Spricht man heute vom deutschen Judentum im 19. und 20. Jahrhundert., so werden zwei Aspekte deutlich: Einst existierte eine geistige Elite innerhalb der deutsch-jüdischen Bourgeoisie, wie es sie heute in der Nachfolge nicht mehr gibt; ihre Präsenz in den Natur- und Geisteswissenschaften, in Wirtschaft, Technik, Kunst, Musik, Literatur und Theater bleibt herausragend und ist nicht mehr wegzudenken. Und einige dieser jüdischen Namen sind für die deutsche Wissenschaft und Kultur so wichtig, dass man sich an sie periodisch erinnert, um sie dann wie selbstverständlich zu vereinnahmen. So gedenkt man immer wieder gern Albert Einsteins, des "deutschen Nobelpreisträgers", in Ulm geboren, in München aufgewachsen, der 1932/33 nach Gastvorlesungen in den USA nicht mehr nach Deutschland zurückkehren konnte, als die Nazis seine wissenschaftlichen Bücher verbrannten, ihn ausbürgerten und auf ihn sogar eine Kopfprämie von 50.000 Reichsmark aussetzten.
Gisèle Freund. Zur Verfügung gestellt C. Stephani
Dazu zählt auch eine Künstlerin und Fotohistorikerin, die heute als die große Pionierin der Fotografie und als berühmteste Portrait-Fotografin des 20. Jahrhunderts gilt: Gisèle Freund, deren Vorname, als sie am 19. Dezember 1908 in Berlin-Schöneberg geboren wurde, eigentlich Gisela lautete. Auch sie wurde in eine wohlhabende großbürgerliche Familie des deutschen Judentums geboren. Ihr Vater, Julius Freund, war ein feinsinniger Kunstsammler; er nahm seine Tochter oft in Museen mit und weckte so in der jungen Gisela früh Verständnis für Kunst und Interesse an guten Bildern. Als sie neunzehn wurde, schenkte er ihr nach bestandenem Abitur eine Voigtländer-Kamera, 6 x 9, mit der sie dann ihre ersten Aufnahmen machte.
Ab 1928 studierte Gisèle Freund Kunstgeschichte und Sozialwissenschaften, zuerst in Freiburg, und ab 1930 in Frankfurt am Main bei Karl Mannheim und Theodor W. Adorno. Gleichzeitig nahm sie im benachbarten Institut für Sozialforschung an Seminaren von Max Horkheimer, dem Initiator der neomarxistischen „Frankfurter Schule" teil und war auch als Mitglied der Roten Studentengruppe aktiv, die der KPD nahe stand. Angeregt von ihrem Mentor, Norbert Elias, dem Assistenten Karl Mannheims, begann sie, die Anfänge der Fotografie in Frankreich von soziologisch-ästhetischen Gesichtspunkten aus zu untersuchen und an einer Dissertation zu diesem Thema zu arbeiten. Diese erschien dann nach ihrer Promotion 1936 unter dem Titel „La Photographie en France au XIXe Siècle". Es war weltweit die erste Doktorarbeit zu einem Thema der Fotografie. Zu ihren vielen frühen Aufnahmen, die vorher entstanden waren, gehören auch jene aussagestarken Bilder, die Anfang 1933 deutsche Studenten beim Hitlergruß zeigen und dann gleich daneben am Boden die blutigen Körper ihrer Kommilitonen, „die von den Hitlerleuten fast totgeschlagen waren", wie Freund im Band „Memoiren des Auges" (1977) berichtet.
Ihr Studium in Deutschland musste sie 1933 unterbrechen, um nach Frankreich zu fliehen. Den Lebensunterhalt als Studentin an der Sorbonne, 1933-1936 verdiente Freund nun als Fotografin und arbeitete für verschiedene französische Zeitungen. Als 1936 die Zeitschrift Life gegründet wurde, war Gisèle Freund eine der ersten Mitarbeiterinnen dieser später renommierten Publikation, wo dann, wie auch im Time Magazine, in der Picture Post oder in Paris-Match ihre großen Bildreportagen erschienen. Im Jahr 1940, kurz bevor die deutschen Truppen in Frankreich einmarschierten, musste sie wieder flüchten. Sie ging nach Chile und Argentinien – wo die Bilderserien über Evita Perón entstanden, die zu ihren besten journalistischen Arbeiten gehören – und dann zeitweilig auch nach Mexiko. Die meiste Zeit bis Kriegsende verbrachte sie jedoch in Buenos Aires. Sie hatte 1936, noch in Frankreich, Pierre Blum, den Freund eines Cousins von Adrienne Monnier geheiratet, um die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Doch auch als Französin war sie in ständiger Lebensgefahr. Erst Ende 1946 kehrte sie wieder nach Paris zurück.
Gisèle Freund gehört weltweit zu den ersten Fotografinnen, die Farbfilme verwendeten und sich manchmal „in regelrechten Porträtsitzungen bei Lampenlicht" auf das Antlitz der Menschen konzentrierten, aus denen Bilder von „ruhiger ästhetischer Einheit" hervorgingen.
„Es waren Menschen", erinnert sich später die Künstlerin,
„mit denen ich zu tun hatte, die um mich herum lebten, und da ich in einem sehr literarischen Milieu verkehrte, waren dies vor allem Schriftsteller [...]. Und weil die Freundschaft und nicht das Geld uns verband, sind diese Fotos das geworden, was sie sind. Es war gewissermaßen das goldene Zeitalter der Reportage".
Foto G. Freund: Virginia Woolf in ihrem Haus in London, 1939. Zur Verfügung gestellt C. Stephani So schuf sie die berühmten Porträts von Louis Aragon, André Breton, Jean Cocteau, André Malraux, Paul Éluard, Jean-Paul Sartre, Walter Benjamin, T. S. Eliot, James Joyce, Simone de Beauvoir, Thornton Wilder, Peggy Guggenheim, Henri Matisse, Alberto Giacometti, Marcel Duchamp, George Bernhard Shaw, Adrienne Monnier, Virginia Woolf, Henry Miller, Samuel Beckett, Bertolt Brecht, Robert Musil, Arnold und Stefan Zweig, Heinrich Mann, Eugène Ionesco, Arthur Koestler, Norbert Elias, Ilja Ehrenburg, Anna Seghers, Michael Gold, Joséphine Baker, Frida Kahlo und vielen anderen; diese „Galerie der Dichter und Künstler" umfasst über 80 große Namen. Dazu hatte Gisèle Freund einst gesagt: „Für mich ist das Antlitz ein Spiegelbild der inneren Persönlichkeit." Zwischen ihren ersten bedeutenden Bildberichten über die Arbeitslosen im englischen Industrierevier, die 1935 in Weekly Illustrated erschienen und später im neugegründeten Life nachgedruckt wurden und der großen Einzelausstellung 1968 im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris stehen zahlreiche Porträts und Alltagsszenen, die in den größten Kunstgalerien der Welt gezeigt wurden, so in New York, Los Angeles, Zürich, Berlin, Boston, Barcelona, Hamburg, Frankfurt/Main oder München. Die Auseinandersetzung mit ihrem vielfältigen künstlerischen Werk begann in Deutschland allerdings erst Mitte der 1970er Jahre, angeregt durch die Frauenbewegung und durch den Kunstbetrieb, der nun Fotografie von Fotokunst zu unterscheiden versuchte. Als dann die internationale documenta 6 in Kassel 1977 ein Portfolio mit zehn ihrer frühen Farbbildnissen zeigte, wurde aus der Fotografin Freund eine renommierte Fotokünstlerin, an deren „deutsche Herkunft" man sich nun zu erinnern versuchte. Im Jahr 1979 veranstaltete die Sidney Janis Gallery in New York eine umfangreiche Werkschau, alle 180 Bilder wurden vom Center for Creative Photography in Tucson, Arizona erworben. Danach erschienen mehrere Bildbände, und eine Reihe von Fernsehfilmen machte die international bewunderte Fotokünstlerin auch in Deutschland bekannt, besonders als sie 1980 mit dem Grand Prix National des Arts ausgezeichnet wurde. Neun Jahre vor ihrem Tod, 1991, zeigte das Centre Georges Pompidou in Paris eine große Freund-Retrospektive, wonach die Künstlerin die 250 Werke dieser Schau der Sammlung des Musée National d’Art Moderne schenkte. Foto G. Freund: James Joyce mit Lupe, Paris 1939. Zur Verfügung gestellt C. Stephani Als François Mitterand 1981 französischer Staatspräsident wurde, kannte er die „Ahnengalerie berühmter Menschen des 20. Jahrhunderts" und bat Gisèle Freund, auch von ihm ein offizielles Porträt aufzunehmen. Sie setzte den bekannten Politiker, wie einst die Schriftsteller und Künstler, ins Lampenlicht, und da musste er so lange verharren, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Ein Jahr darauf wurde sie mit dem Orden der Légion d’Honneur ausgezeichnet und erhielt ihren französischen Personalausweis wieder. Sie kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück und starb am 31. März 2000 an Herzversagen in Paris; ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof Montparnasse. „Für die Nachwelt", schrieb Isabel Siben – Kuratorin der Freund-Rückschau „Photographien und Erinnerungen", die bis Anfang 2009 in der Münchner Versicherungskammer Bayern zu sehen war – sind diese Porträts „authentisch, weil freiwillig gewährte Charakterbilder des besonderen Blicks der herausragenden Persönlichkeit von Gisèle Freund". Am 19. Dezember 2008 wäre die weltbekannte Künstlerin – die einmal bescheiden von sich selbst gesagt hatte: „Ich bin mein Leben lang Amateur geblieben" – hundert Jahre alt geworden. Als kreative Fotohistorikerin schuf sie zwischen 1935 und 1981 eine einmalige Folge von Bildnissen bedeutender Zeitgenossen. Ihr eigenes Porträt aber steht in der unvergesslichen jüdischen Ahnengalerie jener großen Namen, die einst Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgestaltet haben.