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Armin Eidherr
Abraham Teitelbaum:
Warschauer Innenhöfe. Jüdisches Leben um1900 – Erinnerungen.
Aus dem Jiddischen von Daniel Wartenberg.
Herausgegeben von Frank Beer
Göttingen: Wallstein Verlag 2017
234 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit historischen Fotografien
Euro 25,60
ISBN 978-3-8353-3138-9
In Buenos Aires erschien nach dem Zweiten Weltkrieg von 1946 bis 1966 die wichtige Buchreihe “dos poylishe yidntum” mit immerhin 175 oft sehr umfangreichen Bänden, die dem polnischen Judentum mit historiografischen, autobiografischen, literarischen Werken ein Denkmal aus Büchern zu schaffen beabsichtigte. Schon 1947 kam in dieser Reihe ein erstaunliches Buch mit dem Titel „varshever heyf. mentshn un gesheenishn” heraus, das genau siebzig Jahre später, 2017, in deutscher Übersetzung mit zusätzlichen Kommentierungen im verdienstvollen Wallstein-Verlag veröffentlicht wurde. Es fiel auf und gefiel, was sich anhand einer doch grösseren Anzahl von ausschliesslich positiven Rezensionen feststellen lässt. Ihnen kann in jeder Hinsicht zugestimmt werden. Und ihnen soll diese Besprechung hinzugefügt werden, weil jene vielleicht schon vergessen werden und ein paar Aspekte, die in ihnen etwas mehr Betonung verdient hätten, hier Erwähnung finden können, um das Buch auch weiterhin all jenen wärmstens zu empfehlen, die generell am ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, speziell an der polnisch-jüdischen Geschichte und ganz besonders an der jiddischen Kultur interessiert sind, die in ihrer ersten modernen Blütezeit – Yitskhok Leyb Perets, der Anführer der jiddischen Literaturszene lebte noch in Warschau und nahm sich des jungen Abraham Teitelbaums an – in vielen Aspekten geschildert wird.
Der Autor des Buches ist der vor allem als jiddischer Theater- und Filmschauspieler sowie Regisseur bekannte Abraham Teitelbaum, der von 1889 bis 1947 lebte. Neben dem uns nun auf Deutsch vorliegenden Buch verfasste er einige weitere, von denen eine umfangreiche Shakespeare-Monografie (New York 1946) und seine kulturgeschichtlich besonders wertvollen Reiseberichte, die 1935 ebenfalls in New York unter dem Titel “fun mayne vanderungen” herauskamen, erwähnt und auch einmal übersetzt zu werden verdienen. Unter anderem enthält “fun mayne vanderungen” eine umfangreiche und sehr ergreifende Schilderung von Teitelbaums Besuch der Oberammergauer Passionsspiele im Juli 1930.
Doch zurück zu den Warschauer Innenhöfen. Wenn man sich eine richtige Vorstellung davon machen will, welche eminente Rolle die Innenhöfe im Warschauer und überhaupt im osteuropäisch städtischen jüdischen Leben spielten, wie sie als Lebenswelten zu verstehen sind, dann ist das heute auch in der touristischen Spurensuche nicht mehr möglich, da sie mitsamt dem Leben darin im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. In einigen Städten, wie beispielsweise in Łódź, sind zumindest viele von diesen grossen Höfen noch geblieben. Um so wichtiger sind Bücher von einem historiografischen Rang, wie vor allem das von Abraham Teitelbaum, die die Erinnerung daran plastisch und sprachlich überragend, was die deutsche Übersetzung beeindruckend nachzuformen schafft, verewigt. Die Welt, die dieses Buch enthält und erhellt, ist mit ihren historischen und politischen Hintergründen, ihren religiösen Bräuchen und Festen, mit ihren Traditionen, ihren ideologischen Zersplitterungen und kulturellen Strömungen und Angeboten eine oft fremd und unbekannt gewordene. Und Dinge, die Teitelbaum bei dem jiddischen Lesepublikum seiner Zeit noch als selbstverständlich bekannt voraussetzen konnte, sind dies heute längst nicht mehr. Dem trägt die ganz und gar vorbildliche Edition durch detaillierte, interessant zu lesende Kommentierungen durch den Herausgeber Rechnung, die einen Wert für sich darstellen und nicht nur ein vollständiges Verständnis des Textes garantieren, sondern dabei sachlich und klar ein kulturgeschichtliches Panorama des ostjüdischen Lebens schaffen, das auch über Teitelbaums Buch hinaus für die Beschäftigung mit den Jiddischkulturen nützlich und notwendig ist.
Ich möchte abschliessend noch den Wunsch äussern, ab der nächsten Auflage – nach dem Vorbild von Eva Gesine Baurs schönem Buch Mozarts Salzburg – den Warschauer Innenhöfen einen historischen und einen zeitgenössischen Stadtplan der beschriebenen jüdischen Warschauer Gebiete beizugeben. Dass diese Pläne fehlen, ist ein echtes Manko, da das Topografische bei Teitelbaum mehr darstellt als zufällige Wohnadressen und dergleichen. Und dazu gehört, was für ein Werk von solch einem historiografischen und literarischen Wert selbstverständlich seine sollte, auch ein Namensregister („Wo wurde denn nun überall etwa Abraham Goldfaden erwähnt? Und findet sich eigentlich irgendwo in dem Buch ein Hinweis auf den grossen jiddischen Romancier Scholem Asch?“) und eines der Örtlichkeiten und Strassen („In welchem Zusammenhang kommt zum Beispiel die Świętokrzyska-Strasse vor? Und wo findet sich die sehr denkwürdige Begegnung in der Buchhandlung Berlinerbloy?“).