Ausgabe

Halpern & Fellmann

Ilan FELLMANN

Content

Teil 1: Die Jahre von 1933 - 1939


Zugegeben, die Literatur zur Shoah und der Flucht hundertausender Juden aus Mitteleuropa ist in mehr als ausreichend vielen Büchern behandelt worden. Als mir meine Tochter zu meinem letzen Geburtstag das Buch von Amelie Fried Schuhhaus Pallas schenkte, das die Geschichte ihres jüdischen (aber getauften) Vaters im Deutschen Reich beschreibt, wusste ich spontan - ich werde die Literatur um die Variante Halpern & Fellmann bereichern. „Wer soll das lesen?" fragte meine fünfundachtzigjährige Mutter, und ich darauf: „Mama, mach dir keine Sorgen, es wird sehr spannend." Ich kann auch erklären, warum. Es gibt kaum Bücher, welche die Zeitgeschichte in ihren Betrachtungsrahmen einbeziehen. Ich habe mich mit der Geschichte der Ersten Republik, der Weimarer Republik und auch Palästinas von 1930-1948 beschäftigt und versuche kurz gerafft diese vor den Augen des Lesers ablaufen zu lassen. In diese zeithistorischen Darstellungen stelle ich meine Verwandten, gleichsam als handelnde Figuren, hinein, wodurch - hoffentlich - ein plastisches Bild über diese grausame Zeit und die Menschen, die in ihr lebten, leben mussten, entsteht. Mittendrin meine Grosseltern: Max (geb. 1883 in Zurawno/Westukraine, gest. 1965 in Haifa) und Adele Fellmann (geb. 1896 in Wien, gest. 1969 in Haifa) und Michael (geb. 1889 in Pawczow bei Tschernowitz, gest. 1950 in Wien) und Dora Halpern (geb. 1896 in Wien, gest. 1984 in Wien), sowie meine Eltern: Fritz Shlomo Fellmann (1918 in Wien, gest. 1991 in Haifa) und Trude (1925 in Baden bei Wien,
lebt in Wien). Eine ganz normale Geschichte!? Ja und nein, beurteilen Sie selbst.


Mein Grossvater Max erkannte bereits 1933 (Hitler war am 30.1.1933 in Berlin an die Macht gekommen), dass für Juden kein weiteres Leben in Österreich mehr möglich sei. Er hatte Migrationserfahrung, denn er war bereits 1897 als 14-Jähriger alleine vom Schtetl in Zurawno (heute Zhuravno, Ukraine), etwa 150 km südlich von Lemberg, nach Wien aufgebrochen, um hier sein Glück zu versuchen. Er kam buchstäblich nur mit dem, was er am Körper trug. Schwere Jahre folgten, zuerst als Chapper (Verkaufsgehilfe) in einem Kleidergeschäft, später als Angestellter und Handlungsreisender und  etwa ab 1910 als selbständiger Textilkaufmann am Südtirolerplatz im 10. Wiener Gemeindebezirk. Er hatte Glück - sein Geschäftsprinzip erwies sich als höchst erfolgreich. Schon zu seiner Hochzeit mit Adele Harmel, Tochter des Leviten Moses Aaron Harmel, trug er Frack und Zylinder, ein elegantes Frackhemd und weisse Lederhandschuhe, meine Oma ein elegantes weisses Seidenkleid und schöne weisse Pumps. Das Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1915 wurde mir freundlicherweise von meiner Cousine (zweiten Grades) Hilda Rubin Pierce aus San Diego zugesandt.

Hilda Pierce, geborene Harmel, wuchs gemeinsam mit meinem Vater und einem dritten Cousin, Benno Bordiga, im Weyringerhof in der Weyringergasse im 4. Wiener Gemeindebezirk auf. Hilda flüchtete 1939 via London in die USA und wurde in Chicago eine berühmte Malerin, Benno kam über den Umweg Bristol 1940 nach New York City und wurde ein erfolgreicher Fabrikant von Autoteilen, aber auch Gemäldesammler, etwa von Henry Toulouse-Lautrec, aber auch von Schiele, Klimt, Lionel Feininger  und anderen Künstlern. Seine von ihm gegründete Firma Allomatic Industries verkaufte er erst am Ende des 20. Jahrhunderts.

Max jedoch, kein Zionist der ersten Stunde, wollte unbedingt nach Palästina - nach Haifa, eine Stadt die bekanntlich auch Theodor Herzl sehr gut gefiel und in der er begraben werden wollte. Gesagt, getan. Schon Ende 1933 reiste er nach Haifa, kaufte sich einen Baugrund am Carmel und baute sein Haus. Mehr als acht Monate stand er, 51-jährig, auf der Baustelle und
überwachte jeden Sack Zement, jeden Handgriff. Es nutzte aber nichts: Er hatte den Grund teuer von einem Araber gekauft, und auch beim Bau wurde er benachteiligt. Egal, am Ende stand ein schönes Apartmenthaus mit Blick auf die Bucht von Haifa. Die schönste Wohnung, drei Zimmer und zwei Balkons, bewohnte der Balabuss, die restlichen Wohnungen wurden vermietet. Max holte im Juli 1934 seine Frau Adele und seinen Sohn Fritz, der eben die
fünfte Klasse des Rainer-Gymnasiums abgeschlossen hatte, nach Haifa. Beide kamen eher ungern, denn sie liebten die Wiener Musik, Oper und Burgtheater - Wüste und Hitze waren ihre Sache nicht.

Meine mütterlichen Grosseltern dachten lange Zeit, wie viele Zeitgenossen, es werde nichts so heiss gegessen, wie gekocht, und man werde den Austrofaschismus mit Dollfuss und danach Schuschnigg und vor allem „den Hitler im Deutschen Reich" auch überleben, eine trügerische Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte. Hitler war den Eltern meiner Grossmutter oder anderen Verwandten in seiner Wiener Zeit über den Weg gelaufen, als er (zumeist ohne Erfolg) versuchte, Bilder an wohlhabende Juden zu verkaufen. Er dürfte damals seine rassistischen Bedenken zur Seite geschoben haben, beziehungsweise beherrschte ihn wohl schon damals der reine Utilitarismus. Michael Halpern wollte also in Wien bleiben. Vielleicht trug auch seine finanzielle Lage zu dieser Entscheidung bei, er war in der Weltwirtschaftskrise in wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen, musste zwei Häuser und eine prachtvolle Villa in Perchtoldsdorf,  die er Anfang der Zwanziger Jahre von der Schauspielerin Gisela Werbezirk erworben hatte, verkaufen. Die Geschäfte, Herren- und Damenmoden, gingen schleppend, er war sogar einmal gezwungen, in den Ausgleich zu gehen, zahlte aber alle seine Schulden zurück. Ein Ehrenmann.

Der Anschluss Österreichs am 12. März 1938 erwischte ihn, wie seine Zeitgenossen, auf dem falschen Fuss. Noch am 11. März 1938, dem letzten Tag vor dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, flüchtete Michael Halpern mit seinem zweitgeborenen Sohn mit der Ostbahn nach Pressburg und etwas später weiter nach Italien. Was er dort machte, und warum er dorthin fuhr, ist mir nicht bekannt. Möglicherweise besuchte er seinen Bruder Adolf Mayer in Mailand. Michaels  älterer Sohn Ernst/Aron war wegen seiner Freundin Susi Steinbock, seiner grossen Liebe, nicht bereit, Wien zu verlassen. Die Tochter Trude wurde nicht mitgenommen, da man sie für nicht so gefährdet hielt. Sechs Wochen später kehrte Michael mit seinem jüngeren Sohn nach Wien zurück, da beide dachten, die Nazis würden nicht so scharf schiessen, wie sie ankündigten.


Bereits am Südbahnhof, es wimmelte nur so vor SA und Polizei, musste er seinen Irrtum erkennen. Ein ehemaliger Kunde, nun SA-Mann, erkannte Michael Halpern am Perron und herrschte ihn an -  „San‘ S wahnsinnig, Herr Halpern, was machen‘s da? Schaun‘ S, dass‘ S verschwinden, wenn sie aner siecht, san‘ S geliefert." Michael machte, dass er mit seinem Sohn heimkam. Der Weg war nicht weit. Vom Ostbahnhof zur Favoritenstrasse waren es zu Fuss nur etwa zehn Minuten, mit dem Autobus genau drei kurze Stationen. Dora erwartete ihn und war froh, Mann und Sohn wieder zu Hause zu haben. Kurz darauf erfuhr Michael von eben diesem SA-Mann in der Favoritenstrasse, dass die Bahnhöfe streng bewacht würden.

Wohlhabende oder missliebige Juden wurden aufgegriffen und nicht selten nach Dachau
verschickt. Der SA-Mann hatte durch sein Schweigen Michael vorerst vor dem Schlimmsten bewahrt. Niemand konnte sich ausmalen, was noch folgen sollte. Ein Handelsvertreter, der im Haus wohnte und beruflich für eine deutsche Stahlfirma arbeitete, ein gewisser Herr Zwirn, wurde von der Gestapo abgeholt und erst nach einigen Tagen freigelassen. Meine Oma sah
noch, wie er sich, sichtlich mitgenommen, die Stiegen in seine Wohnung hinauf schleppte. Trotz der Versuche des im Haus lebenden Arztes Dr. Ullmann, ihn zu retten, verstarb er kurz danach an seinen erlittenen Misshandlungen.

Es sollte sich zeigen, dass die Zeiten für Juden immer schlechter wurden. Spätestens nach der Reichskristallnacht am 9./10.11.1938, die in Wien besonders grausam war, war klar: wir müssen hier weg und zwar schnell! Moment! Die Bezeichnung „Reichskristallnacht", die von den Nazis spöttisch verwendet wurde, ist inkorrekt: Es müsste Novemberpogrom 1938
heissen. Dieser wurde von der Führung des Deutschen Reiches angeordnet und war keinesfalls spontan, wie von der Propaganda behauptet worden ist. Zuvor hatte es zahlreiche Massnahmen gegen Juden gegeben, die im Abriss jüdischer Synagogen im Juni 1938 in München und Nürnberg, im September 1938 in Dortmund gipfelten. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden im Deutschen Reich vierhundert Menschen ermordet, 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige jüdische Versammlungsräume vernichtet sowie tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und auch Friedhöfe zerstört beziehungsweise beschädigt. Am 10.11.1938 wurden rund dreissigtausend Juden in die zuvor ausgebauten Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen überführt. Einige hundert von ihnen wurden kurz danach ermordet.


Michael, Dora und meine Mutter Trude flüchteten spät, aber nicht zu spät, am 16. November 1938, sechs Tage nach der Reichskristallnacht, mit einigen Komplikationen - und für die damalige Zeit illegal - über die Westgrenze Deutschlands via Karlsruhe, Freiburg und Lörrach am 20.11.1938 nach Basel in die Schweiz und dann rasch weiter nach Mühlhausen (frz. Mulhouse) in Frankreich. Über die bewachte Grenze wurden sie von einer bezahlten Schweizer Fluchthelferin, Frieda, in die Freiheit geführt. Sie gingen zu Fuss. Auch den Weg von Basel zur französischen Grenze, immerhin ein mehrstündiger Fussweg, bewältigten sie ohne Verkehrsmittel. Die Angst vor dem Schweizer Grenzschutz war gross, da dieser regelmässig Flüchtlinge ins Deutsche Reich zurückstellte. Michael, der schon damals Herzprobleme hatte, war  dem Fussmarsch beinahe nicht gewachsen, wollte sich mehrmals niedersetzen und aufgeben. „Papa, wir müssen weiter!" drängte die 13-jährige Trude und rettete ihm sein Leben. Jenseits der Grenze, in Frankreich, wartete ein Auto, das sie nach Mühlhausen brachte, von dort ging es mit der Bahn weiter nach Paris.


Das Betreten des Altreichs war den Juden aus der Ostmark, wie oben erwähnt, verboten. Wieso meine Familie dieses Risiko auf sich nahm, war mir lange nicht klar. Erst nach und nach begriff ich, dass eine der möglichen Fluchtrouten über Basel führte und offenbar die Financière der Flucht, Omas Schwester Olga Krupnig, eben genau über diese Kontakte verfügte. Während des mehrtätigen Herumirrens in Deutschland nahm die Familie nie ein Hotelzimmer, sondern hielt sich entweder in Wohnungen von Verwandten, in den Zügen oder
in Bahnhofrestaurants auf. Dass dies bei der damaligen Bewachung dieser Einrichtungen auch nicht ungefährlich war, dürfte sie bewusst in Kauf genommen haben. Alle Familienmitglieder sagten mir, sie hätten sich aufgrund ihres europäischen Aussehens und guter Kleidung für nicht besonders gefährdet erachtet. In Paris wohnte seit langem Hilda Weizenbaum, geborene Drucker, die Tochter einer der Schwestern meiner Grossmutter, Antonia Drucker. Hilda war mit dem Kürschnermeister und Pelzhändler Leon („Leo") Weizenbaum  verheiratet und konnte ihren Verwandten unter die Arme greifen. Ihre schöne, weitläufige Wohnung befand sich nahe der Rue Faubourg-Bergère, unmittelbar bei den berühmten Folies Bergères. Nach einigen Tagen musste die Familie Halpern in ein billiges Hotel in der Nähe, es war ein Stundenhotel, umziehen. Meine Mutter konnte keine Schule besuchen, ging aber viel in Paris spazieren und lernte sehr rasch Französisch sprechen. Besonders zog sie die Folies Bergères an, mit den Fotos schöner Männer und Frauen in den Auslagen. Viele Flüchtlinge aus Deutschland lebten damals in Paris in solchen Hotels oder Pensionen.


Auch Hildas Bruder, Ernst Drucker, kam als Flüchtling nach Paris und wurde mit Geld von Leo Weizenbaum für eine Schiffspasssage nach Kuba unterstützt. Meine Mutter erinnert sich, dass es zwischen den Eheleuten eine Diskussion darüber gegeben hatte, da Hildas Familie gross und Leos Geldmittel nicht unbeschränkt waren. Letztlich setze sich Hilda durch, und sie und meine Mutter begleiten Ernst bei seiner Abreise in den Süden Frankreichs zum Bahnhof. Damals funktionierte das Familiensystem noch sehr gut, man stand sich nahe. „Not verbindet", eine Weisheit, die sich immer bestätigt. All das sollte nach der Shoa anders werden, die einzelnen Verwandten hatten sich räumlich und seelisch voneinander entfernt, deren Kinder und Kindeskinder hatten - mit einigen wenigen Ausnahmen - ein in der Zeit  natürlich abnehmendes Interesse an der Grossfamilie. Man wohnte schliesslich auch tausende Kilometer voneinander entfernt. Und man war generell gut situiert, brauchte keine Unterstützung.

Dora, die während des Herumirrens in Karlsruhe entdeckt hatte, dass ihr wichtige Dokumente fehlten, wollte diese unbedingt holen. „Michael, ich werde nach Wien zurück fahren und den Grundbuchauszug und Kaufvertrag von unserem Haus an mich nehmen". - „Dora, ist Dir nicht gut? Es ist zu gefährlich! Wir müssen unser Leben retten!" - Es nützte nichts. Dora kehrte um und fuhr mit der Bahn nach Wien zurück.  Sie kam - mit sehr viel Glück - drei Wochen später auf dem gleichen Fluchtweg: Freiburg - Lörrach - Basel - Mühlhausen - Paris nach. Auch sie mit einem bezahlten Fluchthelfer. In ihrem Fall war es ein jüdischer Rechtsanwalt aus Basel, der für Geld Juden aus dem Deutschen Reich in die Schweiz lotste. Man zahlte ihm 10.000 Reichsmark für diese Gefälligkeit, wovon ein Teil für die Bestechung der Grenzposten, auch der Gestapo sowie des deutschen Zolls verwendet worden ist. Doras Flucht verlief so: Der Rechtsanwalt holte sie in Freiburg ab und fuhr mit ihr bis zur deutsch-schweizerischen Grenze nach Basel. Dort, am Bahnhof, überquerten sie zu Fuss die Grenze, wobei Oma Arm in Arm eingehängt mit dem Anwalt diesen Weg ging. Wie im Film. Die Grenzwachen kontrollierten ihren Pass, der mit dem obligatorischen „J" als Jüdin gekennzeichnet war, nicht. Oma sagte immer, weil sie nicht jüdisch ausgesehen hätte. Die Wahrheit sagte mir später meiner Mutter: Die Grenzposten auf beiden Seiten waren bestochen. Der Anwalt war ein professioneller Fluchthelfer und verdiente damit ein Vermögen. Meine Oma tat ihm leid, und er lud sie nach dem Grenzübertritt über Schabbat in sein Haus in Basel zum Ausruhen ein. Später begleitete, obwohl es nicht ausgemacht war, sein Schwiegersohn Dora zur schweizerisch-französischen Grenze, und dann weiter bis Mühlhausen in seinem Auto. Von dort ging es mit dem Zug direkt nach Paris.


Eine Schwester von Michael, und Tante meiner Mutter, Hilda Hoffmann, geborene Mayer, die mit ihrem Mann und vier Kindern in der ehemaligen Wohnung ihres Vaters und Familienpatriarchen Josef Mayer in der Seitenstettengasse 5 in Wien lebte, konnte nicht ausreisen. Ihr Grossneffe Chanan Tell erklärte mir in Tel Aviv am 2. April 2010: „Die Tante Hilda wollte nicht weg von Wien, obwohl alle ihr sagten, sie solle weggehen". - Wollte oder konnte nicht weggehen? Ich habe hier noch zu wenig Informationen. Vergessen wir nicht:
Um wegzukommen, brauchte man einen gültigen Reisepass des Deutschen Reiches, den man nur erhielt, wenn man alle seine echten oder von den Behörden behaupteten Schulden bezahlt hatte und eine entsprechende Bescheinigung der Finanzbehörde vorweisen konnte. Des Weiteren war die Reichsfluchtsteuer zu entrichten, die für fünf Personen tausende Reichsmark betragen hätte. Grosse Geldbeträge, die sehr viele Juden nicht aufbringen konnten. Die Hoffmanns waren nicht begütert. Vielleicht war Hilda Hoffmann auch zu stolz, um die
Schwester meiner Oma, Olga Krupnig, die für sie eine Schwägerin war, um Geld zu bitten. Andererseits war Olga mit Hilda nicht verwandt, kümmerte sich ohnehin um viele Verwandte, und - die Familie war sehr gross. Vermutungen. Die Geschichte gab Hilda leider nicht recht: Die ganze Familie Hoffmann wurde nach Theresienstadt deportiert, und von dort weiter 1942 nach Auschwitz, wo alle 1944 ermordet worden sind.


Ein weiterer Bruder von Michael und Hilda, Adolf Halpern, war schon früh in den 1930er Jahren nach Italien ausgewandert, fühlte sich im Italien Mussolinis sehr wohl und dürfte längere Zeit in Mailand gelebt und gearbeitet haben. Auch ihn ereilte das Schicksal der Deportation, und er ist 1944 in Auschwitz ermordet worden. Genaue Informationen liegen mir darüber nicht vor.


Im Jahr 1938 waren die Ausreisemöglichkeiten für europäische Juden bereits stark eingeschränkt, denn kaum ein Staat in Mitteleuropa war noch bereit, ausländische Juden, die rechtlich deutsche Staatsbürger waren, aufzunehmen. Das galt für Ungarn, die Tschechoslowakei, für Italien, die Schweiz, für Polen und andere Staaten. Was also tun? Auch für die ansonsten so lebensklugen Juden schien guter Rat teuer. Helfen konnte man sich nur - erraten -, wenn man genug Geld hatte, denn diesmal war das Tauschmittel Geld direkt gegen Leben und Unversehrtheit eintauschbar. Um aus dem Deutschen Reich auszureisen oder sich auch nur in Deutschland bewegen zu dürfen, war, wie oben beschrieben, ein Reisepass notwendig, der die Grundlage für ein Visum für einen ausländischen Staat und auch für die Ausstellung eines Affidavit bildete. Unter diesem Dokument, ohne das man nicht in die USA einreisen konnte, ist eine Kostenübernahmeerklärung durch verlässliche und finanziell „angeordnete" US-Bürger zu verstehen, da die US-Regierung nicht bereit war, die Kosten für die vielen und mittellosen Immigranten ohne Weiteres zu tragen. Es war naturgemäss für Juden nicht einfach, ein derartiges Affidavit zu bekommen. Ein grosser Kostenfaktor war die von den Nazis eingeführte Reichsfluchtsteuer, die gemäss dem Vermögen und der Anzahl der auszureisenden Personen zu entrichten war. Im Fall der Familie Halpern waren das im Jahr 1938 zwanzigtausend Reichsmark, die  die letzten Geld- und Schmuckreserven der Familie auffrassen.


Besonders clever hatte sich meine Cousine Hilda Harmel angestellt, die als Siebzehnjährige 1938 nach England emigriert war und dort bei Pflegeeltern ihre Schulbildung, aber auch ihre künstlerische Ausbildung fortsetzen konnte. Allein ihr Weg nach England gleicht einem Abenteuer. Hilda hatte im Britischen Konsulat in Wien einen ihr völlig fremden, distinguierten Herrn angesprochen und angefleht, er möge ihr eine Einladung nach England verschaffen, da sie sich sonst umbringen müsste. Der Herr, ein Universitätsprofessor, hatte ein Herz und ein Einsehen und verschaffte ihr tatsächlich die notwendige Einladung als Au-pair-Mädchen nach England - der Beginn ihres Überlebens. In der Folge konnten auch Hilda Harmels Eltern nach England ausreisen. Hilda wollte aber in die USA, und suchte wochenlang in Telefonbüchern amerikanischer Grossstädte nach Harmels, die ihr vielleicht
ein Affidavit schicken würden. Und in der Tat - es fand sich eine Familie Lou Harmel in New York, die der ihnen völlig unbekannten Hilda, die nur den gleichen Familiennamen trug, ein Affidavit zusandte, mit dem sie 1939 in die Vereinigten Staaten einwandern konnte. Sicher ein Beispiel für ausserordentliche Lebensklugheit, die sie später noch oft unter Beweis stellen sollte. Und auch mehr als eine Geste der Grosszügigkeit von Lou Harmel, da mit dem Affidavit ein grosses Kostenrisiko, die Erhaltung der eingeladenen Person, verbunden war.


Dora und Michael Halpern hatten mittlerweile, von Marseille kommend,  im Februar 1939 Tel Aviv mit dem Schiff erreicht und ein möbliertes Zimmer angemietet - was für ein Absturz im Vergleich zu den beiden Drei-Zimmer-Wohnungen in Wien, der Villa in Perchtoldsdorf, den Geschäften und dem Auto mit Chauffeur! Auch drei Geschwister (von sieben) von Opa Michael waren in Tel Aviv angekommen, und zwar seine Schwestern Dora (Dorothea) und  Berta mit ihren Ehemännern und zahlreichen Kindern sowie sein Bruder Oscar. Meine Grosseltern Michael und Dora, mein Grossonkel Isidor (Doras Bruder)  und andere arbeiteten in dem Textilgeschäft Model, das Omas reiche Schwester Olga Krupnig auf der belebten und zentralen Allenby-Strasse in Tel Aviv gegründet hatte. Bald sollte auch Josef Katz, der mit Dora (geb. Mayer) verheiratet war, auf der belebten Allenby-Strasse sein Geschäft eröffnen, das sich zur wahren Goldgrube entwickelte. Josef war ein Vollblutkaufmann, der auch in Wien sehr erfolgreich gewesen war. Nur wenige Kaufleute vermochten diesen Erfolg auch in Palästina zu wiederholen. Details darüber hat mir sein in Herzliya lebender Enkel, Dr. Chanan Tell, erzählt.


Meine Mutter Trude war nach einer etwa zweijährigen Vorbereitung für ein späteres Leben in einem Kibbutz in Petach Tikva, nahe bei Tel Aviv, für sechs Monate als Hachsharah - als Anzulernende - in den prominenten Kibbutz Degania Beth in der Nähe des Sees Genezareth gekommen und danach für etwas mehr als ein Jahr in den nahe gelegenen Kibbutz Alumot bei Poria. In Petach Tikva gab es ein Mädchen, vermutlich aus Polen, das von wilden Träumen geplagt wurde und häufig in der Nacht schrie. Es hiess, sie sei in einem KZ gewesen. Sie erzählte über die Gefangenschaft vieler Juden und dass manche nie mehr gesehen worden sind. Das war das erste Mal, dass meine Mutter über die Tötung von Juden in Lagern so deutlich hörte. Die systematische Judenvernichtung hielt damals kaum jemand für möglich.


In Degania Beth, gegründet im Jahr 1920, war das kollektive sozialistische Wirtschaftssystem die Grundlage der  Bewirtschaftung der Felder und des Zusammenlebens der Menschen. Dieser Kibbutz war als Ableger des bereits 1910 gegründeten ältesten Kibbutz Israels, Degania Alef, angelegt worden. Degania Alef, der von Juden aus Weissrussland gegründete Kibbutz, ist der Geburtsort von Moshe Dayan (1915-1981), des  späteren Helden der Kriege von 1948, 1956 und 1967. Wir sind aber noch nicht soweit. Am 1. 9. 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Hitlers auf Polen. Was würde das für die jüdische Gemeinschaft in Palästina bedeuten?

Wird fortgesetzt


Der Autor: Mag. Dr. Ilan Fellmann, MinRat im BMLVS, ist Mitglied von Transparency International, Austrian Chapter, und Verfasser des Buches: Die „automatische" Korruption, Verlag NWV Wien (bzw. BWV Berlin), 2010.  Er hat sich seit Jahren auch mit jüdischer Geschichte und Politik beschäftigt und
zahlreiche Aufsätze veröffentlicht. Das gegenwärtige Projekt, ein
Shoa-Buch der Grossfamilie Halpern-Mayer-Katz-Fellmann mit dem Arbeitstitel „Halpern&Fellmann, Flucht vor den Nazis und das Leben danach" soll im Frühjahr 2011 in Deutschland erscheinen.