Die jüdische Gemeinde von Wiener Neustadt etablierte sich bereits im 13. Jahrhundert neben Wien und Krems zu einer der bedeutendsten auf heute österreichischem Gebiet. Ihre Blütezeit erlebte sie im 15. Jahrhundert als Wiener Neustadt unter Friedrich III. Kaiserresidenz war2 und der weit über die Landesgrenzen bedeutende Rabbiner Israel bar Petachja, besser bekannt unter dem Namen Isserlein, in der Stadt wirkte.3 Nach der Ausweisung aller Juden aus der Steiermark und aus Wiener Neustadt 1496 unter Maximilian I. und der „Grossen Judenaustreibung" ab 1669 kam es erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Wiederansiedelung von Juden in Wiener Neustadt. Die Israelitische Kultusgemeinde wurde 1871 gegründet und 1892 auf Basis des Österreichischen Israelitengesetzes von 1890 statuiert. Ab 1870 diente die umgebaute Wagenremise einer ehemaligen Schmiedewerkstatt der jüdischen Gemeinde als Bethaus, dieses und das angrenzende Grundstück mit der Adresse Baumkirchnerring 4, auf dem die neue Synagoge errichtet werden sollte, wurden 1884 angekauft.4 Die Grundstücke lagen nördlich der Altstadt ausserhalb der ehemaligen Stadtmauer.
Die Pläne für die Wiener Neustädter Synagoge stammten vom damals sehr bedeutenden und angesehenen Architekten k.k. Baurat Wilhelm Stiassny (1842 - 1910). Er war einer der meist beschäftigten Architekten seiner Zeit. Sein Werk umfasst ca. 180 Bauten, zahlreiche Miethäuser in Wien, karitative Einrichtungen, die er vor allem im Auftrag der bedeutenden jüdischen Familien Rothschild und Königswarter errichtete, Schulen, Kindergärten und vieles mehr. Stiassny werden insgesamt neun Synagogen zugeschrieben. Die Synagogen in Malacky (Slowakei), Ivano-Frankivsk (Ukraine), Cáslav (Tschechien) und die Jerusalmsynagoge in Prag sind erhalten geblieben. Die Synagogen in Teplice (Tschechien) und Jablonec nad Nisou (Tschechien), die „Polnische Schul" in Wien, sowie die Synagoge in Královské Vinorahdy (heute ein Bezirk Prags) wurden wie die Wiener Neustädter Synagoge im Zweiten Weltkrieg oder in den Folgejahren zerstört. Neben seiner Tätigkeit als Architekt war Stiassny auch politisch sehr aktiv, von 1878 bis zu seinem Tod war er Wiener Gemeinderat und 1894/95 auch Stadtrat. Ab 1879 gehörte er dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an, er war Mitbegründer des Jüdischen Museums in Wien und des Jüdischen Kolonisationsvereins zu Wien und war in zahlreichen anderen jüdischen Vereinen tätig.5
Die Grundsteinlegung für die Wiener Neustädter Synagoge erfolgte am 16. März 1902.6 In nur einem halben Jahr Bauzeit wurde die Synagoge von Baumeister Franz X. Schmidt aus Baden unter der Bauleitung von Architekt Ignaz Reiser errichtet, am 18. September 1902 fand die Einweihung statt.7 Die Synagoge in Wiener Neustadt wurde wie alle Synagogen Stiassnys im Stil des Späthistorismus mit maurisch-orientalischen Elementen errichtet. Dieser sehr freie Baustil wurde auch von anderen bedeutenden Architekten (z.B. Ludwig von Förster) für Synagogenbauten verwendet, er wurde aber auch heftig kritisiert, da er als fremdartig empfunden wurde und dem Antisemitismus Nahrung gab. Stiassny wollte damit an die Blütezeit des Judentums im maurischen Spanien vom 9. bis zum 15. Jahrhundert erinnern, dies ist unter anderem seiner Rede anlässlich der Einweihung der Wiener Neustädter Synagoge zu entnehmen.8 Maurisch-orientalische Elemente sind unter anderem der Hufeisenbogen bei Fenstern und Türen und wie in Wiener Neustadt als markanter Abschluss des Mittelfeldes der Hauptfassade, die Rautenmuster in den Zierfeldern der Fassade und im Wanddekor des Innenraumes, der untere Stalaktitenabschluss des Kranzgesimses, die Alhambrakapitelle der Säulen und das auffällige Streifendekor in Rot- und Gelbtönen.
Das Grundstück hatte annähernd die Form eines Rechtecks und war nur von der südseitigen Schmalseite vom Baumkirchnerring aus zugänglich. Daraus ergab sich die Nord-Südausrichtung des Gebäudes, der Haupteingang lag im Süden, die Apsis mit dem Almemor und dem Toraschrein im Norden. Dies ist bemerkenswert, da diese Ausrichtung der in Europa üblichen Ostausrichtung der Synagogen widersprach.9 Bei einigen anderen Synagogen wurde eine für die Ostausrichtung ungeeignete Lage des Grundstücks durch entsprechende Anpassungen im Grundriss ausgeglichen. Ein interessantes Beispiel für diese Vorgehensweise findet sich bei Stiassny selbst. Bei der Synagoge in Královské Vinorahdy wurden das Hauptportal und die darüber liegenden Fenster der Strassenfassade blind ausgeführt, da sich dahinter der nach Osten gerichtete Toraschrein befand. Warum in Wiener Neustadt eine derartige Anpassung unterblieb, kann heute nicht mehr geklärt werden, es ist allerdings anzumerken, dass sich bereits im alten Bethaus der Almemor im Norden befunden hatte.
Zum Baumkirchnerring hin war das Grundstück mit einem Eisenzaun abgeschlossen, durch ein zweiflügeliges Tor gelangte man über einen Vorgarten zu den drei strassenseitigen Eingängen der Synagoge. Die Hauptfassade der Synagoge war vertikal dreigeteilt. Die relativ breiten Eckrisalite wurden durch Eckpilaster zusätzlich verstärkt, nach oben waren sie mit einer Attika, die durch gezackte, fast doppelt so hohe Eckelemente betont wurde, abgeschlossen. Der Mittelteil trat um 1,10m hinter die seitlichen Bauteile zurück, den oberen Abschluss bildete ein reich dekorierter Hufeisenbogen, der die Eckrisalite überragte und auf dessen Scheitel die von einem Strahlenkranz bekrönten Gesetzestafeln angebracht waren. In der Mitte des Bogens befand sich ein Rosettenfenster mit einem Durchmesser von 3m, dieses fand seine Teilung durch den Davidstern und war mit einem zwei- oder mehrfarbigen Meanderband eingefasst. Halbkreisförmig darüber war in goldener hebräischer Schrift der Vers „Denn mein Haus wird Haus des Gebetes genannt (werden) für alle Völker" (Jes, 56, 7) angebracht. Horizontal gegliedert wurde die Hauptfassade durch das starke Gurtgesims und die parapethohe Sockelzone des Galeriegeschosses. Das Gurtgesims und die Sockelzone wurden nur durch den vorgesetzten Dreiecksgiebel des Hauptportals durchbrochen. Die Schmuckfassade war lediglich um die Breite der Eckrisalite an den Seitenfassaden fortgesetzt, die restlichen Fassaden waren glatt ausgeführt.
Der linke der drei strassenseitigen Eingänge führte in das Rabbiner- und Kantorzimmer, über den rechten Eingang gelangte man in das Hauptstiegenhaus, das bis in den Dachboden führte und neben der im Nordwesten gelegenen eisernen Aussentreppe den Zugang zur Frauengalerie ermöglichte. Das Hauptportal in der Mitte führte in die Vorhalle, von welcher man über drei grosse Türen in den Betraum gelangte. Dieser bot Platz für 182 Männer, die Sitzplätze waren in 13 Reihen auf beiden Seiten des Mittelganges angeordnet. Gegenüber den Eingängen befand sich im Norden durch einen reich verzierten Bogen abgetrennt und um vier Stufen erhöht die Apsis mit dem Almemor und dem Toraschrein. Auf einer verkleideten Eisenkonstruktion ruhte die Frauengalerie, sie bot Platz für 98 Sitze, die U-förmig im Osten und Westen in zwei Reihen und im Süden in vier Reihen angeordnet waren. Ausserdem waren im Galeriegeschoss strassenseitig noch ein Kanzleiraum, eine Toilette und das Sitzungszimmer untergebracht.
1919 wurde die Synagoge im orthodoxen Sinne umgebaut, der Almemor wurde in die Mitte gerückt, das Omed rechts positioniert und die Frauengalerie mit einem Gitter abgeschlossen.10 Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Synagoge entweiht, der Innenraum verwüstet, Fenster zerschlagen und der Davidstern aus dem Rosettenfenster der Hauptfassade heraus gemeisselt. Im Gegensatz zu vielen anderen Synagogen wurde die Wiener Neustädter nicht komplett zerstört, da sich das Gebäude zu diesem Zeitpunkt de facto bereits im Besitz der Stadt befand und weiter genutzt werden sollte.11 Schon am 4. Oktober 1938 richtete der damalige Bürgermeister ein Ansuchen an die Kreisleitung der NSDAP, die Synagoge zu beschlagnahmen12 und Anfang November 1938 existierten bereits detaillierte Pläne und eine Kostenschätzung für einen Umbau.13 1940 kaufte die Stadt um 19.000,- RM den gesamten Gutbestand der EZ 580 Grundbuch Wiener Neustadt Vorstadt, dieser umfasste neben der Synagoge das alte Bethaus, den Friedhof samt Gärtnerwohnhaus und Totenhalle und einen angrenzenden Acker.14 Während des Krieges und in den Folgejahren wurde die Synagoge als Lager genützt.15 1953 wurden die Liegenschaften an die Israelitische Kultusgemeinde Wien zurückgestellt.16 Diese verkaufte die Synagoge und das angrenzende alte Bethaus an den Österreichischen Gewerkschaftsbund, die Gebäude wurden abgerissen.17 Heute steht das an der Stelle der Synagoge errichtete Anton Proksch-Haus leer, an seiner Fassade ist eine Gedenktafel angebracht.
Für die virtuelle Rekonstruktion der Wiener Neustädter Synagoge mittels CAD-Software bildeten die in Kopie im Stadtarchiv Wiener Neustadt erhaltenen Baupläne aus den Jahren 1901 und 1902 die Grundlage. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl an Fotografien, die den gesamten Zeitraum von der Grundsteinlegung, über die Devastation 1938 bis zum Abbruch der Synagoge 1953 umfassen. Aus den frühen 1950ern ist auch eine Farbfotografie der Hauptfassade erhalten geblieben. Einige Informationen konnten der Baubeschreibung des Schätzgutachtens der Liegenschaft, das 1947 vom Bauamt Wiener Neustadt erstellt wurde, entnommen werden. Der Vergleich mit anderen, vor allem den erhalten gebliebenen Synagogen von Wilhelm Stiassny, ermöglichte die Detaillierung und Ergänzung von Bauteilen und Dekors die weder in den Plänen dargestellt noch auf Fotografien festgehalten sind.
Das dreidimensionale Computermodell wurde mittels Render-Software weiterbearbeitet. Durch die Festlegung von Oberflächenmaterialien, natürlichen und künstlichen Beleuchtungssituationen und Kamerapositionen, kann die nicht mehr existierende Synagoge wenigstens am Computer wieder aus jeder Perspektive und zu jeder Tages- und Nachtzeit betrachtet werden.
1 Susanne Schwarz: Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Wiener Neustadt; Diplomarbeit TU-Wien, 2011
2 Gerhartl, Gertrud; Wiener Neustadt. Geschichte, Kunst, Kultur, Wirtschaft; Braumüller, Wien 1978, S.104ff
3 Pollak, Max; Die Juden in Wiener Neustadt, ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Österreich, Jüdischer Verlag Wien, Wien 1927, ab S.51
4 Sulzgruber, Werner; Das jüdische Wiener Neustadt. Geschichte und Zeugnisse jüdischen Lebens vom 13. bis ins 20. Jahrhundert; Mandelbaum Verlag, Wien 2010, S. 15ff, S. 20 und S.31 und Grundbuchsauszug Wiener Neustadt-Vorstadt EZ 580
5 Tanaka, Satoko; Dissertation „Wilhelm Stiassny (1842-1910), Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität", Wien 2009, S.20f, S.43 bis 97 und S.29ff
6 Dr. Bloch´s Österreichische Wochenschrift, 21. März 1902, S.196
7 Dr. Bloch´s Österreichische Wochenschrift, 26. September 1902, S. 630
8 Dr. Bloch´s Österreichische Wochenschrift, 26. September 1902, S. 630
9 Kessler, Katrin; Ritus und Raum der Synagoge, Michale Imhof Verlag, Petersberg 2007, S.74ff
10 Dr. Bloch´s Österreichische Wochenschrift, 5. September 1919, S. 389 und Pollak, Max; Die Juden in Wiener Neustadt, ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Österreich, Jüdischer Verlag Wien, Wien 1927, S.108
11 Flanner, Karl; Die Wiener Neustädter Synagoge in der Pogromnacht 1938, Dokumentation des „Industrieviertel-Museums" Wiener Neustadt, 1998/83, S.1
12 Industrieviertelmuseum Wiener Neustadt 103/6: Schreiben vom Verwalter der landesunmittelbaren Stadt Wiener Neustadt an die Kreisleitung der NSDAP vom 4. Oktober 1938
13 Industrieviertelmuseum Wiener Neustadt 103/6: Schreiben des Magistrats Wiener Neustadt Abt.3 an den Bürgermeister vom 4. November 1938
14 Stadtarchiv Wiener Neustadt: Akten Magistratdirektion - alter Bestand Nr.252, Kaufvertrag
15 Stadtarchiv Wiener Neustadt: Akten Magistratdirektion - alter Bestand Nr.252
16 Stadtarchiv Wiener Neustadt: Akten Magistratdirektion - alter Bestand Nr.98
17 Unterdünhofen, Barbara: Lehrveranstaltungsübung „Die Geschichte der Liegenschaft 2700 Wiener Neustadt, Baumkirchnerring 4 erzählt anhand des Grundbuchsauszuges und der Grundbuchs-Urkunden zu EZ6569, KG23443", 2008