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Willkommen in Yankels Wirtshaus!

Fabian BRÄNDLE

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Der amerikanische Historiker Glenn Dynner war unsicher, als er sich auf den Weg machte, im Center for Jewish History Manhattans über sein Dissertationsthema zu sprechen. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Wirtshauskultur im damals unter Fremdherrschaft stehenden Polen um 1850 zu erforschen. Würde sich überhaupt jemand für so ein exotisches Thema interessieren?

Umso überraschter war er, als er über 100 Zuhörerinnen und Zuhörer erblickte. „Mein Grossvater war Wirt in Bielsko-Biala", meinte eine Frau. „Meiner führte eine Kneipe in Zhitomir", rief ihm eine andere zu. Tatsächlich gehörte der Wirtsberuf zu den gängigsten ostjüdischen Berufen. Den dort ansässigen Juden waren, wie auch in Westeuropa, über Jahrhunderte hinweg viele Berufe nicht erlaubt worden. In sieben Städten der Grafschaft Bielsk waren beispielsweise von 1772 bis 1798 94 Prozent der Wirte (karzcmarzy) und 53 Prozent der Ausschenker (szynkarzy) jüdischen Glaubens. In den Dörfern dieser Region waren die Verhältnisse ähnlich, so dass man mit Fug und Recht von einer ostjüdischen Wirtshauskultur reden kann. Das Bewirten war in jenen Jahrzehnten so etwas wie eine „ethnische Ökonomie". Für den landbesitzenden Adel, der den Juden die Schank- und Schnapsbrennlizenzen ausstellte, war die Beziehung zu den jüdischen Wirtshauspächtern durchaus symbiotisch. So verdiente um 1790 die grossadelige Zamoyskifamilie rund 46 Prozent ihres Einkommens aus der Vergabe von entsprechenden Lizenzen. Mit dem Geld finanzierten die Adeligen einen statuskonformen Lebensstil. Der Adel liess Getreide anbauen und die Überschüsse in guten Erntejahren zu Wodka brennen, die christlichen Bauern konsumierten diesen - so die einfache Gleichung. Dazwischen standen als Händler und Wirte die Juden. Die Adeligen glaubten, nur die Juden seien nüchtern genug, um ein Wirtshaus führen zu können. Tatsächlich trank die polnische Landbevölkerung oft bis zum Exzess. Die Juden beherrschten einige Techniken, um eine Kneipe zu betreiben. So konnten sie in der Regel lesen und schreiben, waren versiert in einfacher Buchhaltung und vermieden auch Schulden. Und sie verstanden es, ruhig Blut zu bewahren, wenn die Gäste zu überborden drohten. Denn das Wirtshaus war nicht nur der Ort von Geselligkeit, Musik und Tanz, sondern auch von gewalttätigen Ehrkonflikten und Schlägereien. Neben polnischen Gästen waren jüdische Händler und Hausierer Hauptkunden. Sie waren angewiesen darauf, auch in der Fremde zu koscherem Essen zu kommen. Das Verhältnis zu den katholischen polnischen Bauern war manchmal gut, manchmal angespannt. So schätzten die Polen die jüdischen Wirte als weise Ratgeber bei persönlichen Problemen, potente Kleinkreditgeber und Experten in medizinischem Wissen. Viele polnische und jiddische Sprichwörter zeugen davon. Doch manchmal erpressten die Gäste die Wirte auch, drohten mit Gewalt, schlugen drein, legten  gar Feuer. Oft hatten sie Zechschulden. Dann war es an den adeligen Grundbesitzern, ihre jüdischen Lizenznehmer zu schützen, was sie auch oft  taten. Manchmal mussten sie sich dem Druck der christlichen Bauern auch beugen und einen Wirt in die Wüste schicken. Für den Unglücklichen bedeutete dies Ungewissheit und einen sozialen Abstieg, manchmal  Auswanderung nach Amerika oder sogar ein Leben auf der Strasse. Viele Petitionen von Wirten finden sich in lokalen und regionalen Archiven. Sie zeugen von Streitereien und obrigkeitlichen Gunsterweisen. Im 19. Jahrhundert machten die Obrigkeiten die jüdischen Wirte für den grassierenden Alkoholismus der Polen mitverantwortlich. Sie initiierten Reformen und wollten den Schnapsausschank normieren. Juden sollten vom Schnapshandel ausgeschlossen werden. Dies war ganz im Sinne der Nationalisten, die sich immer antisemitischer verhielten. Neid auf den oftmals bescheidenen jüdischen Wohlstand war ein weiterer Motor für solche Haltungen. Zudem wurde den jüdischen Wirten unterstellt, ihre betrunkenen Gäste zu betrügen und um Hab und Gut zu bringen. Dabei schwangen Stereotypen vom „habgierigen Juden" mit. Viele Adelige umgingen die staatlichen Verbote, indem sie offiziell christliche Wirte einstellten. Die Geschäfte führten jedoch Juden weiter. Die staatlichen (russischen, preussischen, österreichischen) Behörden deckten immer wieder solche illegalen Praktiken auf. Die zahlreichen Untersuchungsberichte sind heute interessante QFuellen und eine der Grundlagen von Dynners Werk. Doch verhinderten Korruption und die Macht der Grundbesitzer meist ein effizientes Vorgehen. Viele Juden verlegten ihre Aktivitäten auch in den Untergrund. Sie schmuggelten Schnaps im grossen Stil, legten eigentliche Schmuggel-Netzwerke an.  Die obrigkeitlichen Verbote bedeuteten also keinesfalls das Ende der traditionellen ostjüdischen Wirtshauskultur, wie das ältere Geschichtsforscher noch geglaubt haben. Der Historiker Glenn Dynner hat die vielen Facetten dieser Kultur beleuchtet, vom Trinkspruch bis zur Spionagetätigkeit jüdischer Wirte, von den Repräsentationen in Literatur, Lyrik und Kunst bis hin zu politisierenden Wirten die ihre Gäste und deren Unabhängigkeitsgelüste gut kannten. Folgen Sie ihm in Jankels Wirtshaus!

Literatur: Glenn Dynner: Yankels Tavern. Jews. Liquor, and Life in the Kingdom of Poland. Oxford University Press 2014. 272 Seiten, Paperback, ISBN 978-0-19-020414-3 (erscheint im Jänner 2015)