Auch heute herrscht, wie so oft, das typische bergische Regenwetter. Die Menschen in der Industriestadt an der Wupper haben sich daran gewöhnt. Der Volksmund sagt: Die Wuppertaler kommen mit dem Regenschirm zur Welt.
Die Zusammenlegung der beiden Städte Barmen und Elberfeld zur Grossstadt ist noch gar nicht so lange her. Erst seit 1929 heisst die ehemalige Bergische Textilmetropole Wuppertal. 120 Kilometer schlängelt sich die Wupper durch das Bergische Land, bis sie schliesslich bei Leverkusen in den Rhein mündet. Wie ein Stahlwurm zieht sich 13,3 km lang das Wahrzeichen der bergischen Hauptstadt, die Schwebebahn, über den Fluss, der der Stadt den Namen gab.
Die Schwebebahn, ein Industriedenkmal par excellence: 1901 fertiggesellt gehört sie bis heute zum unverzichtbaren Verkehrsmittel der über 350.000 Einwohner zählenden Grossstadt. Bei der Einweihung der Strecke von Barmen nach Elberfeld meinte Kaiser Wilhelm, als die Bahn die Stadtgrenze Barmens erreichte, zu seiner Frau: „Luise setz den Hut, auf wir kommen in die Stadt!".
An dieser Missachtung als Stadt leiden die Barmer bis heute. An den Hängen links und rechts der Wupper haben sich die Menschen niedergelassen, hier wurde schon früh Garn gebleicht, Bandwebereien liessen sich an der Wupper nieder, unzählige Kotten, (Scherenschleifer-Werkstätten) nutzten die Wasserkraft des Bergischen Flusses. Berge gibt es hier auch, aber der Name der Landschaft rührt von der Grafschaft Berg her. Herzogtum und territoriales Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im östlichen Rheinland. Das Territorium wurde von 1521 bis 1609 von Herzögen aus dem Haus der Grafen von der Mark regiert, einer früh abgespaltenen Seitenlinie der Grafen von Berg.
Jüdische Zuwanderung und Ausweisung
In der Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgt die erste urkundliche Erwähnung einer Zuwanderung von Kölner Juden in das Herzogtum Berg. Doch bereits 1495 wurde die Ausweisung aller Juden aus dem Herzogtum betrieben. Fast 200 Jahre später erhält 1691 der Jude Isaak Meyer vom Kurfürsten Johann Wilhelm einen Geleitbrief, um sich in Elberfeld aufhalten zu können. 1779 wird eine neue Geleitkonzession erlassen: Es dürfen nicht mehr als 250 jüdische Haushalte in den Herzogtümern Jülich und Berg sein, arme und verdächtige Juden müssen sofort das Land verlassen, die vermögenden Juden haften für die Steuerzahlungen der unvermögenden, bei Geburt und Tod eines männlichen Juden muss je ein Goldgulden entrichtet werden. Gleichzeitig sollen Verhöhnung und Beleidigung der Juden streng bestraft werden. Diese Geleitkonzession kostet die Juden 10.000 Gulden und zusätzlich eine Jahresgebühr von 4.000 Gulden.
Mit der Besetzung der rechtsrheinischen Gebiete durch die Franzosen änderten sich schlagartig die Bedingungen für die Ansiedlung von Juden. Die französische Nationalversammlung gab den Juden die Bürgerrechte und somit die Legitimation, sich in den französisch besetzten Gebieten niederzulassen, rasch wurden mehrere Synagogen-Gemeinden gegründet.
Auf Druck der Bleicherzunft (Garnnahrung) wird 1794 ein Erlass von Kurfürst Karl Theodor herausgegeben, der Juden den Aufenthalt und die Niederlassung im Wuppertal verbietet. 1795 besetzen die Franzosen auch die rechtrheinischen Gebiete, aber die von den französischen Behörden erlassenen Judengesetze gelten nur für die linksrheinische Seite. Das Bergische Land steht nun weiterhin unter der Regierung des bayerischen Kurfürsten Maximilian Joseph, der durch die pfälzische Erbfolge an das Herzogtum Berg, Kleve und Jülich gelangte. Er ignorierte die französischen Errungenschaften der Juden. Im Frühjahr1806 trat Kurfürst Maximilian IV. Joseph das Herzogtum Berg an Napoleon ab.
Neun Jahre später wird das Bergische Land preussisch. Juden siedeln sich in Schwelm, Barmen und Elberfeld an. G‘ttesdienste werden vorerst in Privathäusern abgehalten. 1852 gründete sich nach preussischem Recht die Elberfelder Synagogen-Gemeinde. Mit der Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung stetig an. 1890 lebten bereits 416 Juden in Barmen. Vier Jahre später gründete sich die jüdische Gemeinde Barmen und erwarb gleichzeitig einen Bauplatz für eine zukünftige Synagoge. Im Stil des maurischen Historismus entwarf der Karlsruher Architekt Ludwig Levy die Barmer Synagoge in der Scheurenstrasse. Von 1897 bis zum Novemberpogrom 1938 war sie das geistige Zentrum der Barmen Juden.
1869 wird die bekannteste Jüdin aus Wuppertal als Tochter des Privat-Bankiers Aaron Schüler geboren. Es ist die Lyrikerin Else Lasker-Schüler. Nach tätlichen Angriffen auf offener Strasse emigriert die grosse Elberfelder Dichterin 1933 in die Schweiz. Nach dem Exil in Zürich wanderte sie nach Palästina aus und verstarb unglücklich in Jerusalem im Januar 1945. Ihr literarisches Erbe zu erhalten und zu popularisieren hat sich die gleichnamige Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft zum Ziel gesetzt. Im Februar 2012 tagte sie mit einem dreitägigen Literaturforum in Wien.
Neubeginn nach 1945
Im Herbst 1945 gründet der Elberfelder Gustav Brück, der von 1926 bis zur seiner Deportation 1944 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Elberfeld gewesen ist, die neue „Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal", die nun auch die Städte Heiligenhaus, Radevormwald, Remscheid, Solingen, Velbert und Wülfrath umfasst. Der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Wuppertal für die jüdische Gemeinde als Provisorium im Essensaal des jüdischen Altenheimes in der Aue. 150 Menschen versammelten sich hier bis in die 1990er Jahre zum Gebet.
Im Jahre 1962 kamen engagierte Bürger der Stadt auf die Idee, eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus einzurichten. Auf dem Gelände der ehemaligen Elberfelder Synagoge sollte die Erinnerungsstätte entstehen, doch da etablierte sich im Zeichen des deutschen Wirtschaftswunders mittlerweile ein Parkplatz. Generell gab es grosse Widerstände der Elberfelder für eine Gedenkstätte zu entkräftigen. Trotz alledem, das schlechte Gewissen siegte, und so konnte der kubistische Bau schliesslich doch durchgeführt werden. Eine sehr gewagte architektonische Idee, die den Besucher mental auf die Spuren der Verfolgung führen soll. Mit einer Gedenktafel soll an den alten Standort erinnert werden. Zur Zeit läuft eine interessante Dauerausstellung zum Thema Thora und Textilien, sie zeigt eindrücklich das jüdische Leben in Berg und Mark.
Einwanderung aus der früheren Sowjetunion
Wie in vielen Städten der damaligen Bundesrepublik wurde es für die jüdischen Gemeinden immer schwieriger, einen Minjan zusammenzustellen. Das veranlasste den damaligen Vorsitzenden des Zentralverbandes der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sich an den seinerzeitigen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl zu wenden. Er bat ihn Ende der 1980er Jahre, mit dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow über die Möglichkeit zu sprechen, ausreisewillige russische Juden nach Deutschland zu schicken, um so dem Aussterben der deutschen jüdischen Gemeinden zu entgegen zu wirken.
Im Zuge der Wiedervereinigungsverhandlungen sind dann tatsächlich ab 1989 fast 100.000 russische Juden aus den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert. Dies stellte die jüdischen Gemeinden vor eine fast unlösbare Aufgabe. Für die vielen Einwanderer mussten erst einmal Wohnraum und ein eine soziale Infrastruktur hergestellt werden. Vom jüdischen Ritus hatten nur wenige eine Ahnung, denn in Russland war ein Bekenntnis zum Judentum mit Repressalien verbunden. Die provisorische Synagoge in der Aue platze völlig aus den Nähten. Für die inzwischen auf fast 2000 Menschen angewachsene Gemeinde musste ein grösseres Gemeindezentrum gefunden werden. Mühevoll lernten die Neuankömmlinge die hebräischen Thoratexte in kyrillischer Schrift als Transkription zu lesen, im hebräischen Originaltext war dies noch nicht möglich. Die russischen Juden stellten nun in den alten deutschen jüdischen Gemeinden die Majorität dar und das führte zu grossen Widerständen und Missverständnissen, denn die Deutschen verstanden kaum Russisch.
Schnell integrierten sich die neuen Mitglieder, lernten von den nichtjüdischen Freunden die deutsche Sprache. Die evangelische Kirchengemeinde Barmen Gemarke und die Rheinische Landeskirche schenkten der jüdischen Gemeinde Grund und Boden, um ein neues Zentrum in Wuppertal Barmen entstehen zu lassen. Die brüder- und schwesterliche Hilfe kann auch im Kontext zur Barmer Synode gesehen werden, denn genau in dieser Kirchengemeinde wurde im Mai 1934 von Pastor Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer die These der Bekennenden Kirche verfasst, der erste zarte Widerstand gegen die Rassentheorie der Nazis in der evangelischen Kirche.
Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Novemberpogrom und der Zerstörung der Alten Barmer Synagoge in der Scheurenstrasse erfolgte im Oktober 2001 im Garten der Barmen Gemarke die Grundsteinlegung für die neue Bergische Synagoge. Vorausgegangen war eine Initiative der ehemaligen Wuppertaler Oberbürgermeisterin Ursula Kraus. Sie gründete 1996 den Freundeskreises Neue Synagoge e.V. zur Förderung des Synagogenneubaus. Alle gesellschaftlich und politisch interessierten Gruppierungen unterstützen das Vorhaben mit Spenden und Wohlwollen, allen voran der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau (selig), ein gebürtiger Barmer.
Mit grosser Freude und Anteilnahme durch die Wuppertaler Bevölkerung wurde im Oktober 2002 der Neubau fertiggestellt, am 8. Dezember 2002 wurde die Bergische Synagoge in Gegenwart des Bundespräsidenten Rau und des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katzav feierlich geweiht. Sie ist für die Juden im bergischen Städtedreieck Solingen, Remscheid, Wuppertal und der westfälischen Nachbarstadt Schwelm auch eine wichtige Anlaufstelle für soziale und religiöse Belange.
Führungen durch die Synagoge
Das Aushängeschild der Barmer Gemeinde ist der Chor Mazl Tov und ein Beispiel für hervorragende Integrationsarbeit. Rokella Rachel Verenina, Musikwissenschaftlerin aus Odessa, hat 1997 den Chor mit acht Gemeindemitgliedern gegründet und führt ein strammes Regiment. Der Chor besteht inzwischen aus 40 Sängerinnen und Sängern, darunter auch Nichtjuden. Die Chor-Konzerte zeichnen sich durch ein hohes musikalisches Niveau aus.
Im Eingangsbereich der Bergischen Synagoge empfängt Gemeindevorsteher Leonid Goldberg an die 50 Viert-Klässler einer Grundschule aus der benachbarten Stadt Schwelm. Sie wollen die Synagoge kennenlernen. Leonid Goldberg ist in seinem Element, seit neun Jahren führt er erfolgreich Gruppen durch die neue Bergische Synagoge und erklärt ihnen das Judentum. Die wissbegierigen Jungen und Mädchen halten den „Melamed" in Atem. „Was ist eine Thorarolle, woraus besteht sie und wie viel kostet sie, warum muss man als Mann in der Synagoge eine Kippah tragen usw.?"
Vier Thorarollen konnten aus der brennenden Elberfelder Synagoge 1938 gerettet werden. Sie wurden auf dem jüdischen Friedhof am Weinberg in Elberfeld versteckt. Heute schmücken sie den Thoraschrein der neuen Synagoge. Für rund 26.000 Euro liess die Gemeinde von Wuppertals Partnerstadt Ber Sheva die noch fehlende fünfte Thorarolle herstellen.