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Versteinerte Erinnerung – Bruchstücke der Ewigkeit Erkenntnisse einer Marokko-Reise

Charles E. RITTERBAND

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Der Lehm zerbröckelt. Bald wird von den gelbbraunen Wänden fast nichts mehr übrig sein. Eine Frage der Zeit. Das kostbare Palmholz, das Skelett der Behausungen, das einst die brüchigen Mauern zusammengehalten hatte, wurde anderswo verwendet. Haltlos geworden, sind die Wände eingestürzt. In den verschachtelten Räumen der Mellah, des „Salzviertels", wohnten einst Juden. Längst sind sie weg; nach Israel die meisten, manche in die großen Städte an der Küste - vor allem nach Casablanca.

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Simchat Thora in der Beit El-Synagoge, Casablanca. In dieser Stadt gibt es nach wie vor eine jüdische Gemeinde, es ist die größte Marokkos. Foto: cer

 

Die Mellah schmiegt sich an die Kasbah, die hoch aufragende Burg, in der einst der Fürst residierte. Er herrschte über diesen Ksar im Süden Marokkos und empfing die Führer der Karawanen, die hier durchzogen – aus afrikanischen Ländern im Süden, mit schwer beladenen Kamelen, auf dem Weg nach Norden, in die Königsstädte Marrakesch und Fès. An den massiven Toren der Berbersiedlung mit ihren Türmen und Mauern erinnern nur noch die Beschläge in Form eines riesigen Davidsterns an die Juden, die einst hier gewohnt haben.

Den Ksar umgibt ein paradiesischer Garten aus Dattelpalmen und blühenden Mandelbäumen. Auf kleinen quadratischen Feldern, durchzogen von Wassergräben, wächst üppig Gemüse und Futter für das Vieh. Eselskarren holpern über schmale Wege. Doch das Paradies hält jäh inne, wo die Wüste beginnt. Schroffe, kahle Abhänge, mit Felsen übersät. Kaum eine Pflanze wagt es, hier Wurzeln zu schlagen, kein Pfad führt durch dieses Reich des Todes. Der Wüstenwind spielt - wie früher die Kinder mit ihren Reifen-, er schiebt wurzellose, zu kleinen stacheligen Rädern zusammengerollte Dornbüsche vor sich her, schwerelos, über Ebenen, mühelos, Berghänge hinauf.

 

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Der jüdische Wüstenfriedhof von Rissani nahe Erfoud, Oase Tafilalt. Foto: cer

 

Plötzlich ein Feld von Steinen. Faustgrosse Steine, zu Rechtecken geordnet. Es ist der Friedhof der jüdischen Berber, die diesen Ksar einst bewohnt haben. Deren Söhne und Enkel sind vor langer Zeit weiter gezogen, doch ihre Gebeine ruhen hier, für alle Zeiten. Das Wüstenvolk der Juden hat auf seiner langen Wanderung durch die Zeitläufe, durch Länder und Städte, durch Völker, die sie aufnahmen oder vernichteten, seine Steine mitgeschleppt, die Steine aus der Wüste. Ihre Vorfahren bedeckten die Stelle, wo sie ihre Toten begraben hatten, mit Steinen – damit sie der messianischen Auferstehung ungestört entgegenschlummern konnten, damit der Wüstenwind ihre Gräber nicht abdeckte, damit Schakale und Geier ihrer Körper nicht habhaft werden konnten. Längst waren die Juden in Städten sesshaft geworden, längst waren die Lehmbauten ihrer Ahnen zerfallen, doch die Steine waren geblieben. Jene kleinen, unförmigen, wilden, unbehauenen Steine, irgendwo am Friedhof aufgelesen, wurden auf die Grabsteine gelegt von den Besuchern, den Angehörigen. Blumen zählen nichts auf den jüdischen Friedhöfen, denn sie verblühen, verwelken, vermodern. Die prunkvollen Grabsteine mit ihren sorgsam ziselierten Inschriften, mit ihren barocken Ornamenten, sie verwittern, werden von den Feinden der Juden zerschlagen, verschleppt zum Bau von Häusern und Mauern. Doch jene aufgelesenen Steine, die kleinen unscheinbaren, die auf das Grab, den Grabstein gelegt werden - sie bleiben. Es ist der Liebesdienst des Lebenden am Toten, dass er mit seinem Stein beiträgt zu dessen Schutz.

Eine Zeitlang reihen sie sich Stein an Stein, auf den Schultern der Grabsteine. Irgendwann fallen sie von den pompösen Grabmälern ins Erdreich, verschwinden scheinbar. Doch sie bleiben. Niemand nimmt diese unansehnlichen Steine weg, weil jene, die die Toten nicht achten, auch diese kleinen, gewöhnlichen Steine übersehen. Niemand beachtet sie, wenn die Grabmäler geschändet, die Grabsteine zerschlagen oder weggeschleppt werden. Sie, die kleinen Steine, die an die uralten Wüstenfriedhöfe erinnern und die Körper der Verstorbenen schützen, sie sind die wahren Grabmäler – und sie harren gemeinsam mit der Seele des Verstorbenen der messianischen Zeit, der Auferstehung.

 

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Die Kasbah von Tinerhir. Foto: cer

Wenn ich eine fremde Stadt betrete, suche ich stets den jüdischen Friedhof auf, falls es ihn gibt – und in den meisten Fällen werde ich fündig. Sobald ich diese Friedhöfe betrete, befinde ich mich in einem imaginären Raum mit Hunderten, ja Tausenden meines Volkes. Ich spüre ihre Präsenz, ihr Raunen, Flüstern, ihre Gespräche, ihr Rufen, Singen, Schreien. Ich schreite die Reihen der Grabsteine entlang, lese die Namen, entziffere die Texte. Die Steine erzählen Geschichten, wenn man die knappen Botschaften zu deuten weiß, wenn man Verbindungen zieht zwischen den Familiennamen und den Daten. So werden die Grabsteine zu Familienchroniken, zu Geschichtsbüchern über jüdisches Leben und Sterben in einer Ortschaft, einem Landstrich, einem Land.

Doch paradoxerweise sind die vielsagendsten Botschaften jene, die ich nicht lesen und schon gar nicht übersetzen kann: Lange hebräische Texte, nur aus Konsonanten bestehend, akribisch und präzise eingemeißelt in kantiger Schrift auf den Grabsteinen der ältesten Friedhöfe. Sie sind aufgeschlagene steinerne Bücher, die sich mir darbieten, ohne mir ihre Botschaft zu offenbaren. So bin ich gezwungen, den Text auf mich einwirken zu lassen, ohne ihn lesen zu können. Es ist, als ob die Toten zu den Lebenden über sich berichten, und ich verstehe ihre Erzählungen, ohne sie zu begreifen.

 

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Der jüdische Friedhof von Marrakesch. Foto: cer

So befinde ich mich in einer unsichtbaren Menge, bin Teil dieser Menschen, die längst nicht mehr sind und weiterleben, in diesen Friedhöfen. Bet Hachajim, Haus des Lebens. Und doch macht es zutiefst melancholisch – in einer beliebigen Stadt findet man zumeist die Stätte der Toten, die sich euphemistisch das „Haus des Lebens" nennt, aber wo ist das Leben, das jüdische, in diesen Städten? So viele Tote, so wenige Lebende.

Rabbi Pinchas erwähnte die Weisen, die sagten, es gebe einen Tod, der sei schwer wie das Ziehen des Taus durch den Ring des Mastbaums, und es gebe einen Tod, der sei leicht wie das Ziehen eines Haares aus der Milch. (Nach Martin Buber, Erzählungen der Chassidim)

Die Chassidim strebten an, dass ihnen das Sterben leicht werde, wie das Ziehen eines Haares aus der Milch. Doch konnten sie ahnen, dass bald eine schreckliche Zeit anbrechen würde, in der das Sterben so schwer sein würde, wie das Ziehen eines Taus durch den Ring eines Mastbaums?

Es gibt jüdische Gräber aus Zeiten, da es den Juden vergönnt war, in ihren Betten zu sterben. Doch ich gehe vorbei an Gräbern, in die jene nicht gebettet sind, deren Name auf den Grabsteinen eingemeißelt stehen – als Fußnote gewissermaßen: „pro Memoriam" heißt es da. Es sind auch Namen meiner Vorfahren, die solchermaßen auf Grabsteinen verewigt sind. Kein Mensch kann sagen, wie sie gestorben sind – man weiß nur wann und wo, denn dies wurde von gewissenhaften Schreibkräften genauestens registriert: Und es sind Daten und Orte des Grauens. Aber dass es kein Tod war wie das Ziehen eines Haares aus der Milch muss man sich denken, leider. Und es gibt solche aus meiner Familie, deren Namen mir nicht einmal überliefert sind, aber deren Tod wohl auch war wie das Ziehen eines Taus durch den Ring eines Mastbaums. Ihr Grab ist in den Lüften, nicht in der kühlen, feuchten Erde. Kein Stein ist leicht genug, um dieses himmlische Grab zu beschweren. Also bleibt der Gedanke, der schwerelose, hinaufgesandt in die Lüfte – zu denen, deren Namen ich kenne, und zu jenen Namenlosen.