„Die Kleinstadt ist mittelgross, fast nur von Juden besiedelt. Deswegen gehören alle Geschäfte und der Handel den Juden ... Deswegen besetzen jüdische Geschäfte einen Teil des Mauerwerkes auf dem Kirchhof, und von Juden geführte Gasthäuser stehen fast neben dem Haus der Notleidenden und dem Pfarrhaus ..."
Dieses Zitat aus der Zeitung „Pandelys" (1913) zeugt wie auch andere Geschichtsquellen davon, dass eine Kleinstadt in Litauen in der Vergangenheit ohne jüdische Einwohner unvorstellbar gewesen wäre. Eine Vielzahl von Geschäften, die von Juden geführt wurden, und die von der mosaischen Religion festgelegte Lebensweise beeinflussten nicht nur die spezielle kulturelle Atmosphäre der Kleinstädte, sondern auch ihr traditionelles Bild.
Kupiskis (Foto: Etnographie Museum von Kupiskis)
Seit ihrer Niederlassung im modernen Litauen (im 16. Jahrhundert, als das Grossfürstentum Litauen gegründet wurde) bildeten die Juden einen wirtschaftlich wichtigen Einwohnerteil, der aufgrund der von den Herrschern gegebenen Vorrechten die Entwicklung der staatlichen Wirtschaft sowie der Städte und Kleinstädte anregte. Finanziell interessierte Herrscher unterstützten geschäftliche Tätigkeiten reicher Juden: Sie haben ihnen Landbesitz, Zollämter, Brücken, Fähren, Sammlungen verschiedener Abgaben und Gebühren usw. gewährt sowie den freien Handel mit landwirtschaftlichen Produkten und das Holzgeschäft erlaubt.1 Die Rolle der Juden war auch in den privaten und kirchlichen Herrschaftsgebieten sehr wichtig, wo sie Kneipenmieter und Geschäftsführer anderer Handelsangelegenheiten waren.
Kupiskis (Foto: Etnographie Museum von Kupiskis)
In den Kleinstädten ist die Zahl der Juden besonders nach dem Nordkrieg und der darauffolgenden Pest gewachsen. Zu jener Zeit musste man die leeren Häuser füllen, damit die Einnahmen der Kleinstadteigentümer und des Staates wegen des grossen Einwohnerrückgangs nicht sanken. Die Kleinstädte sind Anziehungspunkte für Juden geworden, weil christliche Bewohner der grossen Städte aufgrund ihrer Angst vor der Konkurrenz mehrere Hindernisse für die Juden errichteten, die es ihnen erschwerten, ihre Geschäfte auszubauen. Sowohl die von der Stadtverwaltung erlassenen Beschränkungen als auch antijüdische Propaganda haben Juden gezwungen, in die Kleinstädte umzuziehen. Schon im 18. Jahrhundert haben Juden in diversen Ortschaften mehr als die Hälfte der Einwohner ausgemacht.2
Seda 1939 (Foto: Litauisches Nationalmuseum)
Ende des 18. Jahrhunderts ist Litauen Bestandteil des russischen Imperiums geworden, womit die Regierungstoleranz für Juden beendet wurde. Nachdem Russland die Gebiete vom Grossfürstentum Litauen erobert hatte, stellte sich erneut die Frage: Wohin mit der jüdischen Bevölkerung? Litauen ist zusammen mit anderen westlichen Imperiumsgebieten in die „Judenwohngrenze" (Gebiet, in dem Juden wohnen dürfen) geraten. Die strenge zaristische Politik war der Faktor, der das Erscheinungsbild der litauischen Kleinstädte beschleunigt hatte. Im Jahre 1795 wurde es den Juden verboten, Landwirtschaft zu betreiben, und gemäss einem Reglement über Juden von 1804, mussten sie innerhalb von drei Jahren die Dörfer verlassen. Es wurde vorgesehen, dass ungefähr 60.000 jüdische Familien aus den Dörfern in die Städte umziehen mussten.3 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es etwa im Kaunaser-Kreis 38.000 Einwohner, davon waren 22.000 Juden.4 In einzelnen Kleinstädten machten sie sogar 80-90% der Bevölkerung aus.5 Ein ähnlicher Zustand herrschte in ganz Litauen bis zum Jahr 1941 vor.
Skuodas (Foto: Litauisches Zentralstaatsarchiv)
Da die Juden keine Möglichkeit mehr hatten, Landwirtschaft zu betreiben, richteten sie sich im 19. Jahrhundert an den handelsfreundlichen Orten der Kleinstädte ein, d.h., neben dem Marktplatz oder in den Hauptstrassen nicht weit vom Marktplatz entfernt. Deswegen waren die Zentren der Kleinstädte zweimal oder dreimal enger bebaut als die Vororte. Dort sind vor allem viele Handelsunternehmen entstanden. Die Handelsgebäude haben die architektonische Atmosphäre der Kleinstadt geprägt und ihr traditionelles Bild gestaltet. Zwar sahen sie oft ganz arm aus, und optisch konnten sie sich nicht mit den dominanten Sakralgebäuden messen, aber ihre gesellschaftliche Bedeutung war nicht geringer: Sie waren das tägliche Lebenszentrum aller Stadtbewohner. Auf den Marktplätzen standen oft die sogenannten Ladenreihengebäude, die verschiedene Gestalten hatten; an den Marktplatzrändern und auf den Hauptstrassen gab es einzelne Läden und Kioske, Kneipen oder Gasthäuser. In mehreren Wohnhäusern gab es auch Geschäfte, in denen man Kleinwaren verkaufte. Handelsgebäude unterschieden sich natürlich von anderen Kleinstadtgebäuden, weil sie nicht nur unterschiedliche Formen und Ausmasse hatten und ihre Fenster und Türen anders errichtet waren, sondern auch, weil es Werbeschilder gab. Man schrieb immer den Namen des Eigentümers darauf, manchmal ergänzte man einen Text mit einem Bild, das der Tätigkeitsart des Unternehmens entsprach (z.B. Schuhe, Teekanne, Bagel usw.). Auf die Tür und an die Fensterläden hängte man die Werbung für einzelne Waren und Marken. Die Hinweise, dass es in einem Haus ein Geschäft gab, wurden auch direkt auf den Wänden der während der Zwischenkriegszeit gebauten steinernen Handels- und Wohngebäuden markiert. Im 19. Jahrhundert waren litauische Medien verboten, deswegen waren Hinweise auf den Schildern in litauischer Sprache ebenfalls verboten. Als dieses Verbot im Jahre 1904 abgeschafft wurde, aber die russische Sprache dennoch einige Zeit die Öffentlichkeit dominierte, freuten sich viele Litauer darüber, dass Juden auch litauische Schilder auf die Läden und Bierhäuser hängten.
Grinkiskis 1939 (Foto: Litauisches Nationalmuseum)
Abgesehen davon, dass es im Laufe der Zeit, besonders nach dem Jahr 1918, als Litauen ein unabhängiger Staat geworden war, in den Kleinstädten immer mehr Handelsunternehmen und Geschäftsläden gab, die Litauern gehörten, dominierten jüdische Händler bis zum Anfang der mit dem Zweiten Weltkrieg verbundenen Katastrophen. Nazistische und sowjetische Besetzungen haben das Bild und die kulturelle Atmosphäre der litauischen Kleinstädte dramatisch verändert. Mehr als 90% der Juden sind vernichtet worden. Private Tätigkeiten wurden verboten, es gab keine Jahr- und wöchentliche Märkte mehr.
Rietavas 1933 (Foto: Nationalmuseum von M.K.Ciurlionis)
Die Kleinstadtplätze haben damit ihre Verwendungszwecke verloren; in mehreren Kleinstädten sind sie in kleine Grünanlagen umgewandelt worden. Das, was jetzt aus einer litauischen Kleinstadt der Vorkriegszeit, wo immer intensiv gehandelt wurde, noch übrig geblieben ist, sind nur trübe Fragmente des Vergangenheitsbildes: veränderte und heruntergekommene Gebäude, in denen es ehemals vermutlich Geschäfte gab. Aber in den Museen werden die Fotos aufbewahrt, in den Archiven kann man alte Pläne der Kleinstädte finden, auf denen lange Einwohnerlisten stehen, wo man jüdische Händlernamen und -vornamen findet.
Rumsiskes 1939 (Foto: Litauisches Nationalmuseum)
In dem Beitrag benutzte Fotos sind mit freundlicher Genehmigung von
Etnographie Museum von Kupiskis (Litauen)
Litauisches Nationalmuseum
Litauisches Zentralstaatsarchiv
Nationalmuseum von M.K.Ciurlionis (Litauen)
1 Atamukas S. Lietuvos �ydų kelias. Nuo XIV a. iki XX a. pabaigos. Vilnius: Alma littera, 1988, S. 19.
2 Idem, S. 25.
3 Aleksandravi�ius E., Kulakauskas A. Carų vald�ioje. XIX a. Vilnius: Baltos lankos, 1996, S. 318.
4 Miškinis A. Lietuvos miesto gyvenvietės ir jų funkcijos XIX a. pabaigoje - XX a. pirmojoje // Statyba ir architektūra. IV. Vilnius: Mintis, 1964, S. 302.
5 Idem, S. 304-315.