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Jüdische Weltverschwörung?

Wolfgang BENZ

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Nach dem 11. September 2001 verbreitete sich das Gerücht, „die Juden" stünden hinter dem Anschlag auf die Türme des World Trade Center in New York, und als Beweis wurde angeführt, unter den Toten des Terrors seien keine Juden gewesen: Diese hätten doch nach Ansicht vieler im Zentrum des Kapitalismus in besonders grosser Zahl angetroffen werden müssen. Wenn sie also am 11. September zu Hause geblieben seien, müssten sie vom bevorstehenden Terror gewusst haben oder gewarnt worden sein. Eine andere Vermutung führt den Tsunami, der 2004 Asiens Küsten verheerte, auf „die Juden" zurück: Eine israelische Atombombe sei im Pazifik unter See getestet worden und habe die Flutwelle ausgelöst. Solche Vorstellungen sind so absurd und irrational wie wirkungsvoll, sie geben Einblick in das Funktionieren von judenfeindlichen Verschwörungsmythen. Aufklärung dagegen ist in der Regel zwecklos, weil das Konstrukt ins Weltbild derer passt, die daran glauben wollen.

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Antisemitische Elaborate. Abbildung:
Mit freundlicher Genehmigung W. Benz.

Die klassische Form der Legende von der jüdischen Weltverschwörung ist über hundert Jahre alt und in aller Welt in allen gängigen Sprachen verbreitet: Die Protokolle der Weisen von Zion. Dass der als „jüdisches Geheimdokument" gehandelte Text, der die Verschwörungsabsichten der Juden in allen Einzelheiten „authentisch" belegt, seit Jahrzehnten gerichtsnotorisch als Fälschung oder besser als Mystifikation entlarvt ist, wird als unerheblich abgetan oder gar als Beweis für die besondere Echtheit des „Dokuments" angeführt.

Der Text ist um 1898 entstanden. Die Urheberschaft liegt bei der zaristischen Geheimpolizei Russlands. Anknüpfend an ältere Weltverschwörungsphantasien, in denen Juden als Vertreter einer satanischen Gegenwelt zum Christentum dargestellt sind, entsprachen die Protokolle verbreiteten religiösen Vorstellungen, die mit moderneren säkularen judenfeindlichen Welterklärungen vermischt sind. Die Protokolle, die soziale und politische Ressentiments bedienen, geben fiktive Gespräche einer „Geheimkonferenz" auf dem Prager jüdischen Friedhof wieder, in denen die Fortschritte des jüdischen Projektes, die Weltherrschaft mit einem „Gewaltkönig aus dem Hause Zion" durch List und Betrug zu erringen, erörtert werden.

Als Grundlage des „Dokuments", das jüdische Machtgier beweisen soll, dienten eine gegen Napoleon III. gerichtete aufklärerische Streitschrift und der Schauerroman Biaritz des deutschen Trivial-Schriftstellers Hermann Goedsche, der unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe Mitte des 19. Jahrhunderts grossen Erfolg hatte. Verbreitet wurde der Text erstmals durch den Russen Sergej Alexandrowitsch Nilus. Er hatte Jura studiert, war kurze Zeit im Staatsdienst gewesen; schwärmerische Frömmigkeit war ein Grundzug seines Wesens. Er war gebildet und sprach gut Deutsch, Französisch und Englisch. Um die Jahrhundertwende geriet er in den Sog der damals in Russland weit verbreiteten mystisch-apokalyptischen Stimmung. Sein Buch Das Grosse im Kleinen war eine Kompilation aus okkulten Traumgeschichten und Beschreibungen von Wundern. Eine Neuausgabe 1905 enthielt als Anhang den Text der Protokolle der Weisen von Zion. Damit fanden diese den Weg in den Westen. Im deutschen Sprachraum sind die Protokolle im Juli 1919 aufgetaucht.

Keine andere Fälschung hatte grössere Wirkung als das Machwerk über die jüdische Weltverschwörung, und zwar deshalb, weil das Publikum an die griffige Welterklärung glauben wollte. Die Mörder des deutschen Aussenministers Walter Rathenau kannten die Geschichte und meinten, ihr Opfer sei einer „der 300 Weisen von Zion"; das war 1922. Als die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, wurden die Protokolle offizieller Lehrstoff in den deutschen Schulen, ein Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 13. Oktober 1934 ordnete dies an. Ob echt oder falsch, kümmerte die Antisemiten nicht, diese Frage war ihnen angesichts der propagandistischen Wirkung zweitrangig. Die Argumente und Beweise gegen das Pamphlet waren nämlich längst Bestandteil seiner Verbreitung geworden. Mit den Methoden, die später auch die Leugner von Auschwitz anwenden sollten - paranoide Phantasie und Realitätsverweigerung, wurde die Verschwörungstheorie der Protokolle mit immer neuen „Beweisen" bekräftigt.

Widerlegungen nutzten von Anfang an nichts, ja sie trugen zum öffentlichen Erfolg der Fälschung bei, durch Publizität und die Bekräftigung der Vermutung, „irgend etwas müsse an der Geschichte ja wohl dran sein". In den USA stellte der Automobilfabrikant Henry Ford nicht nur seine Überzeugungen, sondern auch seine finanziellen und publizistischen Möglichkeiten in den Dienst antisemitischer Propaganda und half, die Protokolle zu verbreiten. Der Siegeszug der Protokolle war nicht aufzuhalten, und er vollzog sich auch ideologienübergreifend. Das Konstrukt der jüdischen Weltverschwörung diente schliesslich sogar in der Sowjetunion als Propagandavorwurf, es taugt der arabisch-islamischen Welt als Waffe gegen Israel, die Protokolle werden in Japan gelesen: Sie befriedigen offenbar zeitlose Bedürfnisse nach Welterklärung jenseits von Aufklärung und Vernunft.

Die Protokolle der Weisen von Zion als Konstrukt judenfeindlicher Verschwörungsphantasien sind nach Verbreitung und wohl auch Wirkung heute aktueller denn je. Auf der Suche nach den Protokollen im World Wide Web fanden sich im Herbst 2009 152.000 Erwähnungen in deutscher Sprache. In Englisch sind es 500.000 Treffer. Die Protokolle erscheinen in unterschiedlichen Versionen und werden auf manchen Homepages zum Herunterladen angeboten. Die Internet-Anbieter haben unterschiedliche ideologische Positionen, die vom amerikanischen Neonazi Gary Rex Lauck (NSDAP/A0) über das rechtsextreme Thulenet zum revisionistischen Spektrum, vertreten durch Vrij Historisch Onderzoek reichen und den katholischen Fundamentalismus (holywar.org) ebenso wie islamistische Propaganda (Radio Islam) sowie esoterische und verschwörungstheoretisch interessierte Zirkel (allMystery, The Plexus Network u. a.) einschliessen.

Grosse Wirkung haben die Protokolle in den islamistischen Strategien gegen Israel. Mit zunehmender Intensität werden sie als „Beweis" für eine zionistische Weltverschwörung in den Medien der islamischen Welt zitiert, abgedruckt, interpretiert. Verschwörungstheorien finden günstige Wachstumsbedingungen, seit sich die Gesellschaften des Orients als vom Westen diskriminiert, unterdrückt und gedemütigt verstehen. In der Tradition bis auf die Kreuzzüge zurückgehend, den Kolonialismus und Imperialismus der Europäer im Blick, das Sendungsbewusstsein der USA mit Argwohn als Aggression rezipierend, kristallisieren sich die Gefühle der Ohnmacht und Wut an der Existenz des Staates Israel. Judenfeindschaft als politische Manifestation erfährt in den Verschwörungsphantasien der Protokolle eine geradezu idealtypische Ausprägung.

Die Islamische Widerstandsbewegung Hamas hat in ihr Programm Phantasien über jüdisches Weltherrschaftsstreben aufgenommen, im Fernsehen einiger arabischer Länder (Syrien, Libanon, Ägypten) und des Iran wird Judenfeindschaft, religiös untermauert und über stereotype Einstellungen transportiert, im Kampf gegen die Existenz des Staates Israel eingesetzt. Die Strategie beruht auf zwei Angriffslinien, der Leugnung des Holocaust und der Wiederholung von Verschwörungstheorien. Die Grenzen zwischen Antisemitismus und Israelfeindschaft, Anti-Amerikanismus und einer allgemein gegen den Westen gerichteten Aversion sind fliessend. Interviews mit Gelehrten, Hasspredigten geistlicher Führer, tendenziöse Kompilationsfilme mit dem Anspruch dokumentarischer Authentizität und fiktionale Unterhaltung dienen der Einübung und Festigung der Abneigung gegen „die Juden".

Die Inszenierung der Protokolle der Weisen von Zion als Telenovela im ägyptischen Fernsehen war ein bisheriger Höhepunkt der Indienstnahme der Konspirationsphantasie für ein Massenpublikum. Das ägyptische Fernsehen produzierte die 41 Folgen unter dem Titel Ein Reiter ohne Pferd zum Ramadan 2002. Die Serie wurde in allen arabischen Ländern ausgestrahlt, in der Presse intensiv und überwiegend zustimmend kommentiert. Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak hatte amerikanischen Kongressabgeordneten gegenüber erklärt, die Serie sei nicht antisemitisch und basiere auch nicht auf den Protokollen. Der Augenschein der Fernsehfolgen ergab freilich, dass die Protokolle tatsächlich als Szenario dienten. Die Handlung ist nach Ägypten verlegt und auf die Errichtung des Jüdischen Staates in Palästina fokussiert, der als Schritt zur jüdischen Weltherrschaft begriffen wird.

Es ist leicht, die Protokolle als Konstrukt irrationalen Judenhasses zu entlarven. Das ist im Laufe des Jahrhunderts ihrer Existenz gründlich und oft geschehen. Trotzdem sind sie das zentrale Referenzdokument des Antisemitismus, das durch seine internationale Verbreitung in allen grossen und vielen kleinen Sprachen und in so unterschiedlichen Kulturkreisen wie Europa oder Japan, Amerika oder der arabisch-islamischen Welt als ein wesentliches Verständigungsmittel für Judenfeindschaft aus ganz unterschiedlicher Intention dient.

Wolfgang Benz ist Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung.