Manfred Gerstenfeld (Hg.): Behind the Humanitarian Mask. The Nordic Countries, Israel and the Jews. Mit einem Vorwort von Gert Weisskirchen.
Jerusalem: Jerusalem Center for Public Affairs 2008.
256 Seiten, USD 29,00.-
ISBN: 978-965-218-066-7.
Freies Download unter: http://www.jcpa.org/text/nordic.pdf
Im Sommer 2006, der Zweite Libanonkrieg war gerade im Gange, erregte ein Gastkommentar des Schriftstellers Jostein Gaarder in der norwegischen Tageszeitung Aftenposten international Aufmerksamkeit. In diesem zieht Gaarder unter der religiös konnotierten Überschrift Gottes auserwähltes Volk alle Register des gegen Israel gerichteten Antisemitismus: Trauer über die Opfer des Holocaust bei gleichzeitiger Aberkennung des Selbstbestimmungs- und Verteidigungsrechts des Staates Israels inklusive Versatzstücke aus dem Fundus des christlichen Antijudaismus (Stichwort: Kindermörder). Jostein Gaarder ist jener norwegische Autor, der mit seiner unter dem Titel Sophies Welt in über fünfzig Sprachen übersetzte Reise durch die Philosophie in den 1990er Jahren die Bestsellerlisten füllte.
Der Skandal um Jostein Gaarder ist symptomatisch für den in Nordeuropa verbreiteten humanitären Antisemitismus, der im von Manfred Gerstenfeld, Direktor des Jerusalem Center For Public Affairs, edierten Sammelband erstmals umfassend diskutiert wird. Als Kernelement des humanitären Antisemitismus definiert Gerstenfeld eine Form des umgekehrten Rassismus, derzufolge nur weiße Menschen rassistisch und/oder antisemitisch sein könnten beziehungsweise für ihre antisemitischen Äußerungen und Handlungen verantwortlich seien (S. 22). Dazu kommt Abscheu gegenüber jüdischer nationaler Selbstbestimmung, die mit dem Anspruch auf militärische und präventive Selbstverteidigung einhergeht. Das geringe globale Medienecho, das Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden zuteil würde, wäre laut Herausgeber fast ausschließlich positiv und würde den hohen Grad an Meinungsfreiheit und das friedliche gesellschaftliche Zusammenleben in diesen Ländern betonen. Gerstenfeld und seine Mitautorinnen bzw. Interviewpartnerinnen machen sich zur Aufgabe, hinter diese „humanitäre Maske" zu blicken.
Den Umgang mit Verstrickungen in die nationalsozialistischen Massenverbrechen und Post-Shoah-Antisemitismus zeichnen Vilhjálmur �rn Vilhjálmsson, Bent Blüdnikow und Arthur Arnheim für Dänemark sowie Serah Beizer für Finnland in exzellent recherchierten Beiträgen nach. Bemerkenswert ist der Text Efraim Zuroffs (Simon-Wiesenthal-Center), der aus eigener Erfahrung die Widersprüchlichkeit des staatsoffiziellen schwedischen Einsatzes für internationale Holocaust-Erinnerung und die Weigerung, Verjährungsfristen für die Strafverfolgung schwedischer Kriegsverbrecher(Innen) aufzuheben, skizziert. Vilhjálmson steuert einen Aufsatz zu Island bei, einem Land, das im Kontext von jüdischer Geschichte und Antisemitismus üblicherweise kaum beachtet wird. Der Großteil der Kritik konzentriert sich auf Norwegen. Gerstenfeld bietet einen Überblick vom Umgang mit Vidkun Quisling, über das noch immer bestehende Schächtverbot bis hin zu Boykottaufrufen gegen israelische Produkte und Einrichtungen. Erez Uriely vergleicht Karikaturen, die in norwegischen Mainstream-Zeitungen zum Nahostkonflikt erschienen sind, mit jenen aus dem berüchtigten NS-Blatt Der Stürmer. Bjarte Brunland bespricht die schwierige Situation der historisch immer sehr kleinen jüdischen Gemeinden Norwegens angesichts norwegischer Vergangenheitspolitik und gegenwärtigem Antisemitismus. Von muslimischen Individuen und Communities ausgehende Judenfeindschaft in Schweden wird bei Mikael Tossavainen in seinem auf empirisches Datenmaterial gestützten Aufsatz differenziert dargestellt. Vertreten sind zudem Odd Sverre Hove, ein norwegischer Journalist aus dem christlich-evangelikalem Spektrum und Zvi Mazel, ein Diplomat, der von 2002 bis 2004 israelischer Botschafter in Stockholm war. Mazel erlangte durch die Beschädigung einer seiner Ansicht nach Terrorismus verherrlichenden Installation eines schwedisch-israelischen Künstlers internationale Bekanntheit, gibt im vorliegenden Interview aber kompetent Auskunft zu Antisemitismus in der schwedischen Sozialdemokratie, in der lutherischen Kirche sowie in neonazistischen Kreisen.
Einige Passagen des Buches Behind the Humanitarian Mask offenbaren jedoch ein Politikverständnis, das der heutigen transnationalen Realität nicht Rechnung trägt. Gerstenfeld beispielsweise beklagt, dass Norwegen gemeinsam mit anderen EU-Ländern und Kanada die israelische Nichtregierungsorganisation Peace Now mit offiziellen Geldern unterstützen würde. Da Peace Now die israelische Regierung zum Abbau von Siedlungsaußenposten und zum generellen Stopp des Siedlungsbaus aufrufe, würden sich die Geberländer „eklatant in die Innenpolitik Israels, einer anderen Demokratie, einmischen" (S. 49; Übers. E.K.). Eine derartige, länderübergreifende „Einmischung" in Form von Fördermitteln für NGOs sind jedoch allgemeiner Bestandteil transnationaler Politik. Auch die Anmerkungen von Gerald Steinberg zur Unterstützung von palästinensischen oder internationalen NGOs durch die schwedische und die finnische Agentur für Entwicklungszusammenarbeit hinterlassen, so sie sich nicht eindeutig auf antisemitische Ressentiments und Praktiken beziehen, einige Fragezeichen. Dass sich hinter humanitären NGOs in den meisten Fällen eine politische Agenda verbirgt, trifft weltweit und nicht nur im Nahen Osten zu. Auch der Vorwurf der Einseitigkeit und der fehlenden Empathie für die israelische (regierungsoffizielle) Position geht ins Leere, zumal wiederum fast alle NGOs eine klare politische Zielsetzung verfolgen und keinem Neutralitätsgebot verpflichtet sind. Zwar wiederholt Gerstenfeld die Vermutung, dass die Demokratien und Sicherheitsstrukturen der nordischen Länder den Herausforderungen, denen sich Israel stellen müsse, nicht gewachsen wären, eine (kritische) Diskussion der EU-Nahostpolitik und der dort forcierten Zwei-Staaten-Lösung bleibt jedoch aus. Schweden wörtlich „Arroganz" (S. 34) vorzuhalten, die auf EU-Ebene vorhandenen Ansätze aber nicht zu berücksichtigen, ist ein Schwachpunkt des Buches. Antisemitismus und Israelhass, die aus progressiven oder aus islamistischen Kreisen kommen, sind genauso wenig entschuldbar wie die traditionellen Ressentiments von Rechtsaußen. Manfred Gerstenfeld hat mit der Kompilation von Behind the Humanitarian Mask vor allem im geografischen Sinne bedeutende Pionierarbeit geleistet. Es kann abschließend nur gefordert werden, dass die von Gerstenfeld und den anderen AutorInnen und InterviewpartnerInnen geäußerte Kritik besonders auf Seiten der Kritisierten ernst genommen wird und weitere publizistische und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum - nicht auf Nordeuropa beschränkten - Phänomen des humanitären Antisemitismus erscheinen werden.