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Ein erschütterndes Zeugnis eines Überlebenden

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Shlomo Venezia: Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz. Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden

München: Blessing Verlag 2007

272 Seiten, 19,95,- Euro

ISBN 978-3-89667-365-7

Es ist noch so, als wäre es gestern gewesen, als ich als etwa zehnjähriger Junge um 1964 in der örtlichen Gemeindebücherei auf ein Buch stiess mit dem Titel „Der gelbe Stern", in dem in Wort und Bild die Judenvernichtung dokumentiert war. Die Bilder waren für mich ein Schock, denn ich hatte in meiner Familie darüber bisher natürlich nichts erfahren. Ausser dass der Grossvater sich einem Entnazifizierungsverfahren stellen musste, wie die Mutter immer wieder entrüstet erzählte und dass die „Flüchtlinge" es doch so gut hätten, gab es über den Krieg und  seine Folgen keine Informationen.

Doch diese Bilder liessen mich nicht los. Später stiess ich dann auf die Literatur der Überlebenden; die Bücher von Primo Levi, Jean Amery und anderen liessen mich immer mehr begreifen von jenem eigentlich  unaussprechlichen Geschehen, von jenem Abgrund des Menschseins, und doch hat mich jedes weitere Buch, jedes weitere Zeugnis weiter weg gebracht vom „Verstehen" in einem vernunftmässigen Sinn.

Was „dort", wie die Überlebenden noch heute in Israel und anderswo sagen, geschehen  ist, entzieht sich auf eine eigene Weise dem Verstand und dem Herz. Und doch lässt es mich nicht los, es muss erzählt, immer wieder erzählt werden, denn wenn die Millionen Brandopfer und  Vergasten vergessen werden, sterben sie noch einmal.

Das vorliegende Buch nun ist in der Literatur der Überlebenden ein ganz besonderes Zeugnis. Denn zum ersten Mal berichtet einer der jüdischen Häftlinge in Auschwitz, die im sogenannten „Sonderkommando" bei der Tötung und Vernichtung anderer Häftlinge eingesetzt wurden. Das Zeugnis des 1923 als Sohn italienischer Eltern geborenen Shlomo Venezia, der zusammen mit 2500 anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde von Saloniki Ende März 1944 in Viehwaggons nach Auschwitz gebracht wurde, ist insofern einzigartig, als die Nazis alle Juden, die in solchen Sonderkommandos eingeteilt waren, nach einiger Zeit töteten. Auf dem Transport ins Todeslager wollen Shlomo und sein Bruder aus dem Zug springen, doch die weinende Mutter hält sie davon ab. Die Mutter und die Schwestern Venezias werden sofort in den Tod geschickt, Shlomo wird dem Sonderkommando zugeteilt, wo er im Krematorium II in Birkenau die schrecklichste aller Arbeiten tun musste.

Nach vielen Jahrzehnten, in denen er dann und wann von seinen Erfahrungen berichtet hat, u.a. war er der historische Berater für Roberto Begninis Film „Das Leben ist schön", legt Shlomo Venezia in einem 2006 in Paris erstveröffentlichten Buch ein Zeugnis ab von dem Unfassbaren, was er dort in den Monaten bis zur Befreiung des Lagers im Januar 1945 erlebt hat. Er erzählt in einer nüchternen Sprache, und nur die ermöglicht es ihm überhaupt, das Geschehen sprachlich zu erfassen, ohne verrückt zu werden, von dem Grauen, die Menschen, die in Waggons angeliefert werden, zu entkleiden, in die Gaskammer zu führen, danach die ineinander verkrampften Leichen zu lösen, ihnen die Haare abzuschneiden, Goldzähne zu lösen und sie dann in den Verbrennungsofen zu bringen.

Ein Nachwort des Historikers Marcello Pezetti, Leiter des Shoah-Museums in Rom, ordnet die persönlichen Erinnerungen Shlomo Venezias in den historischen Zusammenhang ein und gibt wertvolle Hinweise zu „Shoah, Auschwitz und das Sonderkommando".

Auf die Frage, was die extremen Erfahrungen in ihm zerstört haben, antwortet Shlomo Venezia am Ende des Buches: „Mein Leben. Ich habe nie wieder ein normales Leben führen können. Ich konnte nie so tun, als ob alles in Ordnung wäre, und konnte nie wie die anderen tanzen oder mich unbeschwert vergnügen. Man kommt niemals wirklich aus dem Krematorium heraus."

Eine Lektüre, die schwer zu ertragen ist und die zeigt, dass noch immer nicht alles über jenes unsagbare Geschehen  bekannt ist, das sich bis in alle Ewigkeit mit dem Namen Auschwitz verbindet.