Ist es Zufall, dass die zur gleichen Zeit erschienene englische Ausgabe dieses wunderschönen Buchs Frieda Kahlos Bildtitel „My Grandparents, my Parents and I" trägt und erst im Untertitel den sachlichen Inhalt „Jewish Art and Culture" anführt? Wer, wie der Autor Edward van Voolen, Chefkurator des Joods Historisch Museum in Amsterdam, in Bildern denkt, muss den unterschiedlichen Titeln und Umschlagbildern Bedeutung beimessen: Frieda Kahlo, deren jüdischer Vater Wilhelm Kahlo deutsch-ungarischer Herkunft war, malte sich selbst als Fötus und als kleines nacktes Mädchen im Hof ihres Elternhauses, über ihr groß ein Brustbild ihrer Eltern im Hochzeitsstaat. Die Mutter überragt den Vater noch um einen Kopf und ist mit dem Fötus durch die Nabelschnur verbunden. Die kleine Frieda hält eine rote Schleife in der Hand, die ihre beiden Großelternpaare umschlingt, die christlichen Eltern ihrer Mutter und die jüdischen ihres Vaters (deutsche Ausgabe S. 94).
Sicher lenkt ein Bild Frieda Kahlos in den USA die Aufmerksamkeit stärker auf das Buch. Doch vielleicht ist es doch bezeichnend, dass der rein inhaltliche Titel „Jüdische Kunst und Kultur" und die Vermeidung persönlicher Aussagen einer Künstlerin, die nach der Halacha gar keine Jüdin war, für die deutsche Ausgabe geeigneter erschienen. Assoziationen von Vernichtung und Errettung, an deren Ende der Allmächtige steht, zeigt das Umschlagbild der deutschen Ausgabe: die Illustrierung des Pessachliedes „Chad Gadja" von El Lissitzky 1919: „Und dann kam das Feuer und verbrannte den Stock" auf der Vorderseite des Schutzumschlags und die nächste Strophe „Und dann kam das Wasser und löschte das Feuer" auf der Rückseite (beschrieben auf S. 80f., siehe Abb. 1).
Die Ordnung der Zeit
Die Ordnung des Buches verläuft, eingebettet in eine vierseitige Chronologie (S. 26-31), von der Antike bis zur Gegenwart in vier thematischen Kapiteln: „Das Bild des Judentums", welches neun Beiträge von antiken Synagogenmalereien über mittelalterliche Illuminationen bis zu einem barocken Chanukkaleuchter enthält; „Jüdische Emanzipation und Jüdische Kunst", welches in 20 Beiträgen, alles Gemälde, Religiosität und Bruch, Verfolgungen und Zionismus sowie individuelle Antworten auf die brennenden Fragen des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert; „Holocaust und das Gedenken", dessen neun Beiträge Skulpturen, Bauwerke, Installationen und Gemälde das Erleben, Überleben und Gedenken darstellen; schließlich das umfangreichste Kapitel mit 30 Beiträgen, „Jüdische Kunst in der modernen Welt", das die breite Palette jüdischer Kunst und Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts vorstellt. Auf die jüngste Vergangenheit und die zukunftsweisende Gegenwart legt der Autor also schon vom Umfang her das größte Augenmerk. Das Einleitungskapitel „Jüdische Kunst und Judentum zwischen Israel und der Diaspora" gibt auf 20 illustrativ bebilderten Seiten einen Überblick über Geschichte und Kultur, Kunst und religiöse Lebensgestaltung, wobei „Jüdische Identität" (S. 12) mit 5¼ Zeilen marginal ausfällt. Ein eigenes Kapitel mit diesem komplexen Begriff erscheint unnötig, wo doch jedes der 68 ausgewählten Kunstwerke eine von vielen möglichen jüdischen Identitäten repräsentiert. Van Voolens eigene als Reformrabbiner schimmert ebenfalls durch, einerseits durch die häufige Erwähnung der marginalisierten Existenz der jüdischen Frauen – noch immer eine lobenswerte Seltenheit bei Überblicksdarstellungen –, andererseits durch die gleichwertige Wiedergabe von orthodoxen, konservativen und liberalen Meinungen, wobei den letzteren bisweilen die größte Sympathie gezeigt wird (z. B. zur Frage der Konversion auf S. 9). In den Schlusssätzen einiger Beiträge hört man gleichsam den Rabbiner predigen, beispielsweise zur Installation „Shalechet – Gefallene Blätter" von Menashe Kadishman im Jüdischen Museum Berlin: „Die Toten gehören der Vergangenheit an und sind zugleich Teil der Gegenwart und sie zwingen uns, entweder stumme Stimmen aus dem Jenseits zu sein oder Menschen, die hörbar nach einer humaneren Welt rufen." (S. 115) Den „universalistischen, prophetischen Traum von Frieden und Gerechtigkeit" sieht Van Voolen auch für viele zeitgenössische jüdische Künstler unterschiedlichster Ausrichtung als einigendes Merkmal (S. 23).
Eine faszinierende Vielfalt
Wer aus diesem Buch lernen will, was jüdische Kunst nun tatsächlich ist, bekommt folgende Antwort: „Einen jüdischen künstlerischen Stil gibt es ebenso wenig wie es einen christlichen, muslimischen, amerikanischen, deutschen oder israelischen Stil gibt. Jüdische Künstler sind ein integraler Bestandteil all der divergierenden künstlerischen Bewegungen der modernen pluralistischen Gesellschaft." (S. 23) Van Voolens Auswahl liefert nicht nur aus den Kunstgattungen Bild, Skulptur, Installation und Architektur, sondern auch thematisch eine ungeheure Weite und Tiefe. Die Werke entstanden in Europa, Israel und den USA und wurden von Jüdinnen und Juden unterschiedlicher Identität, von praktizierenden und bekennenden bis zu Verleugnern ihrer jüdischen Herkunft geschaffen. Sie stammten aus verschiedenen Milieus, manche waren Stars der Kunstszene, manche sind nur Insidern bekannt. Einige prominente Namen findet man unter einem völlig ungewohnten Blickwinkel wieder, z. B. im wahrsten Sinn des Wortes Arnold Schönberg mit dem Bild „Der rote Blick" aus dem Jahr 1910 (S. 74) oder Man Ray, 1890 als Emmanuel Radnitsky in Philadelphia als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer geboren, der in den Bildern „Das Rätsel des Isidor Ducasse" und „Rue Férou" die Last seiner jüdischen Herkunft als die verschnürte Nähmaschine seines Vaters durch das Leben schleppt (S. 86f.).
Die meisten Bilder im Buch dienen zur Vermittlung jüdischer Geschichte und Religionspraxis, womit es auch für „Einsteiger" bestens geeignet ist. So illustriert das Ölgemälde „Das Fest der Freude und Lehre in der Synagoge von Livorno" von Solomon Alexander Hart von 1850 die Simchat-Tora-Feier und die selbstbewusste Pracht dieser jüdischen Gemeinde (S. 61). Einen zwar völlig unreligiösen, aber sehr unterhaltsamen und informativen Zugang bietet Max Liebermanns „Selbstbildnis mit Küchenstilleben" von 1873 zum Themenkreis der Kaschrut. Der Titel des Beitrags, „Von Töpfen und Pfannen: Koscher sein" ist nur ein Beispiel der vielen fein durchdachten Beitragstitel (S. 66).
Ebenso bieten die Beiträge selbstverständlich auch Einblicke in die Biographie des jeweiligen Künstlers, der Künstlerin, wobei Van Voolen in einfühlsamer Weise deren zuweilen problematischen Zugang zum Judentum und die Verfolgungserfahrungen beschreibt. Mauricy Minkowskis „Nach dem Progrom" von 1910 (S. 76f.) stellt Flucht und Elend der überlebenden Frauen und Kinder drastisch dar. Das Bild gibt Anlass zur ausführlichen Darstellung antisemitischer Stereotype und Gewaltakte im Lauf der Geschichte.
Einige Künstler konnten Nazi-Deutschland oder das besetzte Frankreich rechtzeitig verlassen, wie Eva Hesse (S. 140) oder Jankel Adler, der mit seinem berührenden Porträt „Zwei Rabbiner" von 1942 die „Menschliche Würde" – so der Beitragstitel – inmitten von Erniedrigung und Todgeweihtheit zum Ausdruck brachte (S. 96). Einigen gelang die Flucht nicht rechtzeitig, sie fielen den Nationalsozialisten zum Opfer, wie Otto Freundlich (S. 103) oder Charlotte Salomon (S. 106). Nur wenige sahen ihr grausames Schicksal so hellsichtig voraus wie Felix Nussbaum, welcher am 2. August 1944 mit seiner Frau von dem belgischen Durchgangslager Mechelen nach Auschwitz deportiert und bei der Ankunft ermordet wurde (S. 110).
Synagogen und Mahnmale
Einen breiten Raum nehmen Synagogenbauten ein, welche außer als Gebets- und Versammlungsort nicht zuletzt als Erinnerungsort für den 70 n. u. Z. von den Römern zerstörten Jerusalemer Tempel dienen. Wie kaum andere Bauwerke stehen sie im Spannungsfeld zwischen Selbstdarstellung, Auseinandersetzung mit der Umwelt und dem Gedenken an die im Nationalsozialismus zerstörten Gemeinden und Gotteshäuser. Nur zwei exemplarische Bauten seien herausgegriffen: Von der Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße, 1859-1866 im maurischen Stil erbaut von Eduard Knoblauch und Friedrich August Stüler, sind zwar noch die prächtige goldene Kuppel und die Fassade erhalten, die einstmals 3.200 Sitzplätze können jedoch nicht mehr gefüllt werden (S.62). Die Parksynagoge von Erich Mendelsohn in Cleveland, Ohio (1946-1952) spiegelt, wie die amerikanischen Nachkriegssynagogen allgemein „ein bislang unübertroffenes Selbstvertrauen wider" (S. 130f.). Synagogen sind in diesem Buch auch im Bild, wie „Die Alte Synagoge" von Issachar Ryback von 1917 als Denkmal für die Holzsynagogen osteuropäischer Stetl (S. 78) und als „unerfüllte Träume", wie die nur als Projektskizze existierende Hurva-Synagoge an der Westmauer in Jerusalem von Louis I. Kahn (S. 138f.) vertreten.
Aus den zahlreichen europäischen, israelischen und amerikanischen Holocaust-Mahnmalen hat Edward Van Voolen die wohl bekanntesten, Yad Vashem in Jerusalem (S. 116-119) und das Jüdische Museum Berlin von Daniel Libeskind (S. 172-175), ausführlich dokumentiert. Weniger bekannt ist das ungeheuer eindrucksvolle Mahnmal „Passagen. Hommage an Walter Benjamin" in Portbou in Spanien von Dani Karavan. In diesem Hafen endete die letzte Hoffnung, der Verhaftung durch die Nazis doch noch zu entkommen. Walter Benjamin nahm sich dort am 27. September 1940 das Leben. Die in den Abhang zum Meer geschnittene steile Treppe aus rostigen Stahlplatten ehrt alle Verfolgten, denen die Flucht gelang und jene, die daran scheiterten (S. 108).
Gedächtnis und Gedenken wählten viele jüdische Künstler und Künstlerinnen als Leitmotiv ihrer Werke, auch aus dem Buch wären noch einige eindrucksvolle Bilder und Installationen anzuführen. Einen besonders berührenden Weg findet immer wieder der Franzose Christian Boltanski, in dem er in seinen Installationen Porträtfotos von Menschen, die die Schoa vermutlich nicht überlebt haben, einbezieht. Damit bringt er auch seine eigene Biographie als 1944 in Paris geborener Sohn eines jüdischen Vaters, den seine nichtjüdische Mutter versteckt hielt, zum Ausdruck (S.160).
Geheimnisse
Die jüdische Religion, dies ist ihr bahnbrechender Beitrag zur Menschheitsgeschichte, hat den Monotheismus und die Idee eines nicht darstellbaren und nicht erfassbaren Gottes in das Denken gebracht. Diese Abstraktion, verbunden mit Mystik, inspirierte jüdische Kunst zu allen Zeiten. Van Voolen traf eine schöne Auswahl, zum Geheimnis der hebräischen Buchstaben als vielschichtiges Zeichensystem, wie sie Lee Krasner, zu Unrecht weit unbekanntere Ehefrau von Jackson Pollock, auf die Leinwand bannte (S. 126), zum unaussprechlichen Gottesnamen, den Barnett Newman als rote „Zips", dem zu Streifen verdünnten Tetragramm, darstellte (S. 124f., siehe Abbildung 2), und die abstrakte blaue Installation „It is Man/Installation mit Angels" von Anis Kapoor (S. 163), um nur einige Beispiele von mehreren zu nennen. In diese Bilder und Texte einzutauchen braucht Zeit und Kawana, die für mystische Betrachtungen unerlässliche konzentrierte Hingabe.
Das Buch ist ästhetisch ansprechend und in ausgezeichneter Schrift- und Bildqualität gestaltet, dem Verlag ist auch zu der sorgfältigen Lektorierung zu gratulieren. Eine ausführliche Bibliographie (S. 188-190) lädt zum vertieften Kennenlernen des Themas und der Künstlerinnen und Künstler ein.
Edward van Voolen, Jüdische Kunst und Kultur. Verlag Prestel, München, Berlin, London, New York 2006, ISBN3-7913-3653-3, 192 Seiten, Format 300 mal 240mm, 139 farbige Abb., feste Bindung mit Schutzumschlag, € 49,95.- n