim (singular: Seder, hebräisch für Ordnung) an den ersten beiden Abenden bilden den Einstieg und zugleich den Höhepunkt dieses biblischen Wallfahrtsfestes, entsprechend der von unseren talmudischen Weisen vor beinahe 2.000 Jahren in der Haggada (von hebräisch l‘hagid - erzählen, informieren) festgelegten Ordnung und Abfolge bestimmter Segenssprüche. Erzählungen, Talmudzitate und Lieder werden von symbolischen Speisen und vier Bechern Wein sowie einem der Bedeutung dieses Feiertags angemessenen Festmahl begleitet. Wir erleben und empfinden intellektuell und emotional an diesen beiden langen Abenden jedes Jahr aufs Neue die damaligen Erfahrungen unserer Vorfahren, im Sinne der Erfüllung des biblischen Gebots (Schemos 13:8), dass jeder von uns „sich vorstellen soll, als sei er/sie selbst aus Ägypten ausgezogen" (Pessachim 10:5).

Der berühmte deutsche Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888) drückt dies in seiner Haggada treffend aus mit den Worten:

„Nicht ein Märchen, beginnend ‚es war einmal‘, nicht eine alte Geschichte aus längst vergangenen Tagen grauer Vorzeit sei Dir der Auszug aus Ägypten. Tief empfundenes Erlebnis Deiner eigenen persönlichen Erfahrung sei es Dir. In allen Einzelheiten, mit allen Schrecken der Sklavenzeit, mit allen Wonnen der Befreiung male es Deine Phantasie Dir aus. Nur so kannst Du es lebenswarm Deinem Kind vor Augen führen" (Haggada Jeschurun, S. 83).

Und genau um diesen letzten Punkt geht es am Seder-Abend: Die Ereignisse von Pessach, allen voran die Wunder, durch die G-tt uns „mit starker Hand" aus der über 200-jährigen Unterdrückung befreite, sind das Schlüsselmoment unserer Volkswerdung und die Wurzel unserer jüdischen Identität, die seit jeher, von Generation zu Generation, verständlich vermittelt werden müssen, um die Essenz des jüdischen Selbstverständnisses aufrecht erhalten zu können.

Im Grunde genommen ist die Haggada, der Leitfaden für unseren Pessach-Seder, in erster Linie eine Gebrauchsanweisung, wie wir mit unseren Kindern kommunizieren sollen - ein Handbuch der jüdischen Erziehung. Bei der erfolgreichen Vermittlung der konzeptuellen Grundlagen des jüdischen Weltbildes, Wertesystems und Selbstverständnisses ist das Wie der Kommunikation von essenzieller Bedeutung; dabei ist jedoch der wichtigste Punkt zu beachten und zu verstehen, mit wem wir sprechen. Dies gilt für jede Alltagssituation, aber insbesondere für die Erziehung von Kindern. Jedes Kind ist anders und braucht eine, seinen individuellen Bedürfnissen entsprechende, Erziehung. Die beiden Söhne unseres Stammvaters Jitzchak, die Zwillinge Jakov und Esav, wurden am gleichen Tag geboren, wurden in der gleichen Familie auf die gleiche Art und Weise erzogen - der eine wurde ein Tzaddik (Gerechter), der andere ein Rascha (Bösewicht). Wieso wurde Esav zu dem Übeltäter, der er war? Rabbiner S. A. Hirsch erklärt in seinem Kommentar zur Torah, im Namen unserer Weisen, dass der Fehler bei Jitzchak und Rivka zu suchen ist, eben weil sie ihren beiden Söhnen, deren Verschiedenheit ignorierend, die gleiche Erziehung angedeihen liessen, die lediglich gut für Jakov war, nicht aber für Esav.

Die Haggada stellt uns vier Söhne vor: „der Verständige" (hebr. Chacham), „der Böse" (hebr. Rascha), „der Einfältige" (hebr. Tam) und „der, der nicht zu fragen weiss". Zumindest die ersten drei dieser Söhne haben eine Frage zum Pessach-Seder, die sie ihrer individuellen Persönlichkeit und ihrem Intellekt entsprechend stellen.

Der verständige Sohn fragt mit ernstem Interesse: „Was bedeuten die Zeugnisse, die Satzungen und Rechtsverordnungen, welche der Ewige unser G-tt, euch befohlen hat?"  -  Wenn wir beispielsweise an bestimmten Stellen des Seder-Abends die symbolischen Speisen Karpas, Mazzos, Moror und Charoses essen und Dinge offensichtlich „anders tun als alle anderen Nächte", so wie wir allgemein Dinge oftmals „anders tun als alle anderen Völker", weckt dies, wie gewollt, die Neugier des verständigen Sohnes und er möchte Wesen und Bedeutung dieser Gesetze verstehen lernen. Ihm geht es nicht um die Positionierung seiner eigenen, noch unausgereiften Vorstellungen und Ansichten und schon gar nicht um die Profilierung seiner Person, sondern einzig und allein darum, die Wahrheit zu sehen und zu begreifen. In diesem Bestreben muss er ernst genommen werden und stets eine, seinem hohen und kritischen Anspruch entsprechende, Antwort bekommen; wenn nicht, könnte er zum „bösen Sohn" werden.

Der böse Sohn ist bewusst distanziert in seinem Ausdruck, wenn er hochmütig und fast schon verhöhnend fragt: „Was bringt euch diese Befolgung der Gesetze?"  -  Bereits indem er „Euch" ins Zentrum dieser provozierenden Frage setzt, betont er, dass er sich selbst nicht mehr als Teil der jüdischen Gemeinschaft betrachtet, glaubt, ausserhalb des Gesetzes stehen zu können, und sich mit einer eigens konstruierten Identität begnügt. Es stellt sich die offensichtliche Frage, warum dieser „böse Sohn" der Zweite in der Reihe der vier Söhne und nicht der Letzte ist? Trotz seiner nicht unproblematischen Haltung scheint er, im Gegensatz zu den beiden letzten Söhnen, doch zumindest noch eine ausreichende Verbindung zu verspüren, sich überhaupt noch, wenn auch voreingenommen und oberflächlich, mit seinen jüdischen Wurzeln auseinander zu setzen. Mit dem richtigen Lehransatz kann dieser „böse Sohn" jederzeit zu einem „verständigen Sohn" werden. Wenn nicht, könnte dessen eigener Sohn leicht ein „einfältiger Sohn" werden.

Der einfältige Sohn fragt schlicht und einfach: „Was ist das?"  -  Auch wenn dieser Sohn nicht einmal die Möglichkeit einer intellektuell fordernden, sinnbringenden oder gar erleuchtenden Antwort auf seine Frage erwartet, eine solche wahrscheinlich sowieso erstmal überhören würde, ist er doch eigentlich unvoreingenommen und steht dem von seinem Vater Abgelehnten prinzipiell wertfrei gegenüber. Statt eines rationalen Verständnisses fühlt er jedoch eine diffuse, sentimentale Verbundenheit zu seinem Judentum. Er stellt seine Frage in der Hoffnung auf eine Antwort, die ihm zumindest eine Option bietet - im grundehrlichen Bestreben, das Richtige zu tun. Sein Verständnis des Judentums reduziert sich auf das Konzept von Tradition, das, wie seine Weltanschauung allgemein, allein auf praktische Erfahrungen begründet ist, nicht auf Bücher. Dem „einfältigen Sohn" kann sein Judentum wieder lebendig werden, wenn es gelingt, ihm die richtigen Erfahrungen zu ermöglichen, damit er sich selbst erlaubt, all das zu sehen und zu erkennen, was er überall erwartet, vielleicht sogar gesucht hatte - nur nicht dort.

Der Sohn, der nicht zu fragen weiss, steht seinem Judentum mit Desinteresse gegenüber, es bedeutet ihm nichts. Er ist nicht dumm, wohl aber apathisch. Alles andere - insbesondere Materielles und Bequemes - hat eine höhere Priorität in seinem Leben als das ihm vermeintlich bekannte, zugegebenermassen aber doch eigentlich fremde Wertesystem seiner Grosseltern, mit dem er sich selbst überhaupt nicht mehr identifiziert. Wie ein kleines Kind muss dieser Sohn erst einmal zum Nachdenken und zur selbstständigen Auseinandersetzung mit den Ursachen und dem Sinn des irdischen Daseins herangeführt werden, um in ihm das Bedürfnis zu wecken, Fragen zu stellen. Erst wenn er lernt, zu fragen, kann er beginnen, zu verstehen.

In gewisser Weise leben Aspekte dieser vier Söhne in jedem von uns. Einmal sind wir ernsthaft auf der Suche nach der Wahrheit, ein andermal sind wir eigensinnig und stehen uns selbst im Wege. Manchmal lassen wir uns von unseren Emotionen leiten, und bisweilen sind wir derart müde, gestresst und abgehetzt, dass uns alles egal ist.

Die vier Söhne, von denen uns die Haggada erzählt, haben trotz aller Unterschiede doch etwas Essenzielles gemeinsam: sie alle nehmen an den alljährlichen Seder-Abenden teil. In unserer Generation gibt es jedoch noch einen fünften Sohn, der in der Haggada keine Erwähnung findet, weil es ihn damals noch nicht gab, aber heute gibt es ihn: Der Sohn, der nicht einmal beim Seder dabei ist. Hoffentlich aber nächstes Jahr in Jeruschalajim!