Die Vorreiter hiessen Wladimir Kaminer und Lena Gorelnik. Als Kind beziehungsweise Jugendlicher sind sie aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen und berichten einem staunenden Publikum vom Leben hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang. Da ist es kein Wunder, dass auch andere Neuankömmlinge sich dazu ermuntert fühlen, von ihrer Vergangenheit und ihrem neuen Leben im Westen zu berichten. Zwei von ihnen werden hiermit vorgestellt. Der eine erzählt von seiner Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland, der zweite von der Übersiedlung seiner Familie aus dem russischen Minsk ins US-amerikanische New York.
Auf der Suche der abgestreiften Heimat
Beginnen wir mit dem Bericht von Filipp Piatov: Russland Meschugge. Putin, meine Familie und andere Aussenseiter. 1 Er selbst hat zwar keine eigenen Erinnerungen an seine Geburtsstadt Sankt Petersburg, aber er wächst in Deutschland dennoch in einer von der deutschen Umwelt abgeschirmten Umgebung auf: der der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Denn gleich nach dem Fall der Sowjetunion sind Filipp Piatovs Eltern nach Deutschland eingewandert, von der grossen Stadt in eine beschauliche Kleinstadt in Baden-Württemberg. Filipp ist damals ein Jahr alt.
Der Anfang ist für die Eltern nicht leicht. Der Vater, ein Ingenieur, arbeitet auf dem Bau, in seiner Freizeit fährt er durchs Land und reinigt die Matratzen von Hotels. Filipp darf ihm dabei helfen. Dennoch, der Aufstieg kommt, wenn auch langsam. Die Familie hat Glück, unter anderem auch, weil Filipps Grosseltern mitgekommen sind, sodass er in einer intakten Familie aufwächst. Man richtet sich ein, wenngleich einige liebe Gewohnheiten aus Sowjetzeiten hartnäckig bleiben. Das gilt vor allem für Opa und Oma, der eine Überlebender der deutschen Blockade in Stalingrad, die Oma Partisanin. Zentraler Punkt im Leben der gesamten Familie ist und bleibt das Essen, was nicht unbedingt etwas über seine Qualität aussagt, sondern seine Bedeutung der Tatsache verdankt, dass es zur Zeit der Blockade praktisch nichts zu essen gab - ein Zustand, der auch im späteren Leben der Familie eine Rolle spielt, denn lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften sollen sie noch lange Zeit begleiten. Die Schilderungen von diesem Leben rühren. Man spürt förmlich die Kälte, den Hunger und die Angst. Eigentlich erzählt Filipp jedoch von seiner Reise zusammen mit seiner Freundin Sara an den Baikal-See, per Anhalter und mit der Transsibirischen Eisenbahn. Die Widrigkeiten, ja, die Gefahren seines Unterfangens kommen mit einem understatement daher, dass man als LeserIn immer wieder leise vor sich hinlacht, wenngleich die beiden Reisenden durchaus in brenzlige Situationen geraten. Zum Glück spricht Filipp fliessend Russisch und damit entschärft er so manches. Wer per Anhalter reist, kauft sich natürlich auch keine Erste-Klasse-Fahrkarte für die Transsibirische Eisenbahn, sondern fährt in der dritten Klasse. Dank der Begegnungen unserer Reisenden mit den Mitreisenden, die mehr als einmal zu einem Gelage ausarten - denn was tut man sonst auf einer so langen Zugfahrt? - , erfährt man viel über die russische Gesellschaft. Endlich ist der Baikal-See erreicht. Filipp und Sara finden Unterschlupf bei einem Popen, der auf einer Insel eine kleine Kirche errichtet hat und sich um das Seelenheil seiner Nachbarn kümmert. Ein paar Tage lassen sie die Seele baumeln. Dann geht es wieder zurück nach Deutschland, diesmal wesentlich schneller, mit dem Flugzeug nämlich. Einige von Filipps Eindrücken aus den Anfängen seines Lebens in Deutschland kann ich gut nachempfinden, denn auch ich bin mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen und sprach kein Wort Deutsch. „Polackin" und heftige Knüffe auch ins Gesicht, sodass immer schnell Blut aus der Nase floss, waren mehr als einmal zu hören und zu spüren. Und dass man eher unter sich lebt, nicht erst jetzt als sogenannter russischer „Kontingentflüchtling", sondern auch als Flüchtling vor über 60 Jahren, das ist durchaus normal. Doch ich kann Filipp Piatov versichern, dass sein Neubeginn in seiner neuen Heimat ungleich angenehmer war als mein eigener vor über 60 Jahren. Heute darf man an seine Herkunft erinnern, was früher total verpönt war. Der Autor wird seinen Weg machen. Er ist schon unterwegs dahin. Es sei ihm gewünscht!
Neues Leben in Brooklyn: Ein bisschen Schummeln gehört dazu
Der nächste junge Mann, der vom Leben seiner Familie in einer neuen Welt berichtet, ist Boris Fishman. Er ist neun Jahre alt, als er mit Eltern und Grosseltern nicht wie Filipp Piatov in Deutschland, sondern in New York eintrifft. Seine Geschichte Der Biograf von Brooklyn 2 beginnt mit dem Tod der geliebten Grossmutter Sofia. Einer Bluttransfusion mit infiziertem Blut nach einem Verkehrsunfall verdankt sie ihre Leberzirrhose, mehrere Leidensjahre und ihren Tod. In Rückblenden ist von Krieg, Ghetto und Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Minsk durch die Deutschen zu erfahren - Auslöser für das Handeln von Slava Gelman, dem jungen Helden, und seinem Grossvater Yevgeny. Denn just als Grossmutter Sofia stirbt, trifft ein Brief der Claims Conference ein, die um Schilderung des Lebens im Ghetto bittet, zwecks Zahlung einer möglichen Rente aus Deutschland. Der Grossvater sieht sich ausserstande, diese Umstände zu schildern. Also ruft er Enkel Slava zu Hilfe. Schliesslich betrachtet dieser sich als angehender Schriftsteller und arbeitet bei der Century, einer Zeitschrift, die dem berühmten New Yorker nur um wenige Grade nachsteht. Slava ziert sich anfangs, wird dann jedoch von dieser Aufgabe dermassen gefangen, dass er nicht nur einen Bericht über Grossmutters Geschichte für einen Antrag auf Entschädigung bei der Claims Conference schreibt, sondern auch noch die seines Grossvaters - sowie die von weiteren 22 russisch-jüdischen Antragstellern. Um die gleiche Zeit, vom 17. Juli 2006 bis zum 31. August 2006, hat Slava eine heftige Affäre mit seiner jungen, attraktiven Kollegin Arianna Bock. Aber da ist auch noch die auf ihre Art ebenfalls attraktive Vera Rudinsky, die Slava seit der Ausreise der Familien Rudinsky und Gelman aus Minsk kennt. Schilderungen von üppigen russischen Banketten wechseln sich ab mit der Beschreibung des Lebenskünstlers, der Slavas Grossvater ist. Rechtzeitig flieht Yevgeny nach Usbekistan, statt in die Armee zu gehen. Als er nach dem Krieg heimkehrt, gewinnt er das Herz von Sofia, einer ehemaligen Partisanin, heiratet sie, verdient den Lebensunterhalt für die Familie auf eher hintergründigen Wegen und verlässt Minsk und die Sowjetunion, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu bietet. In New York lebt er offiziell als Rentner, versteht es aber, den Lebensunterhalt der Familie dank einträglicher Handelsgeschäfte zu verbessern. Dazu gehören auch Slavas Berichte für die Claims Conference. Er wird verraten. Von wem, sei hier nicht verraten, ebenso wenig die Auswirkungen des Verrats, ausser einer: Slavas Beziehung zu Arianna zerbricht daran, die zu Vera ist irgendwie im Sand verlaufen. Es ist bedauerlich, dass eine Reihe sprachlicher Patzer des Übersetzers leider auch den Redakteuren entgangen ist. Es kommt wohl nur selten vor, dass jemand so laut spricht, dass es „durch das Zimmer hallt", womit das Schlafzimmer gemeint ist. So gross dürfte es eigentlich nicht sein. Was soll das heissen: „... wie sehr er sich von seinem gewohnten Ablauf entfernt hatte." Zum Glück für den Übersetzer kommt im Roman kaum Jüdisches vor, denn sonst hätte er seine Probleme damit gehabt. Es heisst: „zu Pessach", „zu Rosch ha-Schana" (S. 203) und „zur Briss" (Se. 219) und nicht, wie der Übersetzer meint, „zum".Das wird den meisten LeserInnen jedoch kaum auffallen - so wie es auch dem Übersetzer nicht aufgefallen ist.
In beiden Fällen haben wir es mit einer kurzweiligen, unterhaltsamen Lektüre zu tun, die allen, die weder selbst aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, noch viel mit zugewanderten Juden aus Russland zu tun haben, viel neues Wissen über Land und Leute vermittelt.
1 Filipp Piatov: „Russland Meschugge. Putin, meine Familie und andere Aussenseiter" , München: dtv Verlagsgesellschaft 2015.
199 Seiten, broschiert. Euro 14,90; ISBN 978-3-423-26099-2
2 Boris Fishman: Der Biograf von Brooklyn. Roman. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader. München: Karl Blessing Verlag 2015. 384 Seiten, gebunden. Euro 19,99; ISBN 978-3-89667-551-4