Wie von fast allen der nahezu einhundert jüdischen Andachtstätten, die sich in Wien vor 1938 befunden haben, ist auch vom kleinen Döblinger Tempel in der Dollinergasse 3 heute jede Spur getilgt.1 Einzig eine kleine Gedenktafel, die an dem jetzigen Neubau - einem unspektakulären Wohnhaus - angebracht ist, erinnert an die ehemalige jüdische Kultstätte. So wie das Gebäude verschwunden ist, das erst in jüngerer Zeit von Pierre Genée als seltenes Beispiel einer „Jugendstilsynagoge" wiederentdeckt worden war, ist auch der Name des Architekten Julius Wohlmuth heute niemandem mehr ein Begriff.2 Da insbesondere Kultbauten - seien es Synagogen oder Kirchen - stets besonders traditionsverbunden waren, stellte der kleine Tempel in der Formensprache der zeitgenössischen Moderne ein besonders rares Beispiel dar, das von der Aufgeschlossenheit der örtlichen jüdischen Gemeinde zeugte.
Zweifellos war es kein völliger Zufall, dass der Döblinger Tempelverein, der in einer der nobelsten Wohngegenden von Wien beheimatet war, sich am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine Synagoge im Stil der damals neuesten künstlerischen Strömungen erbauen liess. Nicht zuletzt war es das jüdische Grossbürgertum, das die Wiener Moderne unterstützte. Namhafte Familien, wie die Wittgensteins, die Gutmanns, die Zuckerkandls und andere machten sich in diesen Jahren als Mäzene und Förderer der Secession und der Wiener Werkstätte verdient. Es ist daher anzunehmen, dass einige Mitglieder des Tempelvereines aus durchaus ähnlichen sozialen Schichten kamen. Den Quellen zufolge war sogar ursprünglich eine wesentlich aufwendigere Synagoge vorgesehen gewesen, die möglicherweise in der Gatterburggasse ihren Standort hätte haben sollen. Ein 1906 in der Fachzeitschrift Der Architekt publizierter Entwurf von Oskar Marmorek, der einen rundum freistehenden prächtigen Bau mit Balkons und Terrassen in der Formensprache des Secessions-Stils vorsah, dürfte im Rahmen dieser ersten Planungen entstanden sein.3 Die Einbindung des engagierten Zionisten Marmorek, der damals geradezu ein Stararchitekt und sehr von der „Moderne" Otto Wagners beeinflusst war, in das Vorhaben ist durchaus als Reflex der Vorstellungen der Auftraggeber anzusehen.4 Da aber dieses ehrgeizige Projekt dann offensichtlich die finanziellen Möglichkeiten des Tempelvereines überstieg, nahm man - nicht ohne Turbulenzen - von diesem Vorhaben Abstand.5
Um 1904 entschloss sich der neu konstituierte Vorstand unter Leitung des rührigen Obmannes Julius Lederer zu einer billigeren Variante, indem man ein bereits bestehendes zweigeschossiges Wohnhaus in der Dollinergasse 3 ankaufte, um dieses für die Zwecke eines Bethauses zu adaptieren.6 Diesen bescheideneren Ansprüchen entsprach sowohl die Situierung des Gebäudes, das, in einem Häuserverbund gelegen, nur hofseitig nach drei Seiten freistand, als auch die Entscheidung, die Planverfassung dem in Döbling tätigen Architekten und Baumeister Julius Wohlmuth zu übertragen. Der zu diesem Zeitpunkt noch sehr junge Wohlmuth hatte erst vor kurzem seine Tätigkeit aufgenommen und auch - im Gegensatz zum prominenten Oskar Marmorek - keine Hochschule oder Akademie besucht, sondern nur die Staatsgewerbeschule absolviert, war also damals jemand mit einem sehr bescheidenen Renommee.7 Dieser Umstand, wie auch das Faktum, dass Wohlmuth selber dem Döblinger Tempelverein angehörte, lassen darauf schliessen, dass er den Auftrag höchstwahrscheinlich zu einem relativ geringen Honorar übernommen oder vielleicht überhaupt darauf verzichtet hat. Dessen ungeachtet hatte er sich bereits mit der Realisierung einiger äusserst qualitätvoller Döblinger Villen (unter anderem am Springsiedelweg 23) zumindest in Insider-Kreisen offenbar einen Namen gemacht, so dass man genügend Vertrauen hatte, ihm diese nicht ganz einfache Aufgabe zu übertragen.
Wohlmuth verstand es dann geschickt, dem Bau den geforderten repräsentativen Anspruch zu verleihen, auch wenn er den Charakter des in den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts errichteten Wohnhauses nicht völlig verändern konnte - wobei er offensichtlich auf einige Anregungen aus Marmoreks seinerzeitigem Entwurf zurückgriff. Dies betrifft insbesondere die Gliederung der Strassenfront mittels pylonenartig ausgeformter Seitenrisalite in Anlehnung an die damals von Otto Wagner propagierte Monumentalarchitektur. Auch die ausgeklügelte architektonische Einfassung des grossen halbrunden, mit Glasmalereien geschmückten Fensters an der Schmalseite verrät diesen Einfluss. Die jüdische Konnotation wurde mittels eines prächtigen strahlenumrahmten Davidsterns im Mittelgiebel hervorgehoben, ebenso waren die Seitenrisalite mit kleineren, paarweise gesetzten Sternen bekrönt. Der Betsaal im Inneren war mit einer Frauenempore ausgestattet und umfasste rund 460 Sitzplätze. Im selben Komplex waren auch noch eine Sprach- und Bibelschule, ein Frauenwohtätigkeitsverein für den 19. Bezirk und der Bund jüdischer Eltern untergebracht. Mit 40.000 Kronen wurde das Projekt auch von der Israelitischen Kultusgemeinde finanziell unterstützt. Die relativ kleine Synagoge war bis 1938 in Funktion, als sie in der Reichspogromnacht schwer verwüstet und die Fassade des Hauses zerstört wurde. Dessen ungeachtet bestand das Gebäude selbst bis Mitte der 90er Jahre, um dann schliesslich endgültig abgerissen und durch einen Neubau ersetzt zu werden. Beklagenswerterweise hat sich nicht einmal ein Foto erhalten. Nur mittels der Einreichpläne ist eine vage Rekonstruktion des Erscheinungsbildes möglich. 8
Die Synagoge in Wien 19, Dollinergasse 3. Abbildung: Mit freundlicher Genehmigung P. Genée.
Der Architekt Julius Wohlmuth war noch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfolgreich tätig - allerdings wissen wir nur relativ wenig über sein Werk. Neben den bereits oben genannten Villen konnte er auch einige Miethäuser realisieren, die immer wieder in der Fachliteratur publiziert wurden, was auf einen durchaus gehobenen Qualitätsanspruch schliessen lässt. Obwohl ein nicht unerheblicher Teil von Wohlmuths Bauten vernichtet wurde - neben der Synagoge in der Dollinergasse sind auch einige seiner Villen heute nicht mehr erhalten -, so hat er dennoch in Döbling mit einem markanten Gebäude seine Spuren hinterlassen. 1914 errichtete er das äusserst reizvolle Wohn- und Geschäftshaus in der Grinzinger Allee 1, dessen exponierte städtebauliche Situierung an einem Strassenspitz auch in der gekonnten architektonischen Durchgestaltung seine Entsprechung findet. Insbesondere die Schmalseite, die als Blickpunkt konzipiert war, zeichnet sich durch einen effektvoll zurück gestaffelten Baukörper aus, der mit einem klassizierenden Dreieckgiebel abgeschlossen wird. Eine bekrönende Amphore auf dem Dach rundet die markante Silhouette ab. Auch die Gestaltung der Seitenfronten mit dem arkadenartig gestalteten Geschäftsbereich, den vorschwingenden Bay-Windows und sparsam dekorierten Fensterparapets war architektonisch auf dem letzten Stand und entsprach der dezenten Eleganz dieses gehobenen Wohnviertels. Nicht zu Unrecht hat sich Wohlmuth selbst mit einer kleinen Tafel, wo er namentlich als Architekt angeführt wird, hier verewigt.
Wohn- und Geschäftshaus in der Grinzinger Allee 1. Foto: Mit freundlicher Genehmigung Peter Prokop.
Der Erste Weltkrieg hat schliesslich Wohlmuths Karriere unterbrochen. Höchstwahrscheinlich musste er Kriegsdienst leisten und ins Feld einrücken. Nach dem Ende der Monarchie 1918 schien ihm angesichts der desaströsen Wirtschaftslage eine Wiederaufnahme seiner Architektentätigkeit nicht sehr sinnvoll, und er arbeitete vorübergehend als Versicherungsvertreter. Dessen ungeachtet bot sich ihm aber bald wieder eine Möglichkeit, zumindest eingeschränkt seinen alten Beruf wieder aufzunehmen. Bereits vor dem Krieg hatte er die Sommermonate mit seiner Familie in Kritzendorf verbracht, um sich Anfang der Zwanziger Jahre hier völlig niederzulassen, wobei der Wohnsitzwechsel möglicherweise in Hinblick auf neue Aufgaben erfolgte. Nur einige Kilometer nördlich von Wien gelegen, verfügte der Ort bereits seit 1903 über ein Strombad an der Donau. Im Laufe der Jahre hatte sich ein reges Badeleben zu entwickeln begonnen. Insbesondere in den frühen Zwanziger Jahren erfuhren Kritzendorf und die umliegenden Orte an der Donau, die mit der Bahn gut erreichbar waren, infolge freierer Lebensformen und des Aufkommens der Weekend-Bewegung geradezu eine Hochblüte, und es entstanden zahlreiche Wochenendsiedlungen mit kleinen Badehütten.9
Eine der massgeblichen Persönlichkeiten dieser Entwicklung war der Wiener Anwalt Dr. Marcel Halfon in seiner Funktion als Präsident des Wochenendvereines Österreichs, und als Obmann des Bundes der Hüttenbesitzer in Kritzendorf. Sozusagen als spiritus rector übernahm er nicht nur die juridischen Belange der Wochenendhausbesitzer, sondern trug auch mittels diverser Publikationen zur Popularität des nahe bei Wien gelegenen Erholungsgebietes bei.10 Nicht zuletzt dürfte es dem Engagement Marcel Halfons zu verdanken sein, dass Kritzendorf sich - neben Geschäftsleuten und Mittelständlern - vor allem unter jüdischen Künstlern und Intellektuellen grosser Beliebtheit erfreute und in der Folge zu einer „jüdischen Riviera" mit einem regen Kulturleben entwickelte. Neben der jungen Hilde Spiel, Friedrich Torberg und vielen anderen, die hier Erholung suchten und sich auch im örtlichen Sportklub betätigten, errichteten auch viele namhafte jüdische Architekten für befreundete Künstler hier diverse Wochenendhäuser, wie Paul Fischl, Felix Augenfeld (für die Kunstgewerblerin Maria Likarz-Strauss), Ernst Schwadron, Fritz Keller und andere mehr. Jacques Groag, einer der bekanntesten Schüler von Adolf Loos, hat noch viele Jahre später in seinem Londoner Exil in seinen Erinnerungen ein ganzes Kapitel seinem geliebten Kritzendorf , das er auch in einem Wortspiel „Village de Kritzen" nannte, gewidmet.11
Im Rahmen des Ausbaus des beliebten Erholungsgebietes spielte natürlich auch Wohlmuth, der hier ja sozusagen zu Hause war, eine nicht unbedeutende Rolle. Bereits Anfang der Zwanziger Jahre zählte der Bau einer Brücke über den Donaudurchstich zu einem seiner ersten Aufträge. In den nächsten Jahren entwarf er vor allem diverse Wochenendhäuser, im typischen Kritzendorfer Stil in Holzbauweise mit Flachdach auf Stützen (wegen der häufigen Überschwemmungen), die auch von Marcel Halfon publiziert wurden.12 Während ungewiss ist, wie viele von Wohlmuths Entwürfen tatsächlich realisiert wurden, ist ein 1926 errichtetes Strandhaus für den Zahnarzt Dr. Hermann Grünberg eindeutig dokumentiert.13 Es zeichnete sich durch bemerkenswerte kubistische Details wie gezackte Fensterumrahmungen und sich verjüngende Holzpfeiler aus. Das Haus wurde nach der „Arisierung" von 1938, die Kritzendorf mit besonderer Härte traf, erweitert und umgebaut, besteht im Kern allerdings bis heute. 14
Darüber hinaus war Wohlmuth fortlaufend mit dem Ausbau und der Verbesserung der alten Badeanlage, die noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammte, befasst. All diese Massnahmen erwiesen sich angesichts der ständigen wachsenden Beliebtheit der Gegend, die sich inzwischen zur grössten Weekendhaus-Siedlung Österreichs entwickelt hatte - an manchen Sonntagen kamen bis zu 15.000 Badegäste - als unzureichend, so dass 1926 schliesslich ein Neubau des Strombades in Angriff genommen wurde. Es war nicht zuletzt Julius Wohlmuth, der das diesbezügliche Ansuchen an die niederösterreichische Landesregierung stellte und auch bei der Ausschreibung und Planung massgeblich Anteil hatte. In Zusammenarbeit mit dem Wiener Architekten Heinz Rollig errichtete er in den Jahren 1927/28 die neue Badeanlage, wobei insbesondere die Hüttenzeilen und Kabinentrakte durch einen zentralen Platz eingebunden werden sollten. Daneben entstand eine umfassende Infrastruktur, wie eine Milchtrinkhalle, eine Schiffsstation, ein Friseur, ein Fotograf und anderes mehr. Einen wichtigen architektonischen Akzent stellte der Torbau des Eingangsbereiches dar, der formal angelehnt an die Bauhausarchitektur die Schwelle zwischen Natur und Kultur symbolisiert. Auf dem Dach war eine Kaffeekonditorei untergebracht, von deren Terrasse man einen prachtvollen Ausblick auf die Donau geniessen konnte.
Strombad Kritzendorf, Eingangstor. Foto: Mit freundlicher Genehmigung Peter Prokop.
Julius Wohlmuth verstarb schon bald danach, im März 1931- erst knapp 58-jährig. Er war offensichtlich bis zuletzt mit diesem Projekt beschäftigt gewesen. Kritzendorf konnte sich noch für einige Jahre eines blühenden Badelebens erfreuen, das mit dem „Anschluss" Österreichs jedoch ein jähes Ende erfuhr. Schon im März 1938 wurde Juden der Zutritt uim Strombad verwehrt, Kritzendorf zu Gross-Wien eingemeindet und die Häuser, die zu 76 Prozent in jüdischem Besitz waren (im Sportklub, der ein eigenes Areal innerhalb der Anlage innehatte, betrug der Anteil sogar 96%) „arisiert". Marcel Halfon, der sich so viele Verdienste erworben hatte, beging noch im Mai 1938 Selbstmord. Ein kurz zuvor gestellter Antrag, seine beiden Häuschen seiner „arischen" Lebensgefährtin zu vermachen, war abgewiesen worden. Die neuen Besitzer, darunter auch NS- Prominenz wie der Gauleiter Baldur von Schirach, nutzten die Gelegenheit, um Badehütten auszubauen, zusammenzulegen oder auch völlig abzutragen. Sogar Ausbaupläne für ein KdF-Bad (NS-Freizeitorganisation Kraft durch Freude) wurden in Angriff genommen, infolge der Kriegsereignisse jedoch nicht mehr realisiert. 15
Fussnoten:
1 Eine umfassende Auflistung findet sich in: Pierre Genée/ Bob Martens/ Barbara Schedl: Jüdische Andachtstätten in Wien vor dem Jahr 1938. In: David, Heft 59, Dez. 2003.
2 Pierre Genée: Wiener Synagogen. Wien 1987, S.73f.
3 Oskar Marmorek: Entwurf einer Synagoge für Wien XIX. In: Der Architekt, 12.1906, T.80. Des weiteren befinden sich auch nicht näher definierte Pläne für eine zu errichtende Synagoge in Döbling im Archiv des jüdischen Museums Wiens (Pierre Genée: Synagogenbauten in Währing und Döbling. In: David, Jg. 8, Heft 29, Juni/Juli 1996, S.10)
4 Oskar Marmorek (1863-1909), war einer der bedeutendsten Architekten um 1900. Theodor Herzl, mit dem Marmorek eng befreundet war, setzte ihm in seinem Roman Altneuland mit der Figur des Architekten Steineck ein Denkmal (siehe: Markus Kristan: Oskar Marmorek, Architekt und Zionist. Wien 1996)
5 Siehe P. Genée, zit. Anm. 3.
6 Der Geschäftsmann Julius Lederer (1839-1914) dürfte, trotz der Namensgleichheit, nicht unmittelbar mit dem bedeutenden Kunstförderer und Grossindustriellen August Lederer verwandt gewesen sein (Matrikensammlung IKG).
7 Siehe dazu: Ursula Prokop,:Julius Wohlmuth. In: www.architektenlexikon.at
8 Siehe P. Genée, zit. Anm. 2.
9 Siehe dazu Lisa Fischer: Die Riviera an der Donau. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2004 sowie Klosterneuburg, Geschichte und Kultur, Bd. 2: Die Architektur der Klosterneuburger Strandbäder und Wochenendkolonien. Klosterneuburg 2007.
10 Marcel Halfon: Das Wochenendhaus. Wien 1928 sowie Ders.: Die Wochenendstadt. In: profil 1933, S.228.
11 Jacques Groag, Erinnerungen (unpubl. Typoskript/Ursula Prokop)
12 Siehe Anm. 10.
13 Klosterneuburger Geschichte, Bd.2, zit. Anm. 9, S.103.
14 Die exakte Adresse ist: Kritzendorf, Donaulände 1.
15 Klosterneuburger Geschichte, Bd.2, zit. Anm. 9.