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Der kleine Mausche aus Dessau

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Katja Behrens: Der kleine Mausche aus Dessau. Moses Mendelssohns Reise nach Berlin im Jahre 1743.

München: Hanser Verlag 2009.

208 Seiten, Euro 15,40.-

ISBN 978-3-446-23305-8

„Wahrheit erkennen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun." Diese Stammbucheintragung hat  Moses Mendelssohn spätestens ab 1781 wiederholt verwendet. Hat die erste Reise diese Haltung mitbegründet? Wo die Geschichte schweigt, blüht die Phantasie. Fest steht lediglich, dass „Mausche mi Dessau", der Sohn des Schreibers der jüdischen Gemeinde Dessau, Mendel  (C)haymann, sich im Herbst des Jahres 1743 von Dessau in das 150 Kilometer entfernte Berlin begeben hatte, um seinem verehrten Lehrer David Fränkel, der nach Berlin berufen worden war, zu folgen. Wir wissen nicht, ob Mausche damals 14 oder 15 Jahre alt war, da sein Geburtsjahr unklar ist. Es ist auch keine Äusserung Mendelssohns über seine erste Reise bekannt, ausser, dass er die Wächter am Berliner Stadttor mit der Angabe des Anlasses seines Aufenthaltes - „um zu Studieren" - so verblüffte, sodass sie ihn ohne die sonst üblichen Schikanen passieren liessen. Dass die Reise gefährlich gewesen sein muss, da die Gesamterscheinung Mausches wenig respekteinflössend war - bucklige Haltung, hinkend, unter Stress heftig stotternd - darf angenommen werden.

Dies ist der „Stoff", dessen sich das Jugendbuch der vielfach ausgezeichneten Autorin bedient. Wir - respektive Mausche - begegnen jenen Typen, die zur damaligen Zeit das flache Land bevölkerten - reisende Juden mieden Siedlungen aus Sicherheitsgründen.  Mausche begegnet Menschen, die antisemitische Stereotype repräsentieren, aber auch beeindruckend eigenständigen Figuren: einem katholischen Theologiestudenten, der nicht verstehen will, warum es überhaupt einen christlichen Antisemitismus gibt und der Mausche mit seinen Hebräischkenntnissen beeindruckt, das Zigeunerpaar, das sich rührend um den fusskranken Mausche kümmert und ihn ein Stück des Weges mitnimmt. Erstaunt registrieren der Angehörige des Volkes der Schrift und jene der Ethnie ohne Schrift (die jedoch einige Wörter der damaligen Umgangssprache aller Unsteten teilen)  die identen traurigen Erfahrungen: Juden muss man geliehenes Geld nicht zurückerstatten, Zigeunern muss man erbrachte Dienstleistungen  - im gegenständlichen Fall das Messerschleifen - nicht bezahlen. Doch der gute Geist Mausches sind nicht etwa Juden, die dem jungen Wanderer  fallweise Quartier geben und diese religiöse Pflicht eher unwillig erfüllen, sondern der junge hessische Hufschmiedgeselle Hannes, den Mausche mehrfach wiedertrifft. Hannes - aufgrund eines Pferdetritts hinkend wie Mausche - verteidigt den jungen Juden gegen allgegenwärtige Bedrohungen. Hannes scheint einem unbeirrbaren fundamentalen Gerechtigkeitsinstinkt zu folgen - 200 Jahre später hätte sich vermutlich gleich verhalten und es mit dem Leben bezahlt - er wäre heute ein Gerechter unter den Völkern.

Bis hierher liest sich das Buch flüssig, spart nicht mit berührender, nachdenklich stimmender Diktion. Die jiddischen Originalzitate, das hochinformative Glossar, die einfühlsame Schilderung menschlicher Interaktionen sind geeignet, Interesse für das und Liebe zum Judentum zu wecken. Das 21 Seiten umfassende Nachwort bringt wichtige Fakten zu Biografie und Bedeutung von Moses Mendelsssohn - es wäre als Vorwort möglicherweise zweckmässiger positioniert. Ein kursorischer Kurzlehrgang über die Quadratschrift im Anhang hätte sicher begeisterte Nutzer gefunden.

 Doch dann folgt die Schilderung einer Tortur, die jenseits dessen ist, was man Jugendlichen zumuten sollte. Die Praxis, einen bekehrungsunwilligen Juden an den Füssen und - in Analogie zu  Jesus Christus und dem rechten und dem linken Schächer - rechts und links Hunde am Galgen aufzuhängen, die den Delinquenten innerhalb mehrerer Tage zu Tode beissen, ist an Grausigkeit nicht zu überbieten.  Da mir diese Variante christlicher Judenquälerei völlig unbekannt war, verdächtigte ich zunächst die Autorin der literarischen Übersteigerung. Eine Nachfrage bei acht der renommiertesten (grösstenteils universitären)  Kompetenzzentren für Judaistik in Österreich und Deutschland brachte sieben negative Antworten, lediglich dem Zentrum für Jüdische Studien in Heidelberg ist diese Bestialität aus mehreren Quellen bekannt.

Das letzte Kapitel schildert das Treiben einer jüdischen Räuberbande, die Mausche und Hannes überfällt und gefangen nimmt. Die Existenz dieser kriminellen Gruppierungen ist historisch belegt. Meist waren es  extreme Armut und Hunger, die auf diesen Weg des Überlebens zwangen. Umso befremdlicher ist es, dass der bisherige Stil nun kippt: gerade ab diesem tieftraurigen Kapitel - immerhin gab es beim kurz zuvor verübten Überfall zwei Todesopfer, deren Ehefrauen dann entführt wurden - dominiert ein völlig unpassender quasi-humoristischer Plauderstil, der sich nicht entblödet, auf peinliche Weise  die Probleme der beiden Frauen bei Stoffwechselverrichtungen in freier Natur zu schildern.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autorin ab der Galgenepisode die Freude an ihrem Werk verloren hat, und jemand völlig anderer das Buch vollendet hat. Und so dominiert beim Leser letztendlich Verärgerung. Dennoch: Nüchtern betrachtet ist es ein lesenwertes Buch über eine kurze, vermutlich aber prägende Lebensphase einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts - es lässt einen alles eher als kalt und beschäftigt - zumindest mich - sehr nachhaltig. Vielleicht sollte man das Buch wie ein jüdisches lesen - von hinten nach vorne.