DAVID: Unser Titelbild zeigt die neue Synagoge in Linz. Das alte Gebäude wurde in der Pogromnacht 1938 zerstört und nicht wieder aufgebaut. Was ist Ihre früheste Erinnerung in Zusammenhang mit dem Neubau der Synagoge in Linz?
Wozasek: Begonnen habe ich in Linz, als ich unter Wilhelm Schwager (1893 – 1979, Präsident der IKG Linz) und Simon Wiesenthal (1908 – 2005) in den Vorstand der IKG Linz aufgenommen wurde; ich war in der Nachkriegszeit hierher gekommen. Bis 1938 hatte ich mit meinen Eltern in Amstetten gelebt, damals war ich 13 Jahre alt. In der Pogromnacht wurden alle Juden aus der Provinz ausgewiesen, zunächst nach Wien. Ich überlebte in den USA, wo ich nicht nur bei der Armee diente, sondern auch mein Studium abschloss. Zu Linz bekam ich erst eine Beziehung, nachdem ich aus den USA zurückgekehrt war. Meine Familie hielt einen Anteil an der Papierfabrik in Traun; sie existiert bis heute und stellt vor allem Zigarettenpapier her. 1951 kam ich hierher, um mich darum zu kümmern. Damals war Linz für mich eine unbekannte Stadt. Es galt, einen Freundeskreis aufzubauen, und so traten wir dem Tennis-Club bei. Meine Frau wurde oberösterreichische Tennis-Meisterin. Auch durch den Schisport wurden wir schnell integriert und gewannen Freunde, die wir bis heute zu schätzen wissen. Sukzessive trat dann die IKG Linz an mich heran, ob ich nicht dem Vorstand beitreten wolle.
DAVID: Wie war die Situation der IKG Linz nach 1945? Bereits im Jahr 1945 wurde für Displaced Persons wieder eine Synagoge in Linz eröffnet. Wozasek: Die IKG Linz wurde nach dem Krieg aus Displaced Persons gebildet, die über Linz kamen. Zunächst war das eine lose Gemeinschaft, die sich aber bald als jüdische Gemeinde manifestierte. Eine wichtige Rolle spielte Wilhelm Schwager. Er stammte aus einer bekannten oberösterreichischen Familie, die bis 1938 in Linz gelebt hatte. Herr Schwager engagierte sich sehr für die neue IKG Linz und sprach auch mich an, im Vorstand mitzuarbeiten. Meine erste offizielle Begegnung hatte ich anlässlich einer Vorstandssitzung der IKG Linz, bei der es zwischen Simon Wiesenthal und dem Bierdeckel-Fabrikanten Fuchs-Robetin zu einer heftigen Auseinandersetzung kam. Die beiden stritten um die Frage, ob in Linz eine neue Synagoge gebaut werden solle. DAVID: Welche Rolle spielte Simon Wiesenthal für die IKG Linz? Im Jahr 1947 eröffnete er ja in Linz sein Jüdisches Historisches Dokumentationszentrum, das bis 1961 seinen Sitz in dieser Stadt hatte. Wozasek: Simon Wiesenthal war ein sehr vehementer Mann, eine beeindruckende Persönlichkeit mit sehr dezidierten Meinungen. Man muss das verstehen – er war im Lager, in Mauthausen. Wenn man da herausgekommen ist - wie konnte man weiterleben, wie konnte man die Welt danach sehen? Wiesenthal war damals in der Vorstandssitzung überzeugt: Erstens war kein Geld da für einen Neubau, und zweitens, wenn der Bau finanzierbar wäre: für wen sollte er überhaupt errichtet werden? Und war es richtig, dort noch einmal eine Synagoge zu errichten? Das waren Fragen, denen wir alle uns stellen mussten. DAVID: Wie kam es dann doch zur neuen Synagoge? Wozasek: Es hatte einen Restitutionsvergleich gegeben für alle zerstörten Synagogen in Österreich, darunter fiel natürlich auch die alte Synagoge in Linz. In diesem Vergleich wurden die Zuschüsse an die österreichischen Kultusgemeinden definiert; erstens bekamen sie Geld für Synagogen, und zweitens Beiträge zur Unterstützung für die G’ttesdienste. Da kam also Geld. Die Frage war, 1966/68: Wollen wir eine Synagoge bauen? Das wurde sehr lange überlegt. Bis dahin hatten die G’ttesdienste im alten Gemeindehaus stattgefunden. Das Gebäude war in desolatem Zustand. Im Erdgeschoss gab es zwei Räume, einen für Männer und einen für Frauen. In der niedergebrannten Synagoge sind die Männer im Erdgeschoß gesessen und die Frauen am Balkon. Auch eine Orgel hat die Synagoge gehabt. Für die neue Synagoge diente die Raumeinteilung einer Synagoge der Buchara- Gemeinde in Tel Aviv, die von Obberrabbiner Akiba Eisenberg genehmigt wurde. Die Männer sitzen separat links und die Frauen rechts. DAVID: Wie hat sich die IKG Linz in religiöser Hinsicht entwickelt? Wozasek: Bis 1938 war Viktor Kurrein (1881 – 1947) Rabbiner von Linz; davor war schon sein Vater, der Theologe und Zionist Adolf Kurrein (1846 – 1919) Rabbiner hier gewesen. Er floh 1938 nach England und starb 1947 in Ramsgate. Wilhelm Schwagers Bruder, Benedikt Schwager, war beinahe 30 Jahre lang Präsident der IKG Linz gewesen. In der Synagogen-Diskussion waren schließlich auch die Familien Hermann, Altmann, Friedmann, Gutter, Dworzynski und Wozasek für einen Neubau. In Fritz Goffitzer fanden wir einen kreativen Architekten, dem wir den Auftrag zum Bau der Synagoge übergaben. DAVID: Über die Jahrzehnte war der Aufbau eines Gemeindelebens Ihr Herzensanliegen, und Ihr wesentlicher Beitrag zur IKG Linz. Wie sieht das Gemeindeleben aus? Wozasek: Wir haben jeden Freitag einen G’ttesdienst, zu dem ein Vorbeter aus Wien kommt, Gregory Mamistvalov. An jedem Feiertag wird die Synagoge entsprechend dekoriert, und es wird mit einem reichhaltigen Kiddusch gefeiert. Zu den hohen Feiertagen kommt ein zusätzlicher Vorbeter. All diese Aktivitäten sind für uns sehr wichtig. Formell sind wir eine IKG, aber praktisch sind wir eine Großfamilie. Zu uns kommen immer wieder Gäste aus Wien und aus dem Ausland, denn sie schätzen die besondere Atmosphäre. Hilfsbedürftige Mitglieder unserer Gemeinde werden von der IKG Linz aus eigenen Mitteln unterstützt. Gerade jetzt bekommen wir eine Unterstützung des Landes und der Stadt zur Renovierung unseres Gemeindehauses aus der Biedermeierzeit. In diesem alten Bethaus soll auch eine Simon Wiesenthal-Gedenkstätte eingerichtet werden, zur Erinnerung an seine Jahre in Linz. DAVID: Sie haben aber auch die Beziehungen der IKG Linz nach außen, zu anderen Bevölkerungsgruppen und Konfessionen hin, ganz maßgeblich neu gestaltet? Wozasek: Zu dieser Seite des Gemeindelebens hat ja Schwager nicht viel gemacht. 1980 wurde ich Präsident der IKG Linz, nachdem der bisherige Präsident, Wilhelm Schwager, gestorben war. Die Frage stellte sich für mich, was mein persönlicher Beitrag zur IKG Linz sein könnte. Oft wurden wir gefragt: Kann man Eure Synagoge besuchen? Es gab ein großes Bedürfnis zu erfahren, was das Judentum überhaupt sei. Frau Dr. Aschbauer von Katholischen Akademikerbund hat sich sehr engagiert. So kam es dazu, dass Vorträge über das Judentum gehalten wurden. Das war einer der großen Beiträge zur Öffnung des Judentums gegenüber anderen Religionen. Daraus entwickelten sich sehr gute nachbarschaftliche Verbindungen, Freundschaften und Zusammenarbeit. Seit Jahrzehnten pflegen wir ausgezeichnete Beziehungen zu den oberösterreichischen Landeshauptleuten, zu den Bürgermeistern von Linz, den Bischöfen und Superintendenten. DAVID: Wie stehen Sie zu den Veranstaltungen im Rahmen von „Linz 2009 - Kulturhauptstadt Europas"? Wozasek: Die Ausstellung zur Aufarbeitung der Vergangenheit „Kulturhauptstadt des Führers" war gewiss wichtig. Es wurden idealisierte, seelenlose Menschen gezeigt - eben die Ideologie der nationalsozialistischen Geisteshaltung zur Blendung der Massen. Eine heroisierende Büste Adolf Hitlers war an prominenter Stelle postiert. Das muss wohl für jeden Verfolgten der damaligen Zeit ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Für mich war es ein Schock. „Linz 2009 – Kulturhauptstadt Europas" bietet viele interessante Denkanstösse. Auch eine Feier zur Fertigstellung unseres renovierten Gemeindehauses ist in diesem Rahmen geplant. Außerdem wird eine Podiumsdiskussion der drei Religionen Christentum – Judentum – Islam stattfinden. Herr Oberrabbiner Chaim Eisenberg, der sich auch in Linz großer Popularität erfreut, wird die jüdische Seite vertreten. Zusätzlich ist ein gemeinsames Konzert angesetzt, bei dem jede Religion eine musikalische Darbietung zum Besten gibt. DAVID: Sie erwähnen die Wiener Kultusgemeinde. Wie ist sind Ihre Beziehungen zueinander, und wie ist die aktuelle Situation der Kultusgemeinde Linz? Wozasek: Die IKG Wien, unter der Führung von Dr. Ariel Muzicant, hat Beachtliches geleistet. Jeder jüdische Bürger in Österreich hat davon profitiert. Gedanklich folgen wir dieser Entwicklung. Unsere kleine Gemeinde sponsert einen Schüler des Zwi Perez Chajes-Gymnasium aus dem Schwager-Dworzynski-Fonds. Momentan haben wir Schwierigkeiten mit der neuen Verfassung, die sich die Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs geben sollen. Die IKG Wien, mit 6.000 Mitgliedern, hat ganz andere Probleme als eine kleine Gemeinde. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie das lösbar sein wird. Es gibt das Gesetz von 1890, welches das Rechtsverhältnis der jüdischen Gemeinden bestimmt. Seit 1863 bzw. seit der offiziellen Anerkennung von 1870 hat eine Kultusgemeinde in Linz existiert, mit der Unterbrechung der NS-Zeit, wo das Vermögen der Linzer IKG enteignet wurde. Mit der Rückkehr einiger ehemaliger jüdischer Bürger wurde die Gemeinde reaktiviert, neue Statuten wurden vorgelegt und von der Republik Österreich bestätigt. Wir erfüllen die Statuten in religiöser Hinsicht: Die Synagoge wurde mit den Mitteln, die der Bund zur Verfügung gestellt hat, und unter Mithilfe der Stadt Linz und des Landes Oberösterreich errichtet. In mühsamer Arbeit, seit etwa 1970, hat Frau Claire Wozasek mit einem Arbeiter Grab für Grab saniert. Die Aufbahrungshalle und der Zugang zur Aufbahrungshalle wurden befestigt. Bei diesem Projekt wurden die Kosten von der Stadt und dem Land zu einem Teil übernommen. An dieser Stelle möchten wir festhalten, dass auch die beiden anderen Friedhöfe, in Steyr und in Gmunden, gut gepflegt sind, wobei wir in Steyr jährlich die Kosten für das Mähen des Grasbewuchses bezahlen. Besonders erwähnen möchte ich Herrn Mag. Karl Ramsmaier aus Steyr, der mit Schülergruppen sehr viel Arbeit geleistet hat, und dem der gute Zustand des Friedhofs zu verdanken ist. In Gmunden haben wir Kosten für Grabreparaturen übernommen. Zusammenfassend sehen wir keine Verbesserung mit der neuen Verfassung – die Zentralisierung würde unsere Situation nur wesentlich komplizierter machen und unsere Kosten erhöhen. DAVID: Bemerken Sie Antisemitismus? Wozasek: Persönlich nicht. Ansonsten, G’tt sei Dank, nur aus Zeitungsberichten. Auf Anregung und unter massivem Einsatz unseres Bürgermeisters, Dr. Franz Dobusch, wurden in Linz drei Straßen nach anerkannten jüdischen Bürgern benannt: der Spitz-Weg nach dem Gründer der Firma Spitz, Salomon Spitz (1828 – 1918), die Mostny-Straße nach Leopold Mostny (1842 – 1942), der im Alter von 100 Jahren noch nach Theresienstadt deportiert wurde, und die Schwager-Straße nach unserem Präsidenten Wilhelm Schwager. Am 9. November 2008, zur 70-Jahr-Gedenkfeier, war unsere Synagoge bis zum letzten Platz besetzt. Viele Besucher mussten stehen. Dieses Interesse und Mitfühlen der Linzer Bürger haben jeden Einsatz gelohnt. Es gaben uns die Ehre: der Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer, der Bürgermeister von Linz Dr. Franz Dobusch, der Vizebürgermeister Dr. Erich Watzl, der Bischof Dr. Ludwig Schwarz, der Altbischof Dr. Maximilian Aichern, der Altlandeshauptmann Dr. Josef Ratzenböck mit seiner Frau und viele andere von Rang und Namen. Diese Popularität ist höchst erfreulich. Wir haben in Oberösterreich eine friedliche Koexistenz mit allen politischen und religiösen Interessensgemeinschaften, und wir fühlen uns von allen Richtungen respektiert. Als ich hierher gekommen bin, war meine Haltung neutral – ich wollte meine Familienangelegenheiten regeln, und die einzige Frage für mich war: Fühle ich mich wohl, oder fühle ich mich nicht wohl. Ich kann nur sagen: Ich fühle mich seit 1951 wohl hier. Sonst wäre ich nicht hier geblieben.
DAVID: Herr Präsident, vielen Dank für das Gespräch!