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A New Light. Interview mit Shmuel Barzilai, dem Oberkantor der Wiener jüdischen Gemeinde

Tina WALZER

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DAVID: Herr Oberkantor, Sie wurden in Jerusalem in eine bekannte Kantorenfamilie geboren und sind seit 1992 selbst Oberkantor der Wiener jüdischen Gemeinde. Der bekannte Musikkritiker Christopher Norton-Welsh nennt Sie einen robusten, dennoch flexiblen Tenor italienischen Stils, der den Allmächtigen in temperamentvoller Manier ruft, seinen Ton aber dennoch modulieren kann, wo es erforderlich ist, und sieht in Ihnen einen würdigen Nachfolger der vielen berühmten Kantoren Wiens. Am 3. Juni wurde Ihre neue CD, „A New Light", vorgestellt. Was ist Ihnen daran besonders wichtig?

Shmuel Barzilai: Die neue CD ist die letzte in einer Serie von drei Aufnahmen gleichen Stils. Neu ins Repertoire aufgenommen sind hier eine eigene Komposition sowie eine des bekannten chassidischen Komponisten Ben Zion Schenker aus New York. Er ist schon 84 Jahre alt und gehört den Modzitzer Chassidim an, einer religiösen Bewegung, in der die religiösen Führer traditionell auch liturgische Musik komponieren.

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A New Light, die neue CD des Oberkantors der Wiener jüdischen Gemeinde, Shmuel Barzilai (2012). Foto: Oliver Jiszda, mit freundlicher Genehmigung Shmuel Barzilai.

Welche Musikstücke haben Sie für Ihre letzten drei CDs ausgewählt?

Es sind klassische und bekannte Kantoralstücke, vor allem von meinen Kantoren-Vorbildern. Mir ging es darum, wenn man ihre Musik hört, spüren zu können, wie sie die Texte interpretiert und gesungen haben. Zu ihnen gehören natürlich der „König der Chasanim", Josef Rosenblatt (1882-1933), und Mordechai Hershmann (1888-1940), ausserdem die berühmten Brüder Moshe (1899-1966) und David (1912-1985) Koussevitzky,  und dann noch die Wiener Kantoren Israel Alter (1901-1979)  und Zavel Kvartin (1874-1952). Kvartin war sechs Jahre lang an der Synagoge in der Wiener Neudeggergasse tätig und bezeichnet dies in seinem Buch, Mein Leben (1951), als seine schönsten Jahre. Alle ihre Kompositionen haben wir zu Hause immer gehört.

Wie kamen Sie überhaupt nach Wien?

Der Oberrabbiner Eisenberg hat mich nach Wien eingeladen, weil der Oberkantor Adler in Pension gegangen ist und ein neuer für die Gemeinde  gesucht wurde. Dem Ruf bin ich gerne gefolgt, denn die Wiener jüdische Gemeinde hat eine grosse Tradition, und Wien als Musikstadt hat mich auch angezogen.

 

Sie haben darüber hinaus akademische Verbindungen zum Institut für Judaistik der Universität Wien?

Ja, als ich nach Wien kam, begann ich dort neben meinen Aufgaben als neuer Kantor ein Studium. Ich bin sehr froh, dass ich das bis zum Abschluss geschafft habe.

Als Kantor der Wiener jüdischen Gemeinde haben Sie einen weltberühmten Vorgänger: Salomon Sulzer (1804-1890). Welche Bedeutung hat Sulzer heute für Sie, stehen Sie in seiner Tradition?

Man soll traditionellerweise die Musik einer jüdischen Gemeinde nicht ändern. So stammen also die meisten Melodien, die bei uns gesungen werden, von Sulzer, aber nicht nur: Ich habe auch viele neue Stücke von den berühmten Kantoren der Welt, jene Melodien, die in vielen Synagogen gesungen werden, eingeführt. Salomon Sulzer war ein grosser Musiker und sehr bekannter Kantor, seine Kompositionen sind sehr schön und ein Gewinn für jede Gemeinde, aber auf der anderen Seite hat jeder Kantor seinen eigenen Stil, und ich wollte auch meinen in die Gemeinde einbringen. Bereits mein Vorgänger, Oberkantor Abraham Adler (1916-2003), hat ein bisschen neue Sachen gebracht, ich stehe auch in seiner Tradition. Meine grösste Freude ist, dass mittlerweile meine Neuerungen in der Gemeinde zum festen Bestandteil ihres Ritus geworden sind. Das ist für mich das grösste Kompliment. Wir haben heute ein umfangreiches Repertoire mit unserem Chor, neben den Kantoralstücken von Sulzer und Adler auch von mir selbst eingeführte Stücke, darunter solche, wo das Publikum mitsingen kann. Damit haben wir einen lebendigen G'ttesdienst.

Oft wird gesagt, Sulzer sei in Europa vergessen, seine Kompositionen lebten lediglich im Alltag der amerikanischen jüdischen Gemeinden fort. Für die Wiener Gemeinde stimmt das also gar nicht?

Einige Melodien von Sulzer sind so berühmt geworden, dass sie zum Repertoire aller Synagogen der Welt geworden sind, wie zum Beispiel ein „Schma Israel" und „Eijn Kamocha". Das ist doch ein riesiger Erfolg!

Was meinen Sie, wie gelang Sulzer gerade zur Zeit der Hochblüte der Haskala, in der viele Juden sich von ihrem Glauben lossagten, dieser Erfolg?

Zur Zeit Sulzers gab es viele Kantoren auf der Welt. Alle wollten bei ihm studieren, und so haben sehr viele bei ihm gelernt, beispielsweise der ganz bekannte Kantor aus Odessa, Pinchas Minikovski. Sulzer versuchte, mithilfe der Musik die Leute zurück in die Synagoge zu bringen. Dabei orientierte er sich nicht an osteuropäischen jüdischen Musiktraditionen, sondern an der Musik der Klassik! Mit Franz Schubert war er ja eng befreundet, auch mit Franz Liszt.

Kann man Sulzers Musik nachhören?

Oh ja, ich habe gemeinsam mit den Wiener Sängerknaben eine CD mit Sulzer-Melodien eingespielt. Die Kinderstimmen ersetzen dabei die Frauenstimmen - Frauen dürfen ja in der Synagoge nicht beim Chor im Männerbereich stehen und scheiden daher als Sängerinnen dort aus. Sulzer wollte auf die Sopran- und Altstimmen trotzdem nicht verzichten.

Die Wiener jüdische Gemeinde hat aber auch zwei eigene Chor-Ensembles, eines davon unter Ihrer Leitung?

Wir haben mittlerweile am Schabbat neben dem erfolgreichen Männerchor unter der Leitung von Rami Langer auch einen Kinderchor. Die Kinder singen wunderschön, sie bringen ihre Eltern mit, die Stimmung ist strahlend, und: Die Kinder kennen jetzt alle Gebete auswendig! Mit dem Kinderchor bekommen wir junge Leute in die Synagoge. Das alles ist ein grosser Gewinn für unsere Gemeinde. Wir singen chassidische und traditionelle Melodien, und auch Melodien von Shlomo Carlebach. Der Erfolg ist beeindruckend.

Welche Kinder kommen am liebsten zum Singen, lässt sich das sagen?

Oh, es ist fantastisch, die Kinder kommen aus allen Gemeinden in den Tempel, Bucharen, Misrachi, Kinder aus unserer Gemeinde und aus den anderen - alle sind gleich, alle machen mit beim Singen, das ist eine grosse Freude! Übrigens singen wir mit den Kindern auch bei verschiedenen Auftritten ausserhalb der Synagoge, im Altersheim Maimonides-Zentrum zur Eröffnung mit Bundespräsident Fischer und zu Chanukka, in meinen Konzerten im Theater Akzent, sogar in der Slowakei, das macht auch ihnen viel Spass.

Was ist denn ein Kantor, wie würden Sie persönlich seine Funktion innerhalb der jüdischen Gemeinde definieren, Sie beschreiben ja hier ein sehr breit gefächertes Aufgabengebiet?

Der Kantor muss zur Erfüllung seiner Aufgabe über drei Dinge verfügen: eine schöne Stimme, eine gute Interpretation, und Neschome - viel Gefühl. Prinzipiell ist es doch so, für ein Gebet braucht man zehn Männer, die gemeinsam beten. Der Vorbeter beginnt und schliesst jedes Gebet mit Musik. Dabei gibt es vorgeschriebene Kombinationen von Texten und Melodien, für jeden Tag, für das gesamte liturgische Jahr, und zwar je nachdem, ob es um den Schabbat geht, oder um die hohen Feiertage. Derselbe Text wird an jedem Tag mit verschiedenen Melodien gesungen. Diese Melodien darf man nicht ändern. Innerhalb dieses Rahmens aber gibt es Stellen, an denen der Kantor auch Melodien, Improvisationen und eigene Kompositionen einfügen kann.

Der Kantor singt die Liebe zu G'ott, er betet zu G'ott mit seinem Gesang. Auch in einem liturgischen Gesang gibt es Tonhöhepunkte, und der Kantor bleibt auf einem besonders hohen Ton, aber er singt ihn nicht einfach nur lange und schön, sondern er improvisiert. Er versucht, mit seinem Gesang den Text zu erklären. Nehmen Sie zum Vergleich Josef Schmidt - seine Version der Opernarie „Una furtiva lagrima" (aus: Elisir d‘ Amore, Gaetano Donizetti, 1832) beinhaltet eine solche typische kantorale Verzierung. Kein Opernsänger hat das je so gesungen wie er, es ist eine ganz erstaunliche Stelle.

Das ist charakteristisch für einen Kantor: Viele Sachen werden sehr strikt, klar, genau gesungen, aber daneben gibt es eben Raum für Interpretation, viele Sachen werden offen gesungen. Der Kantor singt aber nicht nur in der Synagoge. Er nimmt auch an Hochzeiten, Begräbnissen und offiziellen Veranstaltungen teil, wie zum Beispiel an Gedenkfeiern oder an der Vorbereitung der Buben zu ihrer Bar Mitzwa-Feier, wo sie aus der Thora lesen sollen. In letzter Zeit wird Synagogal-Musik von den Kantoren auch in Konzerten gesungen und aufgenommen. Ich bin sehr froh, dass es mir gelungen ist, diese neue CD mit den beiden vorhergehenden zusammen zu machen: Das gesamte liturgische Repertoire vom Schabbat und den hohen Feiertagen ist hier aufgenommen, noch dazu in Begleitung von grossem Chor und Orchester, unter der Leitung von Mordechai Sobol. Alles, was unser jüdisches Leben betrifft, ist nun auf CD nachzuhören.

Sie wenden sich mit Ihren CDs auch an ein nichtjüdisches Publikum?

Ja, ich habe die Erfahrung gemacht, dass es da sehr grosses Interesse gibt. Mein Motto war immer der Satz von Rabbi Nachman aus Bratslav: "Die ganze Welt ist eine schmale Brücke, und Du sollst keine Angst haben." Meine Konzerte haben auch ein breit gefächertes nichtjüdisches Publikum, und da fühle ich mich wie ein Brückenbauer, um die jüdische Kultur weiterzugeben und Menschen aus verschiedenen Religionen zusammenzubringen. In London war ich eines Tages zum österreichischen Nationalfeiertag am 26. Oktober eingeladen, nach der österreichischen Hymne habe ich also jüdische Lieder gesungen. Auch viele in London lebende österreichische Juden waren dort, und die Menschen waren gerührt.

Was haben Sie als Nächstes vor?

Mein Herbst-Konzertprogramm heisst „Jiddische Neschome", Jiddische Seele, das ich gemeinsam mit Kammerschauspieler Kurt Sobotka und dem israelischen Klarinettisten Hannan Bar Sela gestalten werde. Ausserdem wird im November das traditionelle Kantorenkonzert stattfinden. Darauf freue ich mich schon sehr.

Wie planen Sie Ihre Konzerte, was schwebt Ihnen da vor?

Die Präsentation von „A New Light" beispielsweise habe ich gemeinsam mit dem ORF Ö1-Moderator Gottfried Cervenka, dem Klassik- und Opernfachmann, gemacht, begleitet wurde ich von Paul Gulda. Das Datum, der 3. Juni, war nicht zufällig gewählt: An dem Tag ist nämlich nicht nur mein eigener Geburtstag, sondern auch jener meines ersten Vorbildes, Jan Peerce (1904-1984). Er und sein Schwager, Richard Tucker (1913-1975), sowie natürlich der grosse Josef Schmidt (1904-1942), alle drei Kantoren und Opernsänger, sind meine Vorbilder. Als ich meine letzte CD präsentierte, wählten die Veranstalter den 16. November. Erst kurz davor wurde mir überhaupt klar - an dem Tag ist die Jahrzeit von Josef Schmidt: So wurde es ein Gedenkkonzert für diesen wunderbaren Menschen, der so tragisch in einem Schweizer Internierungslager sterben musste. Wenn ich etwas tue, will ich auch Gutes tun.

Welche Aufgabe hat Musik für Sie?

Ich versuche, die jüdische Tradition hoch zu halten, und dieses Ziel kann ich über die Musik viel besser erreichen als über alle anderen Wege. Das kann ich, das ist meine Berufung. Mein Motto ist: „Denke gut, und es wird gut!" Mein Dank geht an alle, die mir geholfen haben, diese CDs zustande zu bringen, und an meine Familie, die hinter mir steht, für ihre Geduld.

Diskografie (Auswahl):

  

Shmuel Barzilai, Wiener Sängerknaben (2000), Sounds of Prayer (2008), Song and Prayer (2010), A New Light (2012). Alle CDs erhältlich im Fachhandel.

  

Weiterführende Information: www.cantor-barzilai.com

  

Konzert: „Jiddische Neschome", Shmuel Barzilai & Friends, 17.11.2012, Theater Akzent, Wien 4, Theresianumgasse 18, Beginn: 19.30 Uhr, Veranstalter: Jiddischer Kulturherbst 2012, Jüdisches Institut für Erwachsenenbildung, www.jiddischerkulturherbst.at