Miriam Magall: „Kindheit in Ägypten". Roman.
Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2016
335 Seiten, Broschur. Euro 18.00
ISBN 978-3-86841-111-9
Viel ist in den letzten Jahren in Europa die Rede von Flüchtlingen: aus Ländern, in denen Bürgerkrieg herrscht; aus Ländern, in denen der Islamische Staat Angst und Schrecken verbreitet; aus Afrika, die vor Gewalt und Hunger fliehen. Alle zieht es nach Europa. Eine Gruppe von Flüchtlingen, die praktisch völlig übersehen wird, sind die 850 000 Juden, die um die 1950er Jahre aus allen arabischen Ländern und dem Iran vertrieben werden. Um an diese Flüchtlinge zu erinnern, hat die Knesseth, das israelische Parlament, am 23. Juni 2014 ein Gesetz verabschiedet, das den 30. November als jährlichen landesweiten Gedenktag an diese Vertreibung von Juden aus arabischen Ländern und dem Iran festgelegt.
Um die Vertreibung von Juden aus einem arabischen Land geht es auch im hier vorgestellten Buch: „Kindheit in Ägypten" schildert ihre Geschichte. Seit Jahrhunderten lebt Familie Marzuk in Kairo in Ägypten, zusammen mit mehr als 75.000 anderen Juden, noch im Jahr 1948. Abraham Marzuk besitzt ein Geschäft im Goldmarkt von Kairo; Nonna herrscht über die vielköpfige Familie, insgesamt zwei Söhne und sechs Töchter.
Seit der Gründung des Staates Israel wird die Lage für die Juden in Ägypten zusehends prekärer, wird ihnen ihre Freiheit nach und nach beschnitten. Die Familie Marzuk erkennt frühzeitig, dass sie in diesem Land keine Zukunft mehr hat. Jedes Mitglied der Familie trifft für seine Zukunft eine andere Entscheidung. Josefs Mutter besteht auf Israel.
In Israel lernt Josef, seine eigenen Wünsche auch gegen den Willen der Eltern, vor allem gegen den seiner Mutter durchzusetzen. Ohne ihre Zustimmung heiratet er Tamar, eine Neueinwandererin aus England. Als das erste Kind des jungen Paares geboren wird, es ist kurz vor Pessach, verbringen sie das Fest zum ersten Mal bei Josefs Eltern. Die Eltern erzählen von ihrem Auszug aus Ägypten, die junge Frau erzählt von ihrem eigenen Auszug aus Ägypten. Josefs Mutter stockt der Atem. Das Unglück nimmt seinen Lauf ... Ach ja, Josef hat nie das Erbe seines Großvaters angetreten.
Viel wird der Lesende in diesem Buch über das Leben von Juden in einem arabischen Land und von ihren Traditionen erfahren. Denn wann immer die Familie zusammenkommt, um gemeinsam zu feiern oder zu trauern, erzählt man sich von vergangenen Ereignissen und Erlebnissen. Später berichten sie einander von ihren Erfahrungen als Neueinwanderer in Israel, als zu den rund 650 000 jüdischen Bewohnern des Landes zur Zeit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 und danach nicht nur der Großteil der aus den arabischen Länder und dem Iran Vertriebenen einwandern, sondern auch die Überlebenden der Schoa, die in Lagern in Europa und auf Zypern warten müssen, bis sich die Tore des Landes für sie öffnen. Eine gewaltige Kraftanstrengung für den gerade geborenen Staat, in dem es an allem fehlt, an natürlichen Rohstoffen, an Häusern und an Essen. Aber er schafft es. 70 Jahre später wird man in Israel keine Flüchtlinge aus arabischen Ländern in elenden Lagern mehr antreffen; sie wohnen in festen Häusern, verteilt über das ganze Land, von Metulla im Norden bis Elath im Süden. Es gibt Schulen, Universitäten mit herausragenden Wissenschaftlern, darunter nicht wenige die Nachfahren der aus den arabischen Ländern Vertriebenen, eine produktive Landwirtschaft und viele Museen sowie Konzert- und Theaterhallen.
Eine spannende und höchst informative Lektüre, bei der nicht nur über interessante Menschen und spannende Ereignisse zu erfahren ist, sondern ein Buch der Märchen und Legenden, erzählt von Miriam Magall, die sich in der Tradition der Maggidim, der alten Geschichtenerzähler Osteuropas versteht. Sehr zu empfehlen.