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Schweigeprozesse

Dine PETRIK

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An dem Tag, der eine Zeit ankündet, die kommen muss, fing das Kind an zu gehen, aus dem Haus, durch die Gasse hinaus. Durch den im Wald mündenden Weg, der immer ferner erschien. Vom Weg abfallend bis zum Horizont, in dem die Sonne versank, streckte sich ein Tal mit Kornfeldern aus, worin der Wind sein unentwegtes Spiel trieb. Wie das Meer, dachte das Kind, das das Meer nie gesehen hatte, drüben, zwischen den Hügeln muss sich die alte Bernsteinstrasse verstecken, bis Rom, dachte es. Morgen früh.

 

Jahrein, jahraus tuckerten die SiS-Lastwägen der Russen die Gasse herauf, um Esterházys Hochwald abzuholen. Geschnitten und abgerindet wölbten sich die von Ketten gehaltenen Fichtenstämme beim Abtransport über die Laster. Nach starkem Regen blieben die Räder im Morast stecken. Die Bauern halfen mit Steinen und Pfosten aus.

Da war dieses Haus. Vor dem in der Gasse zurückgesetzten Haus blieb es stehen. Hineindenken in eine Herkunft, die zum Bleiben einlud. Nachdenken, warum an dem Haus jeder vorbei sah: Weiss getüncht, Sockel blau, spitzes Dach, Fenster klein, wie andere Häuser auch. Und ganz anders. Der Vorgarten ein Park mit Ornamenten aus Buchs. Die Wege voll weissem Kiesel. Schönbrunn, dachte das Kind, das Schönbrunn nie gesehen hatte. Da war diese Frau, die mit dem Kind sprach. Geredet wurde hier kaum, gebrüllt viel. Die Mutter wollte nicht, dass sich Frau Sirowatka mit dem Kind unterhielt, ihre Tochter Emmi besuchen, wollte sie nicht: Hat die Schwindsucht!

Herr Sirowatka war im Nachbarort im Sägewerk beschäftigt. Sowie er abends heim und die Gasse heraufkam, sammelte er mit Schaufel und Sack die Kuhfladen vom Boden auf, die er, mangels eigener Kühe, zur Düngung seiner Gärten brauchte. Er tat es ganz selbstverständlich, die Häme der Bauern kümmerte ihn nicht. Er redete kein Wort mit ihnen. Sohn Josef ebenfalls nicht. Wenn er auf der Gasse den Bruder des Kindes traf, konnte er Worte verlieren. Die zwei waren in etwa gleich alt, hatten den Krieg überlebt, der Bruder des Kindes als Deserteur.

A feige Sau warst, hörte das Kind einen Nachbarn zum viel älteren Deserteurbruder sagen. Nach einem Streit war die Frau der Mutter aus dem Weg gegangen. Das Kind staunte, als es - ein Körbchen Pfirsiche für die kranke Emmi, zu Sirowatkas geschickt wurde. Kind am Eisenzaun. Der zähnefletschende Hund. Angst. Nur herein, er tut nichts! Als es den Fuss in die Stube setzte, flirrte etwas an ihm vorbei. Die Pfirsiche kollerten zu Boden. Josef, der nach dem Hund geworfen hatte, sass mit Frau und Eltern am Bett der Emmi, die dem Kind die Hand gab. Wenige Tage später fand Emmis Begräbnis statt.

Josef Sirowatka war im Nachbarort als Gendarm angestellt. Nach der Heirat folgte die Versetzung ins südliche Rechnitz, wo er einige Jahre blieb. Plötzlich hatte er den Posten zu räumen und zugleich sein Elternhaus hier. Uniformiert, stolz und gerade, schritt er mit Frau und zwei kleinen Töchtern die heimatliche Gasse hinunter, um in einem Auto zu verschwinden. Zurückblieben verängstigte Eltern. 

Etliche Wochen hindurch hielt sich nach dem Vorfall ein heftiger Tratsch in den Gassen: Versetzt, der ist weg, geschieht dem Kommerl ganz recht/ Im Gegenteil, der Nazi ist ja damals beteiligt gewesen/ Nie, da war der noch nicht aus dem Krieg zurück/ Was hat der Herr Gendarm da unten nach den Juden zu stierln gehabt, seien wir froh, dass die weg sind...

Siebzig Jahre später und ein paar Medienberichte mehr. Ob es Zeit ist für die Geschichte? „Studenten als Nazi-Jäger!" stand zu lesen. Wieder eine Kreuzstadelgeschichte. Die eigene wieder verdrängen?

Auf Befehl eines Nazibonzen, der sich als Höhepunkt eines NSDAP-Gelages im Schloss Rechnitz geriert, anwesend die Schirmherrschaft, Gräfin Batthyány und Funktionäre der Kreisleitung Oberwart, betraut mit dem Südostwallbau, werden im März 1945 schnell noch ein paar ungarische Juden - zu krank für den Einsatz am Bau, weggeputzt, an die 180. Die Zeichen des Zusammenbruchs des „Tausendjährigen Reichs" hatten sich wegsaufen lassen, bis unter Ortsgruppenleiter Franz Podezin beim Stadel das Abschiessen starten kann. Hilferufe und Todesschreie sind unüberhörbar, der Hall der Schüsse durchdringt dickste Mauern. Nach getaner Arbeit kehrt man erfrischt zum Schlossgelage zurück. Die 18 verschonten Juden, die die Toten zu verscharren haben, werden anderntags erschossen. Das Grab der Totengräber wird von russischen Besatzern entdeckt. Und auch das Massengrab selbst.

Trotz zahlreicher Suchaktionen, Grabungen, ist es bis heute nicht wiederzufinden. Bis Anfang der 1950er weiss man Bescheid. Nach einigen harmlos verlaufenden Prozessen setzt das Totschweigen ein. Einige Gerichtsprozesse betreffend die Causa. 1948: Zwei aussagewillige Zeugen tot - die Warnung: Uns ist es ernst! Einige im Sand verlaufende Prozesse. Freisprüche. Amnestien. Der Prozess gegen Podezin verläuft sich. Der Prozess wird 1949 dem Gauleiter Tobias Portschy gemacht. Rasch und gründlich hatte er die Fäden der Säuberung von Zigeunern und so Gesindel gezogen. Zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, kam er nach zwei Jahren frei. In hohen Gremien tätig, geachteter Bürger: „Ich bekenne mich zu meiner Vergangenheit, ich bereue nichts!" Ein zynischer Sager. Legitimiert durch die schweigende Mehrheit? 70 Jahre Schweigen. Jede Zukunft hat eine lange Vergangenheit, heisst es bei Jean Ziegler.

Als sich abzeichnet, dass der Ermittler Sirowatka in der Causa Kreuzstadel zur Gefahr werden wird, wird er entfernt. Wo er ist, lebt, ob noch, wissen vielleicht die Eltern. Beschädigte Leben. Diskriminierungen, die noch den Kindern aufgedrückt werden. Josef Sirowatka stirbt 1997.

Totschweigen, 1994. Film von Margarete Heinrich und Eduard Erne. Musik Peter Ponger, lief zuletzt 2009: Hofburg, Schreyvogelsaal während der Reihe Die endlose Unschuldigkeit. Einer, der im Film auf Ernes Fragen eingeht, ein Rechnitzer Gärtner, spricht vom Ermittler Sirowatka und von dessen Entfernung. Mir selbst sagte Erne, dass während seiner Recherchen die Türen ständig zugeknallt seien. Als er bei Josef Sirowatka in Eisenstadt läutet, wird geöffnet: „Herr Sirowatka führt mich ins Kellerstüberl, sperrt ab, hört mich an. Dann sagt er: Ich sage nichts. Wenn sie den Raum verlassen, haben Sie nichts erfahren!"

Mitten im Film der Riss: „Unser Name! Bitte keine Namen, nur E und K", bitten die Sirowatka Töchter. Wir sitzen im Café Steiner in Eisenstadt. „Nichts, wir wussten nichts", sagt E., „kein Wort vom Vater!" „Auch nach dem Film hat er die Sache nie erwähnt", meint K. „Unsere Kindheit? Hart, wahnsinnig hart, Vater liess nichts zu, kaum Freundschaften, er hinterfragte alles, jeden!"

„Eigentlich hat er uns erzogen", ergänzt E, „die Mutter ist ab der Versetzung nach Kittsee nicht belastbar gewesen. Unser Vater malte, schrieb Gedichte, sagt K stolz: „Wir haben von ihm viel gelernt!"

„Und dass seine Härte geprägt von Angst war", sagt E, „dass er die Jahre geschwiegen hat, um uns zu schützen!"

„Ich habe ihn nie verstanden", sagt K unter Tränen, „ich verstehe ihn erst jetzt. Nach acht Jahren Kittsee der Umzug nach Eisenstadt. Rechnitz! Bis zu seinem Tod. Wir spüren sie, diese Klammer. Was noch. Andere demütigen, zerstören, und sich selbst mit sturem Schweigen schadlos halten?"