„Architekt“ der österreichischen Bundesverfassung
2018 jährt sich zum 100. Mal die Ausrufung der Ersten Republik, sowie zum 45. Mal der Todestag von Hans Kelsen. Angesichts der grossen Bedeutung Kelsens für das Verfassungsrecht der jungen Republik aber auch für die Jurisprudenz des 20. Jahrhunderts soll das Wirken dieses bedeutenden österreichischen Juristen hier in Erinnerung gerufen werden.1
Väterlicherseits reichen Hans Kelsens Wurzeln nach Brody2 – der galizischen Grenzstadt der Habsburgermonarchie, zu deren bekanntesten Söhnen der jüdische Schriftsteller Joseph Roth zählte. Kelsens Vater zog in jungen Jahren in die Metropolen des Vielvölkerstaates – zunächst nach Wien, dann nach Prag, wo er heiratete und 1881 sein Erstgeborener – Hans Kelsen – auf die Welt kam. Wenige Jahre später übersiedelte die Familie nach Wien, der junge Kelsen besuchte das Akademische Gymnasium, maturierte 1900 und studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien.
Aus einer jüdischen Familie kommend, konvertierte Kelsen zunächst 1905 zum römisch-katholischen und 1912 zum evangelischen Glauben A. B. Sein Religionswechsel war nicht religiös motiviert, sondern – wie bei vielen Juden angesichts des herrschenden konfessionellen Antisemitismus – ein Ausdruck der zwangsmässigen Assimilation.3 Gerade für den Staatsdienst und für eine Universitätskariere war eine Konversion vom jüdischen Glauben zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft von entscheidendem Vorteil. Während die Wiener Universität durchaus viele jüdische Privatdozenten bzw. Privatdozenten jüdischer Herkunft verzeichnete, wurden nur wenige Gelehrte jüdischer Konfession – trotz hervorragender Leistungen – zu Universitätsprofessoren berufen, so erlangten z. B. weder Sigmund Freud noch der Medizinnobelpreisträger Robert Bárány eine Professur.4
Trotz dieser tristen Aussichten schlug Kelsen eine wissenschaftliche Laufbahn ein und habilitierte sich 1911 für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Kurz vor dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns wurde er im Sommer 1918 zum ausserordentlichen Professor ernannt, ein Jahr später erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor für Staats- und Verwaltungsrecht. Gleichzeitig war Kelsen als Verfassungsexperte für die junge Republik tätig. Aus seiner Feder stammen mehrere Verfassungsentwürfe für den neuen Staat, weshalb Kelsen als der „Architekt“ der österreichischen Bundesverfassung von 1920 gilt,5 die unbeschadet zahlreicher Novellen noch heute in Kraft ist. Entscheidend prägte Kelsen das „österreichische Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit, welches den Schutz der Verfassung einem einzigen speziellen Gericht – dem Verfassungsgerichtshof – zentral überliess mit der Möglichkeit, verfassungswidrige Gesetze und Verordnungen aufzuheben. Kelsens Beitrag zur österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit beschränkte sich jedoch nicht auf deren legistische Ausarbeitung, er war von 1919 bis 1930 Richter am Verfassungsgerichtshof und prägte dadurch auch die Rechtsprechung dieses Gerichts.
Internationale Anerkennung fand Kelsen mit der von ihm begründeten Wiener rechtstheoretischen Schule. Sein Rechtsverständnis basierte auf der Trennung von Recht und nichtjuristischen Systemen wie Politik, Moral oder Sitte. Gesetze sollten nur nach rechtswissenschaftlichen Methoden interpretiert werden und andere Gesichtspunkte wie z. B. religiöse Vorstellungen, wirtschaftliche Überlegungen bei der Gesetzesanwendung keine Berücksichtigung finden. Sein wohl bedeutendstes Werk, die „Reine Rechtslehre“ (1. Auflage 1934, 2. Auflage 1960) erfuhr Übersetzungen in 15 Sprachen.6
Kelsens Engagement beschränkte sich nicht auf den wissenschaftlichen und legistischen Bereich. Als Volksbildner brachte er die Ideen der Demokratie und verfassungsrechtliche Fragen den Massen näher, all das im Sinne einer Erziehung zur Demokratie.7 Dabei kamen aktuelle Fragestellungen nicht zu kurz: So erklärte Kelsen kurz vor den ersten Parlamentswahlen des jungen Österreichs im Neuen Frauenklub in seinem Vortrag „Wie wähle ich“ den versammelten Frauen, die nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 erstmals zur Wahl zugelassen waren, die Wahlvorschriften.8
1930 wurde Kelsen im Rahmen einer Verfassungsnovelle durch ein Bundesverfassungsgesetz als Verfassungsrichter abberufen. Dieser Umstand sowie die antisemitisch motivierten Kontroversen und der wachsende Antisemitismus an der Wiener Universität bewogen Kelsen 1930 den Ruf an die Universität Köln anzunehmen. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 verlor Kelsen seine Anstellung und es begann seine Odyssee durch Europa, die schliesslich 1940 mit seiner Emigration in die USA endete. Durch seine Vertreibung war Kelsen gezwungen, sich eine neue Existenz als Völkerrechtler und Politikwissenschaftler in den USA aufzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von offizieller Seite nie versucht, Kelsen zurück nach Österreich zu holen. Er starb 1973 in Kalifornien.9
1 Verschiedene Aspekte des Lebens und Wirkens von Kelsen beleuchtet: Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32) Wien: 2009.
2 Ausführlich zur Herkunft Kelsens: Thomas Olechowski, Über die Herkunft Hans Kelsens. In: Tiziana Chiusi / Thomas Gergen / Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag (= Schriften zur Rechtsgeschichte 139) Berlin: 2008, S. 849–863.
3 Vgl. dazu Anna L. Staudacher, Zwischen Emanzipation und Assimilation: Jüdische Juristen im Wien des Fin-de-Siècle. In: Walter / Ogris / Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen, S. 41–53.
4 Zu unterscheiden von der regulären Universitätsprofessur ist die reine Titularprofessur, die dem Träger abgesehen vom Titel keinerlei Rechte verschaffte.
5 Thomas Olechowski, Der Beitrag Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung. In: Walter / Ogris / Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen, S. 228.
6 Matthias Jestadet, Einführung. In: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Studienausgabe der 2. Auflage 1960, herausgegeben von Matthias Jestaedt, Tübingen / Wien: 2017, LXIX.
7Näher bei Tamara Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 29) Wien: 2007.
8 Fremdenblatt v. 2. 2. 1919, Nr. 32, S. 15.
9 Eine ausführliche Biographie dieses bedeutenden Gelehrten wird zurzeit vom Rechtshistoriker und Geschäftsführer des Hans-Kelsen-Instituts, Herrn Prof. Thomas Olechowski, verfasst. Weitere Informationen unter: http://www.kelseninstitut.at/; http://www.univie.ac.at/kelsen