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Mancher, der den Weg nach Jerusalem nimmt, ist nur bis Damaskus gekommen.

Vera Regine RÖHL

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Heinrich Margulies Kritik an Martin Buber anlässlich des Jüdischen Jugendtags in Wien

im Mai 1918.1

  

„Religion ist Privatsache und sie zu rauben keine grössere Gewalttat, als sie aufzuzwingen." schreibt Heinrich Margulies (1890-1989) in seiner Kritik des Zionismus, die 1920 bei Löwit in Berlin und Wien erschienen ist. Margulies stammte aus Kattowitz, lebte bis zu seiner Einwanderung nach Palästina im Jahr 1925 in Breslau, Berlin, Leipzig, Wien und Mailand und fiel in der zionistischen Bewegung früh durch sein leidenschaftliches Plädoyer für einen säkularen jüdischen Staat auf. Als Nationalökonom und späteres Direktoriumsmitglied der israelischen Nationalbank wies er  immer wieder auf die Notwendigkeit wirtschaftlicher Konzepte für das zionistische Projekt hin. Er entwarf mit seiner Kritik des Zionismus ein aufgeklärtes Staats- und Gesellschaftsmodell, das den damaligen Tendenzen im deutschen Zionismus entgegentrat, Nationalismus und Mystizismus zu verbinden - und bezog damit Position gegen den jungen Martin Buber und seine Anhänger.

Ein interessantes Beispiel dafür ist der Jüdische Jugendtag vom 17. bis 19. Mai 1918 in Wien. Ziel der etwa 2000 Teilnehmer war die Gründung eines Dachverbandes für die jüdischen Jugendorganisationen Österreichs.2 Die dabei intendierte Richtungsfindung spielte sich zwischen zwei Polen ab: Sollte Idealismus, d.h. moralische Erneuerung, eine neue Identität und geistige Selbstfindung oder aber Pragmatismus, d.h. konkrete politische und wirtschaftliche Aktivitäten zum Prinzip der Bewegung werden? Zu einer Einigung kam es nicht, die jüdische Jugendbewegung Wiens war die kurze Zeit ihres Bestehens von harten Auseinandersetzungen zwischen „Idealisten" und „Pragmatikern" geprägt.3 Sie war damit auch ein Abbild der Zionistischen Bewegung ihrer Zeit.

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Vera Regine Röhl:„Es gibt kein Himmelreich auf Erden". Heinrich Margulies - ein säkularer Zionist (Würzburg 2014, Verlag Königshausen & Neumann, ISBN 9783826054211)

Heinrich Margulies, der als Pragmatiker galt, war als Generalredner eingeladen. Obwohl bereits im Vorfeld klar war, dass Margulies gegen  die „Idealisten" Martin Buber, Siegfried Bernfeld und Robert Weltsch argumentieren würde, verdankte er seine Aufstellung diesen drei Herren. Man erwartete von ihm eine sachlich fundierte Argumentation, begründete Robert Weltsch.4 Die Entrüstung über Margulies Rede war dennoch oder gerade deshalb gross. Die Jüdische Zeitung berichtete am 24. Mai, Margulies polemisiere in seiner Rede "mit aggressiver Impulsivität" gegen Bubers Einfluss in der Jugendbewegung. „(...) die Notlage des jüdischen Volkes, nicht aber allgemeine Menschheitsideale [müsste] der Ausgangspunkt für unseren Zionismus sein." Die „geistige Richtung" der Bewegung bezöge ihre Ideen aus deutscher Gedankenwelt, die für die Eigenart der jüdischen Jugendbewegung nicht passe. Auch seien solche Begriffe wie der der „Unbedingtheit", mit denen Buber und seine Anhänger argumentierten, zu unklar um Orientierung zu geben. Bubers Programm der „Diktatur des Geistes" gehe an der Wirklichkeit vorbei und so könne Margulies diese - bei aller persönlichen Wertschätzung von Bubers Werk - nicht billigen. 

Ein Satz, an dem sich seine Zuhörer besonders stiessen, war Margulies Schlusssatz, den er selbst in seinem Tagebuch folgendermassen wiedergibt: „Mancher, der den Weg nach Jerusalem nimmt, ist nur bis Damaskus gekommen."5 Daran entzündete sich eine briefliche Auseinandersetzung mit Bernfeld und Weltsch. Weltsch schrieb dazu am 7. Juni 1918 an Margulies, er könne es weder verstehen noch akzeptieren, dass Margulies die allgemein bekannte Deutung des Passus „nach Damaskus", nämlich die „paulinische", bewusst ignoriert habe, und ihr eine andere, „allgemein geistig[e] oder Strindbergische[e] gegeben habe, was nur zu Verwirrung führen konnte. Darin läge „ein Körnchen Demagogie."6 Er sei über Margulies Rede befremdet und verletzt und der Schlusssatz habe ihn „wie ein Keulenschlag" getroffen.7

Diese Entrüstung ist vor dem Hintergrund verständlich, dass Margulies Buber vorwarf, dem Christentum zu nahe zu stehen und die jüdische Jugend zum Christentum zu führen, anstatt ihr eine davon unabhängige Orientierung zu geben. Da die christliche Bibel von einer Wandlung des Saulus zum Paulus - respektive vom Juden zum Christen - berichtet und Paulus in Damaskus lebte, lässt sich Margulies Schlusssatz so verstehen, dass er seinen Gegnern in der Bewegung vorwarf, sich auf den Weg nach Jerusalem - also zum Judentum - gemacht zu haben, dabei aber in Damaskus, also beim Christentum,  gewissermassen hängen geblieben und folglich vom Weg abgekommen zu sein.

Dem entgegen erklärte Margulies aber in einem Brief an Bernfeld vom 2. Juli 1918, er habe dabei nicht an die Taufe und das Christentum gedacht, er habe den Kern ansprechen wollen: „die seelische Einstellung der Erleuchtung, der Offenbarung, der Abkehr von bisherigen Überzeugungen durch mystische Erlebnisse, die sich der Diskussion entziehen und die dennoch in die Volksversammlung und in das öffentliche, politische Leben hinaustreten." Das habe ihn zu dem Kampf mit Buber gezwungen, den er gerne vermieden hätte.8 Es war also die Erleuchtung durch ein mystisches Erlebnis, die persönliche Überzeugungen revidieren kann, die er in seiner Rede symbolisch mit Damaskus und konkret mit Buber in Zusammenhang bringen wollte, nicht die Nähe zum Christentum.

Margulies betont zudem in seinem Brief an Bernfeld seine Überzeugung, dass die Gruppe um Buber auf dem Irrweg sei „weil sie eben die ganz privaten (religiösen) und unmittelbaren Dinge" zur Grundlage des öffentlichen Lebens machen wolle. Dagegen sträube er sich - „nicht weil ich zu wenig, sondern weil ich zu sehr religiös bin. (...) Grade deshalb, weil ich Ehrfurcht vor meinen letzten Dingen verlange und nicht Volksversammlungen den Zutritt zu ihnen gestatte."9

Buber und seine Anhänger wollten zusammenbringen, was Margulies voneinander trennen wollte. Buber hatte in seiner Eröffnungsrede zum Jugendtag gesagt: „In der Tat, die das jüdische Volk fordert, sind die drei Elemente des echten Gebotes, das nationale, das soziale und das religiöse unlösbar verschmolzen."10 Margulies, der eine Trennung von Nation und Religion anstrebte, lehnte eine solche Verschmelzung radikal ab. Ebenso verweigerte er der religiösen Sphäre wie auch sittlichen Überzeugungen Eingang in den öffentlichen Raum. Diese aus seiner Sicht wertvollen und schützenswerten Aspekte der Privatsphäre eines Menschen hatten im öffentlichen Raum nichts zu suchen, denn dort, so befürchtete er, könnten sie sogar Unheil anrichten. Sie sollten auf das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft beschränkt bleiben, nicht aber Einfluss auf die Gesellschaft nehmen.

Die Damaskus-Bemerkung wird vor dem Hintergrund eines Abschnittes aus Margulies Erinnerungen aus dem Jahr 1937 noch deutlicher. Dort führt Margulies aus, dass er den Begriff der Tschuwah, der Umkehr, bei Buber kennengelernt und sich mit diesem darüber auseinandergesetzt habe. Der Begriff der Umkehr habe zunächst eine ganz einfache und nüchterne Bedeutung: Man kehrt auf der Strasse um, wenn man etwas vergessen hat. Gibt man diesem Begriff einen „höheren" Sinn und bezieht ihn auf eine Person, dann spricht man vom Baal Tschuwah, dem Herrn der Umkehr. Dann wird „der sachliche Prozess einer Um- oder Rückkehr übergossen mit einer Vorstellung von Reue, Zerknirschung, Erleuchtung und Verheissung". Paulus Vision vor Damaskus habe diesen zum Baal Tschuwah gemacht: „Seine ganz realistisch zu nehmende Umkehr und Rückkehr zu der Stadt, von der er gerade kam, trat zurück hinter der Abkehr von Göttern, die er bisher angebetet hatte, hinter dem Wandlungsprozess der Seele."

Das aber warf Margulies Buber vor: dass er aus einer „Rückkehr im nüchternen Sinne" eine „Umkehr im Leben eines jeden Einzelnen als die ekstatische Neubekennung zum ureigensten Gott" mache. Buber habe „wie Jesus selbst Worte zu Gleichnissen" gemacht, „bis sie einen mystischen Schauer erweckten". So wurde eine einfache Umkehr zu einem „Schauerwort bombastischer Wirkung". Ein Aufruf zur Umkehr wurde zum „Sittlichkeitsaufruf", zum Aufruf zur „unbedingten Tat", die aber keinen konkreten Inhalt bekam.11

Margulies provozierende Äusserung auf dem Jugendtag, die er an Buber und seine Anhänger richtete, lässt sich daher folgendermassen verstehen: Ein Mensch ging los, das jüdische Gemeinwesen in Palästina aufzubauen, blieb aber letztlich bei der metaphysischen Überhöhung der Nation und der sittlichen Forderung an jeden Einzelnen stehen und kam daher bei der praktischen Aufbauarbeit nie an.

Die hier geschilderte Diskussion gibt nur einen kleinen Ausschnitt der Auseinandersetzungen zwischen Margulies und Buber und seinen Anhängern wieder. Immer ging es dabei um Ziele und Methoden des Zionismus und um Werte: um den Wert der Tat und um den Wert des Geistigen, um den Wert der Gemeinschaft und um den Wert der individuellen Freiheit sowie um den Stellenwert der Religion, des Geistigen und des Sittlichen in einer modernen (jüdischen) Gesellschaft - letztlich also um die Verfasstheit und das Selbstverständnis des (zukünftigen) jüdischen Staates. Margulies war mit seinen aufgeklärten Positionen seiner Zeit voraus. Seine Fragen betreffend jüdisches Selbstverständnis, jüdische Identität und die Trennung von Religion und Staat werden daher bis heute diskutiert.

1  Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Kapitels 2.3.4 der im Mai 2014 erschienen Doktorarbeit von Vera Regine Röhl, „Es gibt kein Himmelreich auf Erden" Heinrich Margulies - ein säkularer Zionist, Würzburg 2014, Verlag Königshausen & Neumann, ISBN 9783826054211.

2  Vgl. Jüdische Zeitung, Nr. 20 (Sondernummer zum Jüdischen Jugendtag) vom 17.05.1918, S. 1.

3  Vgl. dazu: David Rechter, „Bubermania": The Jewish Youth Mouvement in Vienna 1917-1919, a.a.O., S. 30ff. Rechter zufolge entstand die jüdische Jugendbewegung Wiens um das Jahr 1915 und war fünf bis zehn Jahre aktiv. 

4  Vgl. Tagebucheintrag vom 06.06.1918, in: Tagebuch von Heinrich Margulies, 20.02.1918 bis 30.06.1921, ohne Seitenzählung, in: CZA (Central Zionist Archives), A392/148; Brief von Robert Weltsch an Margulies vom 07.06.1918, S. 1, in: CZA, A392/17.

5  Tagebucheintrag vom 06.06.1918, ebd.

6  Brief Weltschs an Margulies vom 07.06.1918, S. 1, a.a.O. Weltsch bezieht sich hier auf das Drama „Nach Damaskus" von August Strindberg, erschienen 1898 und 1904.

7  Brief Weltschs an Margulies vom 01.06.1918, S. 1, handschriftlich, nicht durchgängig lesbar, in: CZA, A392/16.

8  Brief Margulies an Bernfeld vom 02.06.1918, Seite 2, in: CZA, A392/16.

9  Ebd.

10  Jüdische Zeitung, 24.05.1918, S. 2.

11  Vgl. Erinnerungen Margulies, begonnen 1935, hier Eintrag vom 27.01.1937 und Eintrag davor, in: CZA, A392/163.