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Mögliche Auswirkungen der Ereignisse um die Gaza-Flotte auf den Nahost-Friedensprozess

Gustav C. GRESSEL

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Die Isolation des Gaza-Streifens wird seit dem Sieg der Hamas 2006 sowie der darauffolgenden Ausschaltung der Fatah im Gaza-Streifen - der Ermordung etwa 2.500 Oppositioneller in einer mehrwöchigen Säuberungskampagne durch die Hamas im Mai 2007 - durch Israel und Ägypten betrieben und überwacht. Entgegen populärer Darstellungen ist die „Blockade" keine hermetische Abschnürung des Gazastreifens, sondern beinhaltet in erster Linie folgende Massnahmen:

a) Keine Einreise- und Arbeitserlaubnis für Gaza-Palästinenser nach Israel oder Ägypten

b) Eingeschränkte personelle Bewegungsfreiheit aus und in den Gazastreifen

c) Strenge Kontrolle und Einschränkungen des Warenverkehrs, Unterbindung der Lieferung von Dual-Use-Gütern, die der Herstellung von Waffen oder Bomben dienen können

Nahrung, Medikamente und ähnliche Güter dürfen nach erfolgter Kontrolle nach wie vor in den Gaza-Streifen eingeführt werden. Auch versorgt Israel den Gaza-Streifen nach wie vor mit Strom, Trinkwasser und Gas. Die Abschaltung der Strom- und Gaszufuhr wurde von Israel als Reaktion auf Raketenbeschuss bis 2008 praktiziert, jedoch nach scharfen internationalen Protesten eingestellt.

Ökonomisch schwer getroffen haben die Palästinenser der erste sowie der letzte Punkt. Ein Grossteil der palästinensischen Bevölkerung verdiente seinen Lebensunterhalt als Gastarbeiter in Israel und Ägypten. Diese wichtige Devisenquelle fällt weg und schwächt vor allem die Kaufkraft der Durchschnittsbevölkerung. Die Hamas lukriert aus internationalen Spenden nach wie vor genug Geld, um ihre Infrastruktur zu erhalten. Auf die Nahrungsmittelproduktion negativ ausgewirkt hat sich das Importverbot von Kunstdünger. Moderner Kunstdünger basiert auf Ammoniumnitrat, welches sich durch Auflösen in Wasser und anschliessendes Auskochen problemlos aus dem Kunstdünger gewinnen lässt. Ammoniumnitrat wiederum ist ein wirkungsvoller Sprengstoff, der unter anderem den Kassam-Raketen als Treibstoff dient (Abwasserrohre werden als Körper benutzt, die Düsen aus Schnellbeton angefertigt). Daher ist die Bevölkerung des Gaza-Streifens auf Nahrungsmittelimport angewiesen - wobei aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte eine Autarkie am Lebensmittelsektor ohnehin nicht zu erreichen wäre. Aufgrund der schlechten Devisenlage ist dieser Import, gemessen an den Lebensverdienstumständen, besonders teuer.

Bemühungen, die Blockade zu unterlaufen, richteten sich zunächst gegen Ägypten. Palästinenser versuchten, meist erfolgreich, durch Tunnelgrabungen die ägyptischen Grenzwachen zu unterlaufen. Die Tunnelökonomie (Finanzierung einer Tunnelgrabung und dann Erhebung von Benützungsgebühren und Warenabgaben) war ein wichtiger Wirtschaftszweig der Hamas. Ägypten konnte jedoch mit amerikanischer Hilfe eine wirkungsvolle Grenzbefestigung errichten, durch die seismografische Ortung der Tunnels wurde diese Umgehungsart zunehmend erschwert.

Im Januar 2008 versuchte die Hamas, Grenzübergänge zu Ägypten zu stürmen und zu besetzen. Diese Vorgänge führten zu einer Neuregelung der Abwicklung von Grenzkontrolle und Warenverkehr, sodass zumindest Warenlieferungen schneller in die Autonomiegebiete gelangen konnten.

Der Abriegelung der Seegrenze wurde bis zum Gaza-Feldzug der Israel Defence Forces zu Jahreswechsel 2008/09 wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies geschah vor allem deshalb, da der Gaza-Streifen weder über eine Handelsmarine noch über einen leistungsfähigen Hafen verfügte. Erst als arabische Privatleute die Ankunft ihrer Jachten in Gaza als propagandistischen Sieg über Israel zu feiern begannen, und im Zuge der Winteroffensive das Ausmass des über See verbrachten Schmuggelgutes ersichtlich wurde, wurden die See-Kontrollen stärker und dichter.

Dass die israelische Marine dabei nicht an israelische Hoheitsgewässer gebunden ist, auch neutrale Schiffe durchsuchen und gegebenenfalls beschlagnahmen darf, ist Teil des in der Londoner Seekriegsordnung festgelegten Prisenrechts. Schiffe dürfen durch eine „boarding party" (Prisenkommando) betreten und auf Bannware durchsucht werden. Interessant ist auch, dass sich Bannware nicht nur auf Kriegsmaterial im engeren Sinn (Waffen und Munition) beschränkt, sondern auch auf all jene Güter, die den Kriegsanstrengungen („war effort") im weiteren Sinne dienen. Es obliegt dem Prisenkommando, die Ware zu konfiszieren. In dieser Hinsicht war das Eingreifen der Israelis nicht nur legitim, sondern auch legal.

Europäische Völkerrechtler stehen dieser Auslegung deshalb kritisch gegenüber, da sie den Konflikt zwischen Hamas und Israel nicht als Krieg anerkennen und daher die israelischen Streitkräfte nicht mit dem Massstab des Kriegsrechtes, sondern der sicherheitspolizeilichen Assistenzleistungen beurteilen. Dass es keine offizielle Kriegserklärung gibt, ist in Hinblick auf den nichtstaatlichen Rechts-Charakter der Hamas eine sehr fadenscheinige Ausrede - die europäische Kritik erweckt vielmehr den Anschein, Israel selektiv nach anderen Massstäben zu messen als etwa westliche Streitkräfte an anderen Kriegsschauplätzen. Auf einem anderen Blatt steht, dass man damit in der ohnehin antiisraelisch eingestellten Weltöffentlichkeit weiteren Imageschaden verursacht und die gegen Israel gerichtete Hasspresse wieder einen Erörterungsgegenstand hat. Daran wird auch die nun eingesetzte Untersuchungskommission nichts ändern.

Das Attackieren des Prisenkommandos2 mit Messern und erbeuteten Schusswaffen (die Aktivisten griffen zu den Pistolen von zu Boden geschleuderten Soldaten), wie das Überbordwerfen der Soldaten - also ein willentlicher, tätlicher Angriff auf Soldaten - ist auf jeden Fall ein illegaler Angriff. Der Schusswaffengebrauch wäre in solch einem Fall von vermutlich jeder Polizei der Welt als gerechtfertigt angesehen worden. Vor allem angesichts der bekannten, durchaus harten Zugriffsmethoden der türkischen Polizei ist die Kritik Ankaras unverständlich. Angezweifelt werden darf, dass es der israelischen Marine gelungen wäre, die Schiffe ohne ein direktes Entern zu stoppen. Hier trägt auch das Seerecht den geänderten Grössenverhältnissen der Schiffe kaum Rechnung: Waren Kriegsschiffe in der Vergangenheit meist grösser, stärker, beeindruckender (man sollte den Faktor subjektiv empfundener Stärke nicht unterschätzen) und wirkmächtiger als Zivilschiffe, so sind heutige Kriegsschiffe - und insbesondere die israelischen Korvetten, Schnell- und Patrouillenboote - um ein Vielfaches kleiner und leistungsschwächer als die Handelsschiffe, die sie stoppen sollen.

Dass nun Bewegung in den Friedensprozess kommen könnte, ist äusserst unwahrscheinlich. Denn schlussendlich geht die Hamas nicht von ihrer „Nicht-Annerkennungs-Politik" ab, was seitens Israels wie auch des Westens aber als Grundvorrausetzung für Verhandlungen gesehen wird. Es wird sich also bei zukünftigen Verhandlungsschritten vermutlich nicht um substanzielle Verhandlungen drehen, vielmehr stehen Art und Umfang der Blockade zur Diskussion. Die Lieferung humanitärer Güter ist auch unter den gegenwärtigen Bedingungen möglich, wiewohl die administrative Abwicklung verbessert werden könnte.

Ägypten jedenfalls öffnete den Grenzübergang Rafah. Die Gespräche mit der Arabischen Liga dauern an. Jedoch haben sich sowohl die Fatah (Mahmoud Abbas) als auch Ägypten gegen eine Öffnung der Seeblockade zu gegenwärtigen Bedingungen ausgesprochen1, da dies seitens der Hamas als gewaltsam erkaufter Sieg interpretiert werden und die weiteren Verhandlungen verkomplizieren könnte.

Für die Arabische Liga ist es wichtig, eine Lockerung der Blockade an die Möglichkeit der Wiedererrichtung einer nicht-proiranischen politischen Vertretung zu knüpfen. Diese Konkurrenz zur Hamas soll dann auch der politisch-wirtschaftliche Ansprechpartner der Arabischen Staaten, insbesondere Ägyptens, werden. Inwieweit diese dann aber auch an politische Macht kommt, ist heute nicht absehbar und muss angesichts des bisherigen Erfolges der Hamas, ihr innenpolitisches Machtmonopol zu verteidigen, bezweifelt werden.

Was Israel angeht, so ist kaum Bewegungsfreiraum gegeben. Die Gütereinfuhr nach Gaza muss auch in Zukunft überwacht und die Einfuhr von waffenfähigem Material unterbunden werden. Auch ist aus Sicherheitsgründen die Lockerung der Einreise- und Arbeitsverbote der Bevölkerung aus dem Gaza-Streifen nicht möglich. In den aktuellen Gesprächen wird es deshalb eher darum gehen, die administrativen Hürden der Lieferung humanitärer Güter abzubauen und die Zahl der abfertigbaren Lastwagen zu erhöhen.

Fest steht, dass sich die Fatah, Ägypten und die USA auf eine Fortsetzung der Überwachung des Seeverkehrs geeinigt haben. Dabei wäre eine internationale Überwachung der Seegrenze - etwa durch eine UN-Flotte - prinzipiell denkbar. Allerdings müsste das Prozedere der Überwachung weit rigider gefasst sein als etwa bei der maritimen Komponente der UNIFIL. Solche Überlegungen sind bislang rein spekulativer Natur.

1   http://www.haaretz.com/print-edition/news/abbas-to-obama-i-m-against-lifting-the-gaza-naval-blockade-1.295771;

2 Die Prise ist ein erbeutetes feindliches oder in Beschlag genommenes neutrales Handelsschiff, dass durch eine Kriegspartei beschlagnahmt wurde. Das Prisenkommando ist die Abteilung von Marinesoldaten unter Leitung zumindest eines Fähnrichs (Offiziers), dass die Prise in Beschlag nimmt und sie in einen eigenen oder neutralen Hafen begleitet. Das Prisenkommando übernimmt in diesem Fall das Kommando über das Boot, auch die "einheimischen" Seeleute sind dem Prisenkommando zu Gehorsam verpflichtet.