Extreme Lebensläufe stecken immer voller überraschender Kehren und merkwürdiger Ereignisse. Rätselhafte Existenzen auf den Punkt zu bringen, gestaltet sich als schwieriges Unterfangen, erst recht widersetzt sich die Biographie eines Mannes, über den Karl Kraus einmal sagte, dass der grosse Brockhaus, wenn er etwas nicht wüsste, heimlich aufstünde, um im alten Eckstein nachzusehen, einer Vereinnahmung durch Deutung. Friedrich Eckstein, eine intellektuelle Konstante im Wien der Jahrhundertwende, ist dennoch heute weitgehend vergessen. Sein 155. Geburtstag bietet die Gelegenheit, die fast unglaubliche Vita dieses geborenen Perchtoldsdorfers in Erinnerung zu rufen.
Friedrich Eckstein. Ölgemälde von Broncia Koller-Pinell (1863-1934). Abbildung entnommen aus: Auktionskatalog Dorotheum Klassische Moderne, Wien 28.11.2013, Lot. Nr. 1397.
Verweht wie die Erinnerung an Eckstein selbst ist die Tradition der Müllerei im niederösterreichischen Perchtoldsorf. Am Petersbach, dessen Verlauf die Mühlgasse folgt, befanden sich mehrere stattliche Mühlengebäude, darunter die heute noch erhaltene „Tabor"- oder „Widtermühle" auf Mühlgasse 18-20. In Teilen der Anlage befand sich von 1860 bis 1862 eine Fabrik für Pergamentpapier, die von Albert Eckstein, einem begabten, böhmischstämmigen Chemiker und Erfinder betrieben wurde. In dem spätmittelalterlichen Gebäude, das auch zu Wohnzwecken diente, wurde am 17. Februar 1861 der Sohn Friedrich als ältestes von insgesamt zehn Kindern geboren. Über den Freundeskreis seines vielseitig interessierten Vaters lernte der junge Friedrich Persönlichkeiten wie den Erfinder Franz von Uchatius, den Sozialphilosophen, Josef Popper-Lynkeus, den Forstingenieur Wilhelm Exner sowie den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud kennen. Mit diesem war er sein Leben lang in Freundschaft verbunden. Aber auch die intellektuelle Prägung durch die Mutter Amalie, geborene Wehle, darf nicht unterschätzt werden: „Sie war für die damalige Zeit weit über den Durchschnitt gebildet und freisinnig. Bis in ihr hohes Alter bewahrte sie sich eine aufgeschlossene Haltung in allen religiösen Fragen und politischen Problemen", erinnerte sich Marianne Pollak (1891-1963), Journalistin und bis 1934 ebenfalls in Perchtoldsdorf wohnhaft.
Wegbereiter der Wiener Moderne
Von den jüngeren Eckstein-Kindern sollten sich drei weitere in die Geschichte der Wiener Moderne einschreiben. Therese, später Schlesinger (1863-1940), Frauenrechtlerin, Publizistin und sozialdemokratische Politikerin, Emma (1865-1924), ebenfalls eine führende Frauenrechtlerin und als „Irma" eine der ersten Patientinnen und Schülerinnen der Psychoanalyse, sowie Gustav (1875-1916), Journalist, Sozialdemokrat und einer der geistigen Wegbereiter des Austromarxismus.
Das Geburtshaus Friedrich Ecksteins, die im Kern mittelalterliche „Tabor“- oder „Widtermühle“ auf Mühlgasse 18-20. Archiv der Marktgemeinde Perchtoldsdorf.
Der älteste Sohn Friedrich, auf Grund seiner sehr früh auftretenden vielfältigen Begabung kein einfaches Kind, wurde privat erzogen und ausgebildet und pilgerte bereits als Halbwüchsiger zu Fuss nach Bayreuth, um seinem Idol Richard Wagner zu begegnen. Bereits in den 1870er Jahren soll er über Pythagoras und den Neuplatonismus diskutiert haben und Vegetarier gewesen sein. Dieser Ernährungseinstellung verdankte er auch den Kontakt zum nach dem späteren sozialdemokratischen Politiker benannten ‹Pernersdorfer-Kreis›, der in einem vegetarischen Restaurant in Wien tagte und ihm die Bekanntschaft Gustav Mahlers, Hermann Bahrs und des späteren tschechoslowakischen Staatspräsident Thomas Masaryk vermittelte. Mit zwanzig Jahren avancierte er in Nachfolge seines Vaters zum Fabrikdirektor der mittlerweile in Wien-Gaudenzdorf (6. Bezirk) ansässigen Pergamentpapierfabrik und legte den Grundstock zu einer Privatbibliothek, die bei seinem Ableben 16.000 Bände umfassen sollte.
Die durch die Fabrik und durch deren späteren Verkauf gesicherten grossbürgerlichen Verhältnisse ermöglichten es Eckstein, sich ganz seiner Neigung als zunächst im Café Griensteidl, später im Café Imperial residierendes, renaissancehaftes Universalgenie hinzugeben. „Mac Eck", wie er genannt wurde, hatte profunde Kenntnisse in Chemie, Philosophie, Astronomie, Musiktheorie, Judaistik, Sanskrit, höherer Mathematik, Theosophie und beunruhigte damit selbst seine nicht eben an Durchschnittlichkeit leidenden Freunde, wie Marina Tichy schreibt. Zum Freundeskreis gehörten neben dem bereits erwähnten Sigmund Freud, Karl Kraus, Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Victor Adler, in seiner Wiener Zeit Leo Trotzki, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Robert Musil oder Frauenrechtlerinnen wie Marie Lang oder Rosa Mayreder.
Die St.Genois-Villa in Baden, um die Jahrhundertwende Wohnsitz der Familie Eckstein und Schauplatz eines mondänen Salons , in dem Altenberg, Schnitzler, Karl Kraus, Adolf Loos „und überhaupt ganz Wien“ verkehrte. Städtische Sammlungen-Archiv. Rollettmuseum der Stadt Baden.
Universalgenie mit „okkulten" Neigungen
In die 1880er Jahre fällt auch der Höhepunkt von Ecksteins naturwissenschaftlichen und „okkulten" Interessen, wobei sich die naturwissenschaftlichen in Patenten auf dem Gebiet der Papierchemie niederschlugen. Die Ausübung ungewöhnlicher Sportarten fällt ebenfalls in diese Zeit: Eckstein hat körperlich trainiert, um sich aus einem fahrenden D-Zug zu stürzen, den asiatischen Kampfsport Jiu-Jitsu praktiziert und Sigmund Freud berichtet, Eckstein habe ihn in Yoga unterwiesen.
Ein besonderes Verhältnis verband Eckstein als Schüler und späterer Privatsekretär mit Anton Bruckner und mit dem Wahl-Perchtoldsdorfer Hugo Wolf. Eckstein, Mäzen aus Berufung, liess Wolf nicht nur in Wien bei sich wohnen, sondern stellte dem Komponisten die Familienvilla in Unterach am Attersee zur Verfügung. Im Herbst 1888 vertonte er hier Gedichte von Eichendorff und Mörike, im Frühling 1890 Gedichte von Gottfried Keller.
Bürgerliche Existenz gescheitert
Der Versuch, eine Familie zu gründen, sollte kläglich scheitern: 1898 heiratete der mittlerweile vom Judentum zum Protestantismus Übergetretene die Schriftstellerin und Übersetzerin Bertha Diener (1874 - 1948) und übersiedelte nach Baden in das „St.-Genois-Schlössl" in der Helenenstrasse, wo die Familie einen Salon führte, in dem Altenberg, Schnitzler, Karl Kraus, Adolf Loos „und überhaupt ganz Wien" verkehrten. Schnitzler verwendete für sein Drama Das weite Land die Ecksteinvilla in Baden und den 1899 geborenen Sohn Percy als Vorlage. 1904 wurde Eckstein von seiner Frau verlassen, die sich nach ihrer Scheidung im Jahr 1909 unter dem Pseudonym „Sir Galahad" als Journalistin und Schriftstellerin einen Namen machte.
Eckstein schlug seinen Wohnsitz nun wiederum in Wien auf, die Villa am Attersee wurde an den Bankier Wittmann verkauft und später von der Operndiva Maria Jeritza bewohnt. Wohl hatte Eckstein immer wieder Feuilletons für das Neue Wiener Tagblatt und die Neue Freie Presse geschrieben, eine breitere publizistische Tätigkeit entfaltete sich erst ab 1915. Dazu zählen Texte zur Psychoanalyse, musiktheoretische Werke, Übersetzungen von Wiliam Butler Yeats und einige gemeinsam mit René Fülöp-Miller (1891-1963), dessen Bekanntschaft mit Eckstein von Stefan Zweig vermittelt wurde, besorgte Herausgeberschaften zu Tolstoj und Dostojewski. 1936 veröffentlichte Eckstein seine Memoiren unter dem einem Mörike-Vers entnommenen Titel Alte, unnennbare Tage. Der „Anschluss" Österreichs im März 1938 zerstörte wohl das kulturell-intellektuelle Klima Wiens, liess Eckstein jedoch ungeschoren, der am 10. November 1939 in Wien verstarb und auf dem evangelischen Friedhof am Matzleinsdorfer Platz beerdigt wurde.
Diese kurze Skizze vermag nur in Ansätzen die grossen Linien der Biographie Friedrich Ecksteins nachzuziehen. Sein vielseitiges Schaffen, seine unterschiedlichsten Interessen sprengen jegliche Kategorisierung. Ihn als eine der unzähligen intellektuellen Kaffeehaustalente abzutun, ist ebenso einseitig, wie in ihm bloss einen brillanten „Salonlöwen" und „Netzwerker" erblicken zu wollen. Vielleicht sind gerade seine facettenreiche Unangepasstheit und intellektuelle Unbändigkeit, die jegliche Kategorisierung und klare Verortung verunmöglichen, der Grund dafür, dass Friedrich Eckstein heute aus der kollektiven Erinnerung gänzlich verschwunden ist.
Werke (Auswahl)
Comenius und die Böhmischen Brüder. Ausgewählt und eingeleitet von Friedrich Eckstein. Insel-Bücherei 96, (Leipzig 1915);
William Butler Yeats, Erzählungen und Essays. Übertragen und eingeleitet von Friedrich Eckstein (Leipzig 1916);
Gem. mit René Fülöp-Miller (Hrsg.), Tolstojs Flucht und Tod. Geschildert von seiner Tochter Alexandra, (Berlin 1925);
Dies., Die Lebenserinnerungen der Gattin Dostojewskis. (Aus dem russischen Manuskript übersetzt von Dmitri Umanskij, München 1925);
Dies., Die Urgestalt der Brüder Karamasoff. Dostojewskis Quellen, Entwürfe und Fragmente, (München 1928);
Erlebnisse mit Mathematikern und Zauberern, in: Wiener Tagblatt, 06.04. 1935, (Über seinen verstorbenen Freund Oskar Simony);
Das Unbewusste, die Vererbung und das Gedächtnis im Lichte der mathematischen Wissenschaft, In: Almanach des Internationalen Psychoanalytischen Verlages 5 (Wien 1930);
Ältere Theorien des Unbewussten. In: Almanach des Internationalen Psychoanalytischen Verlages 11 (Wien 1936); „Alte, unnennbare Tage", Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren. (Wien 1936).
Unpublizierter Teilnachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien.
Literatur
Max SCHÖNHERR: Wer war Friedrich Eckstein? In: Friedrich ECKSTEIN, Alte, unnennbare Tage", Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren.
[Reprint, Hrsg. Sibylle MULOT-DERI, Wien 1988].
Sibylle MULOT-DERI, Sir Galahad, Porträt einer Verschollenen, (Frankfurt/Main ² 1991).
Marianne POLLAK, Eine Dame wird Sozialistin, in: Die Frau, 13. 4. 1963.
Martina TICHY, Feminismus und Sozialismus um 1900, in: Emil BRIX, Lisa FISCHER (Hrsg.), Die Frauen der Wiener Moderne, (Wien 1997).
Helmut ZANDER, Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884 - 1945, (=Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 2007).
Gregor GATSCHER-RIEDL, Jüdisches Leben in Perchtoldsdorf. Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Auslöschung in der Schoah, (=Schriften des Archivs der Marktgemeinde Perchtoldsdorf, Bd. 4,
Perchtoldsdorf 2008).