Ausgabe

Lernen anhand von Regionalgeschichte

Nadja DANGLMAIER

Content

Meine Kontakte als Pädagogin zu Lehrern sowie Jugendlichen zeigten mir immer wieder eindrücklich, dass Begriffe wie Nationalsozialismus und Holocaust in den Köpfen der Kärntnerinnen und Kärntner mit zentralen Orten wie Auschwitz und Mauthausen verbunden sind. Gedächtnisorte in der Region hingegen, in der eigenen Lebenswelt, werden weitgehend ausgeblendet, die Geschichte des Nationalsozialismus scheint mit unserer unmittelbaren Heimat nichts zu tun zu haben. Lehrer vermitteln diese Thematik anhand der Orte der zentralen, internationalen Geschehnisse, sie selbst haben in ihrer Bildungslaufbahn nichts darüber erfahren, was sich quasi vor der eigenen Haustür zugetragen hat und sind dadurch kaum in der Lage, Wissen dazu zu vermitteln.

Das Konzept der Stadtrundgänge auf den Spuren des Nationalsozialismus in Klagenfurt versucht bei diesem Mangel an Wissen anzusetzen und Nationalsozialismus sowie Holocaust anhand von Orten zu erklären, die uns ständig im Alltag begegnen und uns daher nicht fremd sind. Die Geschichten, die wir über die dortigen Geschehnisse erfahren, sind uns fremd, verfremden den Ort an sich und belegen ihn mit einer zweiten Geschichte, zusätzlich zu seiner aktuellen. Dadurch gelingt es, den Ereignissen einer mittlerweile rund siebzig Jahre vergangenen Zeit an Abstraktheit zu nehmen und Empathie mit den Opfern entstehen zu lassen.

h88_image009

Erinnerung hinter Gitterstäben - der versperrte jüdische Friedhof in Klagenfurt-St.Ruprecht. Foto: I. Gerhardt.

Ein Beispiel kann diesen Ansatz wohl am ehesten verdeutlichen: Während nahezu jeder Schüler im Laufe seiner Bildungslaufbahn das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen besucht, ist den wenigsten Kärntner Schülern bekannt, dass es auch auf Kärntner Boden zwei Konzentrationslager, Nebenlager des KZ Mauthausen, gab. Eines davon befand sich in einem Vorort der Landeshauptstadt Klagenfurt, in Lendorf, am Gelände der heutigen Khevenhüller-Bundesheerkaserne. Diese Kaserne ist vielen Jugendlichen in der Region bekannt, ihre älteren Geschwister haben dort den Grundwehrdienst absolviert, der Onkel arbeitet dort, oder die Oma wohnt in der Nähe. Zu erfahren, dass dieser Ort ein Konzentrationslager war, in dem Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten, verändert den Blick auf ihn und bringt das weit entfernte Thema „KZ" plötzlich ganz nah zu uns. Kritische Fragen tauchen wie von selbst auf: Hat die umliegende Bevölkerung gewusst, was dort passiert? Wurden dort Häftlinge ermordet? Wer waren diese Menschen? Wer waren die Täter?

Ebenso wenig ist in und um Klagenfurt bekannt, dass es hier eine kleine jüdische Gemeinde gab, die 1938 von den Nationalsozialisten vernichtet wurde. Heute erinnern das Denkmal am Ort des ehemaligen jüdischen Bethauses sowie der kleine jüdische Friedhof als einzige Spuren daran. Das Denkmal wurde errichtet zu dem Zwecke, es zu beachten, inne zu halten, zu lesen bzw. nachzudenken - aber funktioniert das? Der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici schreibt:

 „Denkmäler seien ja eher die Wegmarken des Vergessens. Achtlos würde daran vorbeigegangen."1

Beobachtet man das Denkmal am Ort des ehemaligen jüdischen Bethauses in der Klagenfurter Platzgasse könnte man Rabinovici Recht geben. Errichtet in einer wenig frequentierten Seitenstrasse, versteckt hinter einem Zaun, lieblos gepflegt beziehungsweise bepflanzt von der Stadt Klagenfurt, scheint es für Passanten nahezu unsichtbar. Niemand, der sich nicht gezielt mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt auseinandersetzen will, wird hier dazu gedrängt, und wohl auch so mancher, der Interesse hätte, wird daran vorüber gehen, ohne es zu sehen. Auch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Denkmals zeigt Interessantes auf: Errichtet wurde es nicht aufgrund einer Initiative der Stadt Klagenfurt, vielmehr engagierte sich eine Gruppe privater Personen für die Anbringung eines Zeichens zur Erinnerung an die vernichtete jüdische Gemeinde ihrer Heimatstadt. Erst nach langen Debatten mit dem offiziellen Klagenfurt und vielen Kompromissen kam das Denkmal schliesslich zustande, allerdings in einer Form, mit der die initiierende Personengruppe nicht einverstanden war. An der Enthüllung der Gedenktafel im sogenannten Bedenkjahr 1988 nahm sie nicht teil, da die Veranstaltung nicht ihren Vorstellungen von einer würdigen Trauer- und Gedenkfeier entsprach.

h88_image008

Der jüdische Friedhof in Klagenfurt wurde Opfer von Vandalen. Foto I. Gerhardt.

Beschäftigt man sich „spazierend" mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Klagenfurts, so ist dadurch eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Opfergruppen möglich. Betroffen von der Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten waren neben Juden auch Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Zeugen Jehovas und Menschen anderer politischen Gesinnung, vor allem Kärntner Slowenen. Sie sind zahlenmässig hinter den russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern die grösste Opfergruppe Kärntens und müssen daher einen zentralen Platz in der Erinnerungskultur bekommen. Eine Thematisierung der Verfolgung der Kärntner Slowenen, die in Kärnten im öffentlichen Bewusstsein sehr wenig präsent ist, ist beispielsweise in Verbindung mit dem Lager Ebenthal möglich. Dorthin deportierten die Nationalsozialisten am 14. April 1942 etwa eintausend Kärntner Slowenen - Männer, Frauen und Kinder, um sie später zwangsweise auszusiedeln und in ihren Häusern und Gehöften Volksdeutsche, mehrheitlich Kanaltaler anzusiedeln. Das dem völkischen Wahn entsprungene Vorhaben zielte darauf ab, Kärnten zu hundert Prozent Deutsch zu machen, ein Wunsch, den wohl heute noch manche hegen. Die in Wien lebende Slawistin Katja Sturm-Schnabl, damals ein Kind, kann jenen Tag, an dem sie mit ihrer Familie zu Hause abgeholt wurde, bis heute nicht vergessen:

„Und ich erinnere mich, dass auf einmal bewaffnete Soldaten auftauchten. Ich erschrak furchtbar. Im Haus begann ein Geschrei und ein Weinen [...]. Alles, was ich begriff, war, dass man uns mit Gewalt wegbringen wollte. [...] Aber das ging alles so schnell, ich kam gar nicht richtig zu mir, schon trieben sie uns fort: den Vater, die Mutter, die beiden Tanten und uns Kinder. Links und rechts von uns die brüllenden Soldaten mit ihren Gewehren und Pistolen. [...] Und so trieben sie uns aus dem Haus, über den Hof den Zaun entlang in Richtung der Nachbarhöfe. [...] Und so trieben sie uns zur Strasse hinauf, dort stand ein roter Autobus. Mit dem brachten sie uns in unser erstes Lager nach Ebenthal. Dort waren Baracken, und in den Baracken lag Stroh, wie bei uns im Stall. Auf diesem Stroh lagen Menschen, furchtbar viele Menschen. Alte, Frauen, Männer, Kinder aller Altersgruppen. [...] Am nächsten Tag schleppten sie uns zum Bahnhof [...], dort stopften sie uns und jede Menge anderer Leute in so einen Viehwagon hinein und machten die Tür zu."2

 

Erzählungen von Zeitzeugen wie diese sind gemeinsam mit Originaldokumenten und historischen Fotografien wichtiges Material für die Durchführung von Stadtrundgängen auf den Spuren des Nationalsozialismus. Durch sie werden die Geschehnisse zumindest teilweise nachvollziehbar, und Empathie mit den Opfern kann sich entwickeln.

Wenn wir uns heute mit offenen Augen durch Klagenfurt bewegen, sind Denkmäler und Friedhöfe die markantesten Spuren, die uns an den Nationalsozialismus erinnern. Andere Spuren zu deuten, ist nur mithilfe zusätzlicher Informationen beziehungsweise ergänzenden Materials möglich, welches einerseits bei organisierten Rundgängen geliefert wird und andererseits von Zeitzeugen vermittelt werden kann. Die Publikation Tat-Orte. Schau-Plätze. Erinnerungsarbeit an den Stätten nationalsozialistischer Gewalt in Klagenfurt versucht, genügend Informationen zu liefern, um Interessierte zu befähigen, sich eigenständig durch die Stadt zu bewegen und ein Stück weit in diesen speziellen Teil der Stadtgeschichte einzutauchen. Im Hintergrund steht dabei auch das Wissen, dass uns Zeitzeugen nur mehr für eine sehr begrenzte Zeitspanne zur Verfügung stehen werden und es zunehmend schwieriger wird, der Geschichte ein Gesicht zu geben.

Literatur:

Nadja Danglmaier/ Helge Stromberger: Tat-Ort. Schau-Plätze. Erinnerungsarbeit an den Stätten nationalsozialistischer Gewalt in Klagenfurt. Klagenfurt: Drava Verlag 2009.

Nadja Danglmaier, Mag. Dr., ist Netzwerkkoordinatorin des Projektes Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart des bm:ukk (www.erinnern.at) und Vorstandsmitglied des Vereines Memorial Kärnten/Koroška. Als freiberufliche Pädagogin ist sie unter anderem als externe Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt tätig und begleitet Gruppen bei Stadtrundgängen in Klagenfurt und zu den ehemaligen KZs am Loibl-Pass.

1   Rabinovici, Doron: Ohnehin. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2004, S. 92.

2   Pittler, Andreas / Verdel, Helena (Bearb.): Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen. Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1990, S. 153 f.