Während in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und bis zur Zerstörung des jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten das liberale Judentum die weitaus stärkste jüdische religiöse Strömung repräsentierte und zahlreiche prunkvolle Synagogen errichtete, gab es in Österreich nach 1945 nur zaghafte und wenig erfolgreiche Ansätze zur Errichtung einer nichtorthodoxen jüdischen Gemeinde.
Rabbiner Dr. Walter Rothschild
Die Geburtsstunde der ersten wirklich progressiv-jüdischen Gemeinde in Wien war der 4. Mai 1990, als der erste liberale jüdische Gottesdienst im Hotel Imperial unter Leitung des damaligen Landesrabbiners von Niedersachsen, Henry Brandt, stattfand. Kurze Zeit danach konstituierte sich der Verein „Or Chadasch Bewegung für progressives Judentum".
In den vergangenen 17 Jahren konnte sich das progressive Judentum in Wien, anfangs gegen harte lokale Widerstände und Vorurteile, mit Hilfe der Weltunion für progressives Judentum (die heute weltweit größte jüdisch-religiöse Bewegung mit rund 2 Millionen Mitgliedern) langsam aber stetig weiter entwickeln.
Dr. Theodor Much bei einer Ansprache
Liberales Judentum steht für ein zeitgemäßes, weltoffenes, ethisch-moralisch hochstehendes und doch traditionsbewusstes Judentum, in dem Frauen eine völlige Gleichstellung genießen. Es steht für ein Judentum, das auch all denjenigen Juden, die sich vom traditionellen Judentum aus verschiedenen Gründen entfernt haben (und sich nicht selten ausgegrenzt fühlen) ein jüdisches Zuhause bietet - ein Judentum, das den Menschen hilft, ihr Judentum wieder neu zu entdecken und in zeitgemäßer Form zu praktizieren. Es ist aber auch ein Judentum, das bereit ist, Menschen, die den Weg zur jüdischen Religion suchen, bei ihren Bemühungen zu unterstützen.
Bis vor drei Jahren musste Or Chadasch all seine Aktivitäten in Räumlichkeiten durchführen, die mit anderen Organisationen und Vereinen geteilt werden, so u. a. in der Schütteistrasse und in der Haidgasse. Zu den hohen Feiertagen mussten größere Räumlichkeiten in Wiener Hotels gemietet werden.
Thoraschrein der Synagoge in der Robertgasse
Die ungünstige Situation änderte sich schlagartig, als mit Hilfe von Rabbiner Dr. Walter Homolka (Gründer des Abraham Geiger Collegs in Berlin) und mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien und der Republik Österreich in enger Zusammenarbeit mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien die Räume einer ehemaligen Druckerei in der Robertgasse 2 im traditionell jüdischen 2. Bezirk zu einer modernen und sehenswerten Synagoge umgestaltet wurden. Nach den Plänen von Mag. Ferydon Heschmat wurde mit dem Umbau begonnen. Der Rohbau konnte schließlich unter Leitung von Ing. Samuel Huber-Huber vollendet werden. Die schöne Thoraschranktür und der Lebensbaum der Synagoge wurden vom bekannten Bildhauer Behruz Heschmat entworfen und angefertigt. Dass der Traum von einer eigenen liberalen Synagoge mit Nebenräumen und einer Bibliothek erfüllt werden konnte, verdankt Or Chadasch auch der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Diese stellte großzügigerweise Räumlichkeiten in einem Wohnhaus zur Verfügung und zeigte damit, dass ein Zusammenleben von unterschiedlichen jüdischen Strömungen unter einem Dach durchaus möglich und „Wien eben anders ist". Die offizielle Eröffnungsfeier, unter Beteiligung vieler prominenter Persönlichkeit aus Politik, Religion und Kultur, erfolgte am 22. Februar 2004. Damals wurde auch Rabbinerin Irit Shillor in ihr Amt eingeführt und Leslie Bergmann zum Ehrenpräsidenten von Or Chadasch ernannt.
Geöffneter Thoraschrein
Heute ist Or Chadasch eine blühende jüdische Gemeinde, die ihren Mitgliedern und Freunden viel zu bieten hat: so u. a. regelmäßige Gottesdienste, Feiern zu allen jüdischen Festtagen in einem schönen und modernen Ambiente, Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene sowie Kurse für Übertrittswillige. Weiters organisiert Or Chadasch regelmäßig literarische und politische Veranstaltungen. Die Gemeinde beteiligt sich auch am interkonfessionellen Dialog,
Als Nachfolger von Rabbinerin lrit Shillor, die Or Chadasch vier Jahre lang erfolgreich betreute, fungiert seit einem Jahr der allseits beliebte und geachtete Rabbiner Walter Rothschild als spiritueller Leiter der Gemeinde. Rabbiner Rothschild besucht Wien ein bis zwei Mal im Monat. In seiner Abwesenheit leiten Gemeindemitglieder die Gottesdienste.
Im März des kommenden Jahres wird Or Chadasch Gastgeber der alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz der Weltunion für progressives Judentum (European Board) sein, zu der viele Juden aus aller Welt nach Wien kommen werden. Zur feierlichen Eröffnung der Konferenz ist auch politische und religiöse Prominenz angesagt.
Photo © Chris Dematé n