Ausgabe

Chinchpokli

Margit FRANZ

Content

Chinchpokli gehört definitiv nicht zum Sightseeing-Programm der indischen Wirtschaftsmetropole Mumbai: Industriebauten mit kleinräumigen Arbeitersiedlungen, Kleinindustrie und Strassenhandel prägen das Viertel, dessen Zentrum die Eisenbahnstation Chinchpokli bildet. Zentral und verkehrstechnisch günstig - nahe einer Zughaltestelle - gelegen ist der Streifen zwischen der breiten N.M. Joshi Marg und den Gleisen der Central Railway Line im hektischen, ständig pulsierenden Grosstadtgetriebe dennoch eine Oase der Ruhe, der Abgeschiedenheit, der Zeitlosigkeit, aber auch ein Ort der von der modernen Ära in Indien vergessen wird: der jüdische Friedhof in Chinchpokli. Seit 1878 die letzte Ruhestätte für Mitglieder der jüdischen Gemeinde Bombays bildet er mit seinen 1012 Gräbern einen der grössten  jüdischen Friedhöfe Indiens.

Drei grosse Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Ausformungen und rituellen Merkmalen repräsentieren das Judentum in Indien: die Bene, die Baghdadi und die Cochin Juden und Jüdinnen. Bombay mit seinen fünf jüdischen Friedhöfen war das Zentrum der zahlenmässig starken Bene wie auch der Baghdadi Gemeinschaft. Die Anzahl der Beerdigungsstellen spiegelt auch die Zahl der ehemaligen hier lebenden Religionsmitglieder geografisch wider; Bombay (seit 1993 Mumbai) war neben Calcutta (heute Kolkata) und Cochin (heute Kochi) das Zentrum des Judentums auf dem indischen Subkontinent. Während der Verfolgung durch den Nationalsozialismus bildeten sich besonders in den ersten zwei Wirtschafts- und Verkehrszentren Netzwerke und Hilfsorganisationen für die jüdischen Flüchtlinge aus Zentraleuropa. Schon 1934 wurde in Bombay die Jewish Relief Association mit späteren Filialen in Calcutta und Madras (heutiges Chennai) gegründet.

h104_030

Gedenktafel für Karl und Hedwig Blaskopf.

Der jüdische Friedhof in Chinchpokli

Ein kleiner Durchbruch in einer langen Zeile von meist muslimischen Kleinwarenhändlern entlang der Strasse markiert den Eingang mit der Aufschrift „Jewish Cemetry". Dieser ist mit einem blauen Eisentor versperrt, eine junge Ziege am Zaun befestigt. Ein freundlicher Wärter öffnet das Refugium, dessen Süd- und Westseite von schattenspendenden alten Bäumen bewachsen ist, die Mitte und der Ostteil sind der glühenden Sonne und der Staub aufwirbelnden Eisenbahn ungeschützt ausgesetzt. Im Norden schliesst eine Slumsiedlung an den Friedhof, der ringsum von einer meterhohen Steinmauer umgeben ist. Obwohl ein Schild auf eine letzte Renovierung des Friedhofes im April 2006 verweist, hat die subtropische Vegetation und das feucht-schwüle Klima ihre sichtbaren Spuren hinterlassen; meterhohe Unkraut- und Grasnarben sowie Dornengestrüpp machen ein Fortkommen im hinteren Friedhofsteil abseits der Hauptwege fast unmöglich. Zudem sind viele einfache Steingrabsteine von Flechten überwuchert, die Inschriften vergilbt oder vom heftigen Monsunregen ausgewaschen und ihre Struktur von den starken Niederschlägen sowie der grossen Hitze brüchig. Dazwischen blitzen gepflegte Marmorplatten und zwei kleine Mausoleen von Angehörigen der Industriellenfamilie Sassoon hervor. Der Friedhof gehört nämlich zur Synagoge Knesset Eliyahoo, die 1863/64 im Zentrum von Bombay von der Baghadhi Familie Sassoon errichtet wurde und bis heute ein Andachtsort für Bene wie Baghdadi Juden und Jüdinnen ist.

Einzige Holocaust-Gedenkstätte in Indien

Am Eingang rechts vom Tor befindet sich eine offene, auf blauen Holzpfeilern gebaute, überdachte Kongregationshalle, deren Holzbänke zum Verweilen einladen. Ein einfacher, aber robust wirkender weisser Steinboden hebt sich von der einfachen gemauerten Wand am Kopfteil der kleinen Halle ab. Kleine Marmorplatten sind in ihrer Mitte angebracht:  

„In Memory of Otto and Fritzi Taussig and their sons Franta and Pepik

Victims of Nazi Persecution in Czechoslovakia"

"In Memory of Heinrich Bondy and Mina Bondy

Who lived and died in Vienna, Austria"

 

"In Memory of Dr. Karl Blaskopf and Hedwig Blaskopf nee Eisler

Victims of Nazi Persecution in Austria"

 

" In Loving Memory of Otto Mass

14 Oct. 1912 - 22 Dec. 1938

Died in Buchen-Wald"

 

"In Loving Memory of Ernst Mass

2 Nov. 1907-15 July 1942

Died in Auschwitz-Birkenau"

 

"In Loving Memory of My dear Father Karl Maximillian Feil

Born 18th March 1907         

Died 1st November 1947      "Peter" "

Mit Gänsehaut bei 38 Grad Celsius und zittriger Stimme lesen wir mehr als 8.000 Kilometer entfernt von Österreich in Stein geschlagene Zeugnisse der gewaltsamen Vertreibung und Ermordung österreichischer und zentraleuropäischer Juden und Jüdinnen. Wir wissen wenig über die Opfer, und auch die SpenderInnen der Marmorplatten sind uns grossteils unbekannt, auch sie sind Opfer des Nationalsozialismus, die im indischen Exil ein neues Leben fanden und nach der Unabhängigkeit Indiens von Grossbritannien ihren Exilweg fortsetzten. Durch ihre Exilrouten über mehrere Kontinente verstreut verlieren sich ihre Spuren in der noch immer sehr westlich dominierten Shoa-Geschichtsschreibung.

h104_044

Die einzige Holocaust-Gedenkstätte Indiens.

Mit Leben erfüllte Gedenkstätte

Wer längere Zeit in Indien unterwegs war bzw. dort gelebt hat, wird bemerkt haben, dass es fast keine unbewohnten bzw. unbenutzten Denkmäler oder Grabstätten wie in Europa gibt. Überall ist Leben, überall wird gelebt, überlebt. So auch hier am Friedhof von Chinchpokli. Um die Tafeln fotografieren zu können, müssen wir zuerst Alltagsgegenstände wie eine Leiter und ein schweres, hohes Tischchen entfernen, auf dem sich allerlei Toiletteartikel wie Zahnbürsten, Rasierer, Schere und ein Handtuch befinden. Nach unserem langen Rundgang durch den Friedhof auf der Suche nach den letzten Ruhestätten von zentraleuropäischen jüdischen ExilantInnen, bei dem wir Bekanntschaften mit wilden Hunden in einer einsamen, zerfallenden Ecke gemacht haben, hat der Wärter Gesellschaft bekommen: ein Mann, der gerade seine Toilette beendet zu haben scheint, und ein kleiner Junge haben sich zu ihm gesellt. Er stellt uns seine Familie vor, die mit ihm zumindest den Wasseranschluss, den Ventilator, den Schatten und die Ruhe des Ortes während des Tages teilen. 

h104_045

Grabstätten von Holocaust Flüchtlingen in Mumbai.

Geschichte einer Wiederentdeckung

Bei der wissenschaftlichen Recherche taucht der Friedhof Chinchpokli im JewishGen Online Worldwide Burial Registry1 auf. In der wissenschaftlichen Literatur bleibt die aussergewöhnliche Gedenkstätte am Friedhofseingang aber unerwähnt.

  

Zwei Tage nach den Terroranschlägen vom 26. November 2008 in Mumbai auf das Taj Mahal Hotel, einen Bahnhof, ein Touristenlokal und das Jewish Center of Mumbai oder Chabad House, wo sechs Menschen starben, ging ein Artikel um die Welt: „`We´ve Never Felt Scared´. Tracking the rich tradition of Jews in India"2, welcher am 2. Dezember in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Wir hatten nie Angst - bisher. Juden in Indien"3 erschien. Der Mumbaier Autor Naresh Fernandes schrieb:

„Ein weit unheimlicheres Wahrzeichen für die Rolle unserer Stadt als Zufluchtsort für Juden ist die mit Marmorplaketten übersäte Wand auf dem Friedhof von Chinchpokli: Erinnerungen an Menschen, die in Auschwitz starben, gestiftet von Verwandten oder Freunden, die hier Zuflucht fanden, weil sich Jawaharlal Nehru, unser späterer Premierminister, bei der britischen Regierung vehement dafür einsetzte, osteuropäischen Juden die Einreise nach Indien zu gestatten."

 

Fast zwei Jahre später, am 24. Oktober 2010, haben wir uns an einem Sonntagmorgen ein Taxi in Colaba in der Nähe des Taj Mahal Hotels gemietet und mit der Hilfe des freundlichen muslimischen Taxifahrers, den wir zuerst davon überzeugen mussten, das wir wirklich nach Chinchpokli und nicht die berühmten Hängenden Gärten von Malabar Hills oder andere Sehenswürdigkeiten besichtigen wollten, auf die Suche gemacht. Mit dem besagten Artikel, Internetkarten und vagen Beschreibungen ausgerüstet haben wir den jüdischen Friedhof und sein einmaliges Denkmal gefunden.

Grabstätten von Holocaust Flüchtlingen in Mumbai

Während dieses Tages wurden wir nochmals fündig. Weit hinten in der Nordostecke des Friedhofes, inmitten von Dornen und verfallenden Steinen haben wir -- bisher --- 21 Grabstätten von europäischen jüdischen ExilantInnen gefunden. Spontan haben wir diesen Bereich des Friedhofes „refugee section" benannt.

Dr. Jan Broch, 1900-1950 (Olomouc, Tschechoslowakei)4

Amelie Bruck, geb. Blum, 1864-1950 (Buehl, Deutschland)

Erna Frankel, 1909-1945 (Wien) & Karl Frankel, 1883-1952 (Wien)

Fanny Gottfried, geb. Tanne, 1883-1949 (Österreich)

Abraham Gutmann, 1870-1945 (Heidenheim, Deutschland)

Ilse Hagemann, 1894-1957 (Berlin)

Ella Hayn, 1872-1951

Muschi Else Kallay, geb. Proskauer, 1897-1948 (Berlin)

Hedwig Karfunkel, geb. Bial (weitere Daten unleserlich)

Elsa Loewenstein, 1890-1958 (Deutschland)

Ludwig Neter, 1873-1951 (Frankfurt/Main)

Stefan Ortheiler, 1883-1953 (Marktbreit, Deutschland)

Ernestine Reisner, 1872-1950  (Österreich)

Isidor Schallinger, 1871-1953 (Oslavany, Tschechoslowakei)

Adolf Schimmel, 1863-1950 (Frauenkirchen, später Bruck/Leitha)

Jacob Schiveitzer, 1887-1953

Hanus J Schnurer, 1898-1953 (Pribor, Tschechoslowakei)

Florie Simon, + 1945

Dr. Edward Sternbach, 1874-1946 (Deuhohycz, Polen)

Rosa Weinberg, 1883-1945 (Deutschland)

Max Wreschinski, 1884-1953

Diese 22 Namen stehen stellvertretend für mindestens 2500 jüdische Flüchtlinge in Britisch-Indien, wobei die Zahlen durch laufende Forschungen ständig nach oben korrigiert werden müssen. Die enorme Grösse und die uneinheitliche Administration des indischen Subkontinents, der in direkte britische Herrschaftszonen und mindestens 568 Fürstenstaaten untergliedert war, werden aber niemals genaue Zahlen generieren lassen. Die Grabstätten, die in einem miserablen Zustand sind, sind Zeugnisse gelebter Solidarität zwischen den jüdischen Gemeinden Indiens und ihren verfolgten Religionsbrüdern und -schwestern aus Europa, aber auch der Metropole Bombay mit den Holocaustflüchtlingen, die sich wiederum durch ihr Engagement in die Geschichte der heutigen Millionenmetropole eingeschrieben haben.

Naresh Fernandes weiss weiters zu berichten:

„Viele der damals Exilierten wurden fester Bestandteil der Bombayer Society, und man kann kaum ermessen, wie viel die moderne indische Kunstszene ihnen zu verdanken hat: Rudolf von Leyden, Walter Langhammer und Emanuel Schlesinger hatten farbige Reproduktionen der modernen Meister im Gepäck, brachten Ideen in die Salons der Stadt und öffneten vielen Künstlern die Augen für eine neue Geisteswelt, so dass F. Husain, F.N. Souza und K.H. Ara 1947 das Progressive Artists Movement gründeten, das sich zum Ziel setzte, die Geschichten ihrer gerade unabhängig gewordenen Nation neu und anders zu bebildern."

Dr. Margit Franz ist wissenschaftliche Projektmitarbeiter des Fachbereiches Zeitgeschichte des Institutes für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und des Vereins Clio-Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit. Ihre zeithistorischen Forschungen widmen sich u.a. der Erarbeitung des Exils in Indien. Mehr zur fotografischen und wissenschaftlichen Dokumentation der Grab- und Gedenkstätten in Chinchpokli: Margit Franz, Gateway to India: Deutschsprachiges Exil zwischen britischer Kolonialherrschaft, Maharadschas und Gandhi. Graz: Clio 2015 (März).

Alle Fotos: M. Franz, mit freundlicher Genehmigung.

1  http://www.jewishgen.org/databases/Cemetery/tree/CemList.htm, 30.12.2014.

2  In: The New Republic, 28.11.2008. Online: http://www.tnr.com/article/politics/weve-never-felt-scared, 30.12.2014.

3  http://www.sueddeutsche.de/politik/juden-in-indien-wir-hatten-nie-angst-bisher-1.363194, 30.12.2014.

4  Informationen in Klammern geben Herkunftsländer bzw. -orte mit dem Jänner 1938 der Bestatteten an und stammen aus diversen Datensammlungen.