„Mein Schtetl, das sind die Leute, die darin wohnen, nicht der Ort, die Gebäude oder die Strassen."1 Abgesehen von dieser metaphorischen Auffassung des Begriffs stellte ein „Shtetl" die traditionelle Siedlungsform der in Osteuropa lebenden Juden und Jüdinnen dar. Es war ein jüdisches Zentrum in einer nichtjüdischen, oftmals bäuerlichen Umgebung und konnte eine Kleinstadt für sich oder ein eigenes Viertel in einer Stadt sein.2 Der folgende Beitrag beleuchtet die Gesellschaftsordnung und sozialen Hierarchien innerhalb der galizischen Shtetln am Ende des 19. Jahrhunderts und beschreibt den Status der Frauen innerhalb der Shtetlgemeinschaft.
Kennzeichnend für ein Shtetl war, dass es über eigenständige kulturelle und soziale Einrichtungen verfügte. Dazu zählten eine Synagoge, eine Schule, ein Bad für rituelle Waschungen sowie ein Friedhof. Ein Shtetl konnte einen dörflichen bis städtischen Charakter aufweisen, wobei die jüdische Bevölkerung zumeist die Mehrheit bildete. In den Dörfern Galiziens setzte sich die Shtetlgemeinschaft aus zwei armen, traditionsgebundenen und unterschiedlichen kulturellen Gruppen zusammen - der Landbevölkerung und der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft. In Folge der Erschliessung vieler ländlicher Shtetln durch das Eisenbahnnetz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Bahnhöfe zu den wichtigsten Berührungspunkten zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Händlern, Besuchern und Bauern. Direkt vom Bahnhof führte vielerorts eine lange Strasse zum Marktplatz, dem Zentrum des Shtetls. Dieser war von den „besseren" Häusern umgeben, offen angelegt und dort erfolgte der Austausch zwischen städtischen und ländlichen Produkten.3
Innerhalb der galizischen Shtetln bildeten der Bahnhof, das eigene Haus, der Marktplatz, die Synagoge sowie das Bad die vorrangigen Kommunikationsstätten der jüdischen Bevölkerung. Die Juden und Jüdinnen eines Shtetls wussten alles voneinander. Denn jeder/jede Einzelne war für den moralischen Lebenswandel der Gemeinschaft verantwortlich.4
Das Ansehen einer Person5 innerhalb eines Shtetls wurde von vier Prestigekriterien bestimmt: die „Gelehrsamkeit", das „Geld", die „Abstammung" und das „soziale Verhalten". Als wichtigstes Prestigemerkmal galt die Gelehrsamkeit. In Bezug auf das Geld als Prestigekriterium reichte der alleinige Besitz nicht aus. Es sollte „sinnvoll" eingesetzt werden, wie zum Beispiel für wohltätige Zwecke. Denn soziales Verhalten, als weiteres Kriterium in der galizischen Shtetlgesellschaft, bedeutete nicht nur materielle Werte zur Verfügung zu stellen, sondern auch persönliche Hilfe und Unterstützung zu leisten. Des Weiteren war die Abstammung, der „Jichus", für die Stellung in der ostjüdischen Gesellschaft von grosser Bedeutung. Wer Jichus besass, war von „vornehmer" Herkunft und verfügte somit über Gelehrsamkeit, Wohlstand und soziales Engagement über viele Generationen hindurch.6
Soziale Hierarchien innerhalb der Shtetlgemeinschaft
Die Shtetlgesellschaft war gekennzeichnet durch drei verschiedene Schichten: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht, die sich sozial wie auch beruflich voneinander unterschieden. Die zahlenmässig kleinste Gruppe bildete die Oberschicht, deren Angehörige religiös, sozial und wirtschaftlich den grössten Einfluss auf die Shtetlgemeinde ausübten. Dieser Schicht gehörten Gelehrte, Gemeindefunktionäre sowie Reiche an. Die Mittelschicht setzte sich aus jenen Personen zusammen, die in wirtschaftlichen Bereichen tätig waren. Zugehörige dieser Schicht wurden als „Balebatim" bezeichnet. Die grösste der drei Gruppen innerhalb der galizischen Shtetln stellte die Unterschicht dar. Sie umfasste jene Menschen, die handwerkliche oder andere körperliche Arbeit verrichteten. Doch auch innerhalb der einzelnen Schichten waren grosse materielle und soziale Unterschiede erkennbar. In der Oberschicht galt beispielsweise der Rabbiner als angesehenster unter den Gelehrten und war das Oberhaupt der jüdischen Gemeinschaft. Weit unter ihm stand der „Melamed", der Kleinkindlehrer, der seine Gelehrsamkeit zum Broterwerb nutzen musste. Die ebenfalls zur Oberschicht zählenden Gemeindefunktionäre übten die eigentliche Macht in der Shtetlgemeinschaft aus. Sie setzten unter anderem die Steuern fest und waren für die Bestellung des Rabbiners verantwortlich.7
Zwischen der Ober- und Mittelschicht gab es noch die Gruppe der „schejnen Jidn". Sie genossen hohes Ansehen innerhalb der orthodoxen jüdischen Shtetlgemeinschaft. Zwar galten alle Angehörigen der Oberschicht grundsätzlich als „schejne Jidn", aber umgekehrt zählte nicht jeder „schejne Jid" zur Oberschicht. Die Kriterien, die festlegten, ob ein Mann dieser Gruppe zugehörte, waren seine Gelehrsamkeit, sein soziales Engagement und auch die Häufigkeit und Intensität seiner religiösen Aktivitäten. „Schejne Jidn" hatten die Aufgabe, sich der Gemeinde zu widmen, ohne dafür eine finanzielle Entschädigung zu erhalten und wurden in allen Belangen der Gemeinschaft zu Hilfe gerufen.8
Die Mittelschicht bestand vorwiegend aus Geschäftsleuten. Sie wiesen keinen „Jichus" auf, waren wenig gelehrsam und kaum sozial engagiert. Überdies waren sie mit der traditionellen religiösen Lebensweise nicht wie die Oberschicht verwurzelt und richteten ihr Hauptaugenmerk auf ihre Geschäfte. Auch Kinder balebatischer Familien wurden wesentlich freier und weltoffener erzogen und besuchten oftmals öffentliche Schulen und erfuhren säkulare Bildung. Die grösste Gruppe in der galizischen Shtetlgesellschaft bildete die Unterschicht. Die Angehörigen dieser Schicht wurden als „Proste" bezeichnet und unterschieden sich vor allem durch ihren Bildungsgrad von den anderen Schichten. Zwar war das religiöse Studium auch für sie wichtig, aber oftmals konnten sie ihre Kinder nicht zur Schule schicken, da sie auf deren Verdienst angewiesen waren. Auch innerhalb der Unterschicht kristallisierte sich ein abgestuftes Rangsystem zwischen den Zugehörigen der einzelnen Berufsgruppen heraus. So waren Uhrmacher beispielsweise weit höher angesehen als Schneider oder Schuhmacher. Lastenträger, Wässerträger, Fuhrleute, Musikanten sowie Bettler und Luftmenschen nahmen dagegen die untersten Stufen ein.9
Die Frauen innerhalb der orthodoxen jüdischen Gesellschaft im Shtetl
Die Frau erreichte ihren sozialen Status nicht als eigenständige Person, sondern durch ihre Stellung als Ehefrau und Mutter. Für Frauen gab es keine eigene Bezeichnung. Man sprach sie in der direkten Anrede entweder bei ihrem Vornamen oder als „Baleboste"10 an. Die Frauen wurden erst durch ihre Heirat zu einem vollwertigen Mitglied der jüdischen Gemeinschaft. Für ein Mädchen und deren Eltern hatte die Ehe somit oberste Priorität. Wenn sich Familien die Mitgift für die Verheiratung ihrer Tochter nicht leisten konnten, kam die jüdische Sozialfürsorge für die Aussteuer und die Mitgift auf, wobei die Höhe der Mitgift im Verhältnis zur Gelehrsamkeit des zukünftigen Ehemannes stand. Ein besonders guter Student bekam nicht nur eine hohe Mitgift von seinen Schwiegereltern, sondern erhielt von ihnen auch Kost und Logis, um sein religiöses Studium fortzusetzen. Folglich war die Gelehrsamkeit das wichtigste Instrument sozialer Beweglichkeit innerhalb der jüdischen Shtetlgesellschaft.
Die Hauptaufgabe der Frau war es indessen, eine fromme, tugendhafte und würdige Ehefrau sowie eine gute Baleboste zu sein. In Bezug auf ihre Rolle als Mutter war ihre wichtigste Aufgabe, die Kinder zu versorgen und diese fromm zu erziehen. Sie musste ihre Töchter auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau, Ehefrau und Mutter vorbereiten. Die Pflicht, die sie als Ehefrau hatte, war, ihrem Mann Beistand zu leisten und ihn in seinem religiösen Studium und in der Erfüllung seiner religiösen Pflichten zu unterstützen. Die sozialen Kontakte der Jüdinnen ausserhalb der eigenen Familie beschränkten sich ausschliesslich auf andere Frauen. Mit Männern hatte die Jüdin - wenn überhaupt - nur geschäftlich zu tun, meistens auf dem wöchentlichen Markt. Die Kultur des Shtetls liess den Frauen nur wenig Raum, sich kulturell oder geistig zu entfalten, wodurch die meisten Jüdinnen bis in das 20. Jahrhundert ungebildet blieben und weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren. Einen Ausweg aus der Isolierung bot die Wohltätigkeitsarbeit. Durch ihr eigenes soziales Engagement konnte die Jüdin Anerkennung innerhalb der Shtetlgesellschaft erwerben und ihr eigenes Prestige sowie das soziale Ansehen ihrer Familie steigern.11
Abschliessend kann festgestellt werden, dass dem Leben der orthodoxen jüdischen Bevölkerung in den galizischen Shtetln ein sehr strenges soziales und hierarchisches System zugrunde lag. Dennoch war die eigene gesellschaftliche Stellung nicht unveränderbar - zumindest für Männer. Diese konnten durch religiöse Gelehrsamkeit ihre soziale Stellung innerhalb der Shtetlgemeinschaft verbessern. Die Frau hingegen wurde als Ergänzung ihres Mannes gesehen und stand hinter diesem zurück. Ihre soziale Stellung wurde zuerst durch ihre Familie und dann durch ihren Mann bestimmt. Obwohl innerhalb des Shtetls eine strikte Zuordnung von Geschlechterrollen und -aufgaben herrschte, waren diese nicht immer zwingend. Ihre Interpretation und Umsetzung verlief durchaus unterschiedlich und lag im Ermessen jedes Einzelnen/jeder Einzelnen. n
1 Zborowski Mark, Herzog Elisabeth, Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. München 1991. S. 44.
2 Vgl. Hauman Heiko, Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930. in: Boskovska Nada, Collmer Peter, Gilly Seraina, Mumenthaler Rudolf, Werdt Christopher (Hg.), Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Wien 2002. S. 326, http://www.hagalil.com/galluth/shtetl/au3.htm#4.2%29%20Da
3 Vgl. Klanska Maria, Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. (= Literatur und Leben Bd 45). Wien/Köln/Weimar 1994. S. 111; Hoffman Eva, Im Schtetl. Die Welt der Polnischen Juden. Wien 2000. S. 25; Haumann Heiko, Kommunikation im Schtetl. S. 329f; Hödl Klaus, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien (=Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek Bd. 27 hg. von Konrad Helmut). Wien 1994. S. 33f.
4 Vgl. Haumann Heiko, Kommunikation im Schtetl. S. 332; Klanska Maria, Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938. S. 142.
5 Da die orthodoxe jüdische Gesellschaft ein patriarchalisches Ordnungssystem hatte, bezogen sich die Prestigekriterien nur auf die Männer und nicht auf die Frauen.
6 Vgl. Schwara Desanka, „Ojfn weg schtejt a bojm". Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongresspolen, Litauen und Russland 1881-1939 (= Lebenswelten osteuropäischer Juden. hg. von Haumann Heiko, Bd. 5). Köln/Weimar/Wien 1999. S. 154; Somogyi Tamar, Die Schejnen und die Prosten. Untersuchungen zum Schönheitsideal der Ostjuden in Bezug auf Körper und Kleidung unter besonderer Berücksichtigung des Chassidismus. (= Kölner ethnologische Studien 2). Berlin 1982. S. 54f, 57f; Glau Angelika, Jüdisches Selbstverständnis im Wandel. Jiddische Literatur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur. hg. von Görzinger Karl E. Bd 6). Wiesbaden 1999. S. 258; Klanska Maria, Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938. S. 125.
7 Vgl. Klanska Maria, Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938. S. 113f; Somogyi Tamar, Die Schejnen und die Prosten. S. 58f , 62-66.
8 Dennoch stand der mangelnde Reichtum einer hohen sozialen Stellung nicht im Wege. Wenn jemand reich, aber ungebildet war, konnte er sein eigenes Unwissen durch seine Kinder oder durch Wohltätigkeit ausgleichen. (Vgl. Somogyi Tamar, Die Schejnen und die Prosten. S. 58-61; Klanska Maria, Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938. S. 149.)
9 Vgl. Zborowski Mark, Herzog Elisabeth, Das Schtetl. S. 112; Somogyi Tamar, Die Schejnen und die Prosten. S. 66, 68 (Fussnote 2), 68f, 70f.
10 „Balboste" bedeutete Wirtin, Herrin des Hauses und des Haushaltes. (Vgl. Somogyi Tamar, Die Schejnen und die Prosten. S. 73.)
11 Vgl. Zborowski Mark, Herzog Elisabeth, Das Schtetl. S. 60f; Schwara Desanka, Humor und Toleranz. S. 94; Somogyi Tamar, Die Schejnen und die Prosten. S. 74f, 79f, 99f.