Seltsamerweise wurde in der jiddischen Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft die jiddische Kultur Galiziens bis zum Zweiten Weltkrieg lange Zeit mehr ignoriert als ernsthaft erforscht. Doch seit kurzem beginnt sich hier eine Änderung abzuzeichnen. So erschienen in diesem Jahr fast zeitgleich und völlig unabhängig voneinander drei Beiträge zur in den frühen 1930er-Jahren aktiven Lemberger Dichtergruppe um die Zeitschrift „Tsushtayer": einer in Israel, einer in Polen und einer in Deutschland. Eine sonderbare Koinzidenz, bedenkt man, dass sich ein dreiviertel Jahrhundert lang niemand vertieft diesem Thema gewidmet hat. Dazu kommt, dass in Berlin im Centrum Judaicum (Stiftung Neue Synagoge, Oranienburger Straße) ab September dieses Jahres eine umfassende Ausstellung unter dem Titel „Wo ist Lemberg?" zu sehen ist, die der jiddischen Literatur Galiziens generell und der „Tsushtayer"-Gruppe im Speziellen gebührende Aufmerksamkeit schenkt und sie mit Bild-, Text- und Hördokumenten vorstellt. Ein Prozess einer vertieften Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der jiddischen Kulturgeschichte ist also im Beginnen und es ist noch lange nicht entschieden, ob Galizien und auch Wien unter den ehemaligen Zentren der jiddischen Kultur eine, wie bisher oft behauptet, eher nur bescheidene oder nicht doch ganz wesentliche Rolle gespielt haben. Wien wurde besonders während des Ersten Weltkriegs zum Zufluchtsort für viele Tausende galizische Juden, die aus den Kampfgebieten fliehen konnten und neben etwa chassidischen Traditionen vor allem ihre jiddische Kultur und die jiddische Sprache mitbrachten. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde nur wenigen von ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft gewährt. Der größte Teil der Flüchtlinge ist wieder nach Galizien, das nun zum neuen polnischen Staat gehörte, zurückgekehrt. Und doch gab es in Wien einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und in geringerem Ausmaß bis zum Jahr 1938 ein jiddisches Kulturleben, das, wie Mikhail Krutikov es ausgedrückt hat, „tatsächlich eine gewisse Rolle im Auflebungsprozess der jiddischen Kultur in Europa spielte". Immerhin gab es sehr konkrete Äußerungen der jiddischen Literaturszene Wiens, wie zum Beispiel die weltweit rezipierte literarische Zeitschrift „Kritik", von der in den Jahren 1920/21 zehn Ausgaben erschienen sind. Der Name der Zeitschrift weist auf eine ihrer wesentlichen Absichten hin: Kritische Tribüne für die moderne jiddische Kultur zu sein und als solche quasi als Brücke zwischen verschiedenen Teilen der jiddischen Kulturwelt zu dienen. Wie gesagt, viele „Galizianer" mussten Wien im Verlauf der 1920er-Jahre verlassen, darunter auch die zentralen Mitarbeiter der „Kritik", Melech Rawitsch und Mosche Silburg. Von den Autoren, die bis zum „Anschluss" Österreichs in Wien blieben, sind etwa Melech Chmelnizki oder Mendel Neugröschel zu nennen, der stets in engem Kontakt zu den Lemberger „Tsushtayer"-Avantgardisten stand, die in ständiger Auseinandersetzung mit modernen Literatur- und Kunstströmungen Beachtliches etwa auf dem Gebiet der damals aktuellen jiddischen Lyrik schufen. All dies war Thema bei der von Armin Eidherr organisierten ersten internationalen jiddistischen Tagung zum Beitrag Galiziens in der jiddischen Kultur, die am 17. und 18. Juni 2007 am Institut für Judaistik der Universität Wien abgehalten wurde. Erfreulich war das große Interesse, auf das diese Tagung bei Studenten, Professoren und einem allgemeinen Publikum stieß: Der große Hörsaal 1 der Judaistik war bis auf den letzten Platz besetzt.Der Titel der Tagung, „Im Geiste der KRITIK", will in seiner Mehrdeutigkeit verstanden werden: „Kritik" also in der ganzen Breite des lexikalischen Sinns, aber auch als Titel der erwähnten kulturgeschichtlich bedeutenden jiddischen Zeitschrift. Denn bei allen Anregungen, die von dieser Zeitschrift ausgingen, und bei aller Polemik, die sie hervorrief, ist ihre Offenheit für verschiedene ideologische und literarisch-künstlerische Richtungen zu betonen, so dass sie sich einer schematischen Einordnung entzieht. Das macht indessen gerade ihre Einmaligkeit als Zeitdokument und auch ihren spezifischen „Geist" aus. In diesem Sinne war diese Zeitschrift ein Symbol für diese Tagung. Die Referate behandelten ein großes Themenspektrum und machten deutlich, um wieviel größer, als heute abzusehen ist, dieses sein kann. Nachgegangen wurde der Bedeutung der Jiddisch-Kultur aus Österreich in verschiedenen zentralen Aspekten, besonders ihrer weltweiten Wirkung in ideologischer, vor allem aber auch poetologischer und linguistischer Hinsicht. Diese Wirkung beruhte auf einer länder-, ja Kontinente übergreifenden Rezeption ihrer Publikationen, sowie auf der Emigration vieler ihrer Vertreter. Das Programm begann am Sonntag, dem 17. Juni, mit den Eröffnungsreden des Organisators Armin Eidherr und des Vorstands des Instituts für Judaistik, Armin Lange, der in seiner Rede auf die Bedeutung einer Jiddistik für und wider die Position des Jiddischen in Österreich einst und heute einging. Wien, welches mittlerweile zu den weltweit größten Zentren für osteuropäische Studien gehört, besitzt, wie die Tagung dann auch klar machte, ein großes Potential für jiddische Studien. Im darauf folgenden ersten Referat erkundete Klaus Davidowicz (Wien), den „Blick von außen auf die jiddische Kultur in Österreich" und ihre oft zwiespältige Aufnahme im österreichischen kulturellen Kontext. Mitten hinein in die Thematik führte Armin Eidherr (Salzburg) mit dem Vortrag „Lemberg, Czernowitz, Wien in der Jiddisch-Welt", in dem er eine Übersicht über diese drei wichtigen Zentren der jiddischen Kultur und die dichterische Entwicklung in den Gebieten der ehemaligen Habsburgermonarchie bot. Zum Schluss der ersten Sitzung präsentierte Thomas Soxberger (Wien) das Projekt der Schaffung einer neuen akademischen Ausgabe der „Kritik". Den Nachmittag eröffnete die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Dalinger (Wien), die einen Eindruck vom „jiddischen Theater in Wien und Galizien im Spiegel von Zeitungskritiken" gab. Den ersten Vortrag, der die jiddische Problematik aus der Perspektive der Slawistik behandelte, hielten Professor Fëdor Poljakov und sein Schüler Thomas Mikula (Wien), die sich der Frage „Wer war Osip Dymov?" widmeten und diesen Russisch und Jiddisch schreibenden Autor plastisch vorstellten. Gerhard Langer (Salzburg) gab eine kritische Analyse der Funktionen des Jiddischen in aktuellen Filmen über Galizien und die Bukowina, bzw. die jüdische Kultur in Osteuropa; und Mikhail Krutikov (Ann Arbor, Michigan) sprach zum Abschluss des ersten Tagungstages über den jiddischen Autor Meir Wiener, wobei er sich auf das Bild konzentrierte, welches dieser in seinen Erzählungen und Erinnerungen von der Stadt Krakau zeichnet. Der Tag klang im koscheren Restaurant ALEF ALEF in der Seitenstettengasse mit einem gemeinsamen Abendessen aus, zu dem die Israelitische Kultusgemeinde Wien eingeladen hatte. Am Montag, dem 18. Juni, eröffnete Dov-Ber Kerler (Indiana University, Bloomington) mit einem Bericht über ethnographische und kulturhistorische Eindrücke bei seinem zur Zeit laufenden Interview-Projekt, in dem es auch eine Reihe „Galizianische Interviews" gibt, die Vorträge. Wie schon im Beitrag von Gerhard Langer war dabei der gegenwärtige Zustand des Jiddischen in Galizien und der Bukowina das Thema. Die Vorstellung der Resultate seiner Feldforschungen in der Ukraine wurde durch die Vorführung von Filmmaterial ergänzt. Sowohl Kerler als auch Langer zeigten übrigens Fragmente der letzten Interviews mit Josef Burg, dessen Werke sich ja in Österreich einiger Popularität erfreuen. Ein weiterer Vortrag aus slawistischer Perspektive wurde von Alois Woldan (Wien) gehalten. Er analysierte darin die teilweise über Jahrhunderte hin bestehenden antisemitischen Stereotypen in älteren und neueren Beschreibungen von Lemberg. Neben dem Referat von Mikhail Krutikov zu Meir Wiener war noch ein weiteres einer einzelnen Schriftstellerpersönlichkeit gewidmet: Astrid Starck-Adler (Basel und Mulhouse) analysierte die Gedichte des bedeutenden jiddischen Poeten Itzik Manger in ihrem Zusammenhang mit der Weltliteratur. Zum Abschluss entwickelte Avraham Novershtern (Jerusalem) in einem fulminanten Beitrag eine These zur Verortung des Phänomens der galizisch-jiddischen Literatur und ihrer Entwicklung: dass sich nämlich erst fern von Galizien, in der New Yorker, Warschauer oder Berliner „Diaspora" ein eigener galizisch-jiddischer Stil entwickelt habe. In der „Heimat" hingegen, in Lemberg, Krakau und so fort, sei sie durch den vorherrschenden Einfluss anderssprachiger Kulturen wie der deutschen und polnischen in ihrer Entwicklung gehemmt geblieben. Die Beiträge werden übrigens im nächsten Jahr in Buchform veröffentlicht. Im Internet können unter der Adresse http://www.matulamedia.at/kongress/index.htm Ausschnitte aus allen Vorträgen angesehen werden.