„Das Warenhaus Kraus & Schober wird von der NS-Propaganda als Symbol ‚jüdischen Wuchers' attackiert und zugunsten der NSDAP ‚arisiert'. Der frühere Besitzer begeht im KZ Dachau Selbstmord."
Diese zwei Sätze stehen vor dem Haus am Linzer Hauptplatz, in dem sich nun ein Diskontsupermarkt und eine Bank befinden.
„In der Nacht dringt eine Einheit der SA in die Linzer Synagoge ein und setzt sie in Brand. Die Feuerwehr verhindert lediglich das Übergreifen der Flammen auf benachbarte Gebäude",
ist in der Bethlehemstrasse 26 zu lesen und erinnert an die Pogrome im November 1938.
Wer in diesem Jahr durch Linz spaziert, stolpert regelrecht über die Geschichte der Stadt. Kurze eindringliche Texte sind auf den Boden gesprüht, weisse klare Buchstaben auf dunkelgrauem Asphalt. Immer wieder halten Menschen im Strom der Passanten an und richten ihren Blick nach unten. Anstatt die dunkle Geschichte der Stadt bloss in einer Ausstellung zu verorten oder in wissenschaftlichen Werken, wird sie von einem Projekt der Kulturhauptstadt 2009 mitten in die Stadt gebracht, an Orte, wo im Nationalsozialismus Ungeheuerliches passierte, und wo heute eingekauft, Kaffee getrunken oder gearbeitet wird - und damit direkt zu den Menschen, die heute leben. Die Linzer NS-Geschichte manifestiert sich bis heute vor den Augen der Stadtbewohner durch Grossbauten wie die ehemaligen Hermann-Göring-Werke, die Brückenkopfgebäude oder die Nibelungenbrücke. Die Topografie des Terrors vor Ort hat noch kaum Eingang ins kollektive Gedächtnis der Stadt gefunden. In Situ, lateinisch für „am Ort, am Platz", nennt sich das Projekt dreier junger Wissenschafterinnen, die sich dem „Prinzip der leisen Wirksamkeit" verpflichtet fühlen. Sie wollen die Passanten ganz unvermittelt im öffentlichen Raum auf die Geschichte der Orte treffen lassen, erzählt eine der Projektleiterinnen, Dagmar Höss. Dafür hat man sich eines Stilmittels der Jugendkultur bedient: Mittels Schablonensprayung werden die so genannten Stencils mit weisser Farbe auf den Asphalt gesprüht. Durch diese Vermittlungsform werden „keine Denkmäler errichtet", sondern es wird bewusst eine „Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit" geschaffen, erklärt Höss.
Linz '09, In Situ: Stencil vor den Tabakwerken. Foto: Mit freundlicher Genehmigung J. Urbanek.
Diese Stencils sind noch bis zum Spätherbst in ganz Linz zu sehen. „Wir haben uns auf 65 Orte geeinigt", erzählt Höss, „es hätten aber Tausende sein können." Die ausgewählten 65 Orte erzählen nun alle auf ihre Weise die Geschichte des Nationalsozialismus. Sie berichten Opfer- und Tätergeschichten, die sich in den Jahren zwischen 1938 und 1945 zugetragen haben. Manche Orte sind bereits im kollektiven Gedächtnis angekommen, wie das Gestapo-Hauptquartier in der Langgasse 13, in dem tausende Gegner des NS-Regimes brutal gefoltert wurden. Oder das Alte Rathaus am Hauptplatz, auf dessen Balkon am 12. März 1938 Adolf Hitler von Zehntausenden bejubelt wurde - während bereits die ersten Regimegegner inhaftiert und ermordet wurden. Oder die Linzer Nibelungenbrücke, eine der wenigen verwirklichten Visionen Hitlers für seine „Jugendstadt" Linz: Der Granit, der hier zwischen 1938 und 1940 beim Bau zum Einsatz kam, wurde ein paar Kilometer weiter im KZ Mauthausen unter brutalsten Bedingungen abgebaut. Aber es sind auch Alltagsgeschichten, die einem beim Spaziergang durch Linz begegnen: Jene der Ursulinen-Schwester Kamilla, die einem französischen Kriegsgefangenen ein Paar Wollstrümpfe aus dem Fenster zuwarf - sie wurde deshalb zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Oder jene des sozialdemokratischen Rechtsanwalts Hermann Schneeweiss, dessen Villa in der Stockbauerstrasse 11 zugunsten des Gaus eingezogen und an die Frau des Gauleiters, Johanna Eigruber, verkauft wurde - während Schneeweiss in Dachau und später in Buchenwald inhaftiert war. Oder eben die Geschichte des Warenhauses Kraus & Schober - nur wenigen ist der Name, der vor 1938 für das grösste und modernste Linzer Kaufhaus stand, heute noch ein Begriff.
Vor diesem Haus hält auch die Gruppe, die sich an einem heissen Sonntagnachmittag zu einer Führung durch die Stadt versammelt hat. Das Projekt In Situ hat es sich zum Ziel gemacht, Zeitgeschichte auf mehreren Ebenen zu kommunizieren: Neben den Stencils in der ganzen Stadt wurde ein Buch herausgegeben, das ergänzend zu den knappen Texten auf dem Asphalt Hintergründe erzählt, Fotos der Orte aus dem Nationalsozialismus dem Heute gegenüberstellt. Ein speziell dazu produzierter Stadtplan zeigt eine Übersicht über die vielen dunklen Orte der Stadt. Und schliesslich bietet man für Schülergruppen und Interessierte kostenlose Führungen durch die Innenstadt an, die ebenfalls mehr in die Tiefe gehen und Raum für Fragen bieten. „Ich habe von so vielen Orten gar nicht gewusst", erzählt einer der Männer, der sich zur Führung vor dem Alten Rathaus eingefunden hat. Er befasst sich durch das Projekt intensiver mit der Geschichte seiner Stadt. Vom Rathaus über die Brückenkopfgebäude spazieren wir zum Linzer Landhaus: Die Geschichte, die hier in knappen Worten erzählt wird, endete in der so genannten Mühlviertler Hasenjagd. Landrat Adolf Dietscher formierte im Februar 1945 eine Volkssturm-Truppe, deren Aufgabe es war, 500 aus Mauthausen entflohene Kriegsgefangene zu verfolgen. Einige Bauernfamilien halfen den Entflohenen, aber nur von 11 Geflüchteten ist bekannt, dass sie überlebt haben. Die Reise durch die Geschichte geht weiter - durch das Landhaus über die Promenade in die Herrenstrasse. Auf Nummer 19, vor dem Bischofsamt, ist zu lesen:
„Franz Jägerstätter sucht Rat bei Bischof Fliesser - er kann den Kriegsdienst für Hitler nicht mit seinem Glauben vereinbaren. Jägerstätter wird als Wehrdienstverweigerer am 9.8. 1943 hingerichtet."
Linz '09, In Situ: Schablonensprayung. Foto: Mit freundlicher Genehmigung J. Urbanek.
Nach einer Diskussion über die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus biegen wir in die Bischofstrasse. Das pittoreske Gässlein, in dem heute ein Antiquitätengeschäft neben dem anderen liegt, zeigt, wie Opfer- und Tätergeschichten nahezu Tür an Tür passierten. Auf Nummer 3 verbrachte Adolf Eichmann von 1914 bis 1933 seine Jugend. Auf Nummer 7 lebte Rechtsanwalt Karl Schwager, Vorsitzender der Kultusgemeinde. Er wurde kurz nach dem „Anschluss" verhaftet und kam mit der Auflage frei, das Land zu verlassen. 1980 starb er in Israel. Das Stencil über Karl Schwager ist eines der wenigen, das mit Farbe beschmiert wurde. Ob die rot gesprühten Linien das Geschriebene durch- oder unterstreichen sollen, ist nicht erkennbar. Wie sind sonst die Reaktionen ausgefallen, fragen wir Dagmar Höss: „Es gab sofort viele Anrufe im Rathaus", erzählt sie. „Die Leute wollten wissen, was das soll - das Konzept der Unmittelbarkeit hat total funktioniert." Mit direkten Reaktionen war sie aber schon beim Sprühen der Texte konfrontiert:
„Viele lobten die tolle Aktion, brachten Ergänzungen und Anekdoten ein, es gab aber auch viele sehr direkte rassistische und antisemitische Äusserungen. So direkt, von Angesicht zu Angesicht, habe ich das nicht erwartet."
Linz '09, In Situ: Stencil vor Schloss Ebelsberg. Foto: Mit freundlicher Genehmigung J. Urbanek.
Erfreulich und erfolgreich seien allerdings die vielen Führungen mit Schulklassen: Die Schüler seien hochinteressiert und gut informiert, erzählt Höss. Und auch jetzt zeigt sich, dass die Aktion nicht kalt lässt: Die Führung geht langsam zu Ende, und selbst als sich die meisten Teilnehmer schon wieder in alle Richtungen aufgemacht haben, stehen noch immer zwei Männer da und diskutieren. Mit einem neuen Blick auf ihre Stadt, einer neuen Sicht auf ihre täglichen Wege.
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