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DAVID im Gespräch mit Israels Botschafter Aviv Shir-On

Alfred GERSTL

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Seit 2009 vertritt Botschafter Aviv Shir-On Israel in Österreich. Nach dem Militärdienst während des Yom Kippur-Krieges und im Anschluss an sein Studium trat er 1978 in den diplomatischen Dienst ein. Perfekt Deutsch sprechend, war der Karrierediplomat (Jahrgang 1952) u.a. Botschaftsrat in Bonn, Botschafter in der Schweiz, Pressesprecher des Aussenministeriums sowie in verschiedenen Funktionen an den Friedensverhandlungen mit Israels Nachbarländern aktiv beteiligt. DAVID führte mit Botschafter Shir-On ein ausführliches Gespräch über die unterschiedliche Vergangenheitsbewältigung in Österreich und Deutschland, den Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und den andauernden Nahost-Konflikt.

DAVID: Exzellenz, Sie haben nach ihrem Militärdienst an der Hebräischen Universität in Jerusalem Internationale Politik studiert. Anschliessend sind sie in den diplomatischen Dienst eingetreten. War es immer schon ihr Wunsch, Diplomat zu werden?

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Botschafter Aviv Shir-On: "Seit der Waldheim-Affäre hat Österreich grosse Fortschritte in der Vergangenheitsbewältigung gemacht."

Botschafter Aviv Shir-On: Schon als Kind habe ich mich immer für Politik interessiert und die Nachrichten verfolgt, und zwar über Radio und Zeitungen, denn in meiner Jugend hatten wir daheim noch keinen Fernseher. Nach dem Studium der Internationalen Politik und nach meinem Militärdienst - ich war Panzeroffizier auf den Golan-Höhen während des Yom Kippur-Krieges - wurde ich in die Diplomatische Akademie aufgenommen, ein Jahr später in den diplomatischen Dienst, für den die Aufnahmekriterien sehr streng sind.

Ihr erster Auslandsposten führte Sie von 1981 bis 1985 in die israelische Botschaft in Bonn, eine der grössten Missionen Israels, und zwar als Erster Sekretär der Informationsabteilung. Welchen Bezug zu Deutschland hatten Sie vorher?

 

Meine Mutter stammte aus Deutschland, ich habe deutsche Verwandte im Holocaust verloren. Meine Familie war jedoch nie strikt anti-Deutsch. Als Kind wollte ich mit meiner Mutter nicht Deutsch sprechen, allerdings beherrschte ich es passiv immer schon sehr gut. Deshalb habe ich die Sprache dann in Deutschland rasch auch aktiv gelernt. Ich habe mich als Israeli gefühlt, entsprechend wollte ich Hebräisch sprechen. Generell wurde durch eine solche Einstellung in Israel das Hebräische als Sprache wiederbelebt. Meine Deutschkenntnisse waren sicherlich mit ein Grund, dass ich meine Posten in Deutschland, der Schweiz und Österreich erhielt. Dazwischen kehrte ich immer für einige Jahre nach Jerusalem zurück: In Israel müssen Diplomaten nach einem Auslandsposten wieder in der Zentrale arbeiten, um dann wieder ins Ausland entsandt zu werden.

 

1988 kehrten sie als Botschaftsrat und Leiter der Informations- und Presseabteilung an die Botschaft in Bonn zurück. Das war damals eine höchst bewegte und geschichtsträchtige Zeit. Wie haben Sie den Fall des Eisernen Vorhangs miterlebt?

Ich habe den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 direkt mitverfolgt. Am 8. November, also am Vortag des Jahrestags der Reichskristallnacht, fand in West-Berlin eine grosse Gedenkveranstaltung statt. Als für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Verantwortlicher nahm ich auch teil und hatte mir für den nächsten Tag einige Termine in Berlin ausgemacht. Als ich am 9. November im Fernsehen die Menschenmassen auf der Mauer sah, habe ich mir sofort ein Taxi genommen und bin zum Brandenburger Tor gefahren, um diese Ereignisse mit eigenen Augen zu verfolgen.

Dass die Mauer so rasch fallen würde, war natürlich nicht vorhersehbar. Aber aufgrund von Michail Gorbatoschows perestroijka und glasnost war seit Mitte der 1980er Jahre ein Wandel fühlbar gewesen.

 

Frankreich und England standen der Wiedervereinigung anfänglich höchst kritisch gegenüber. Welche Position vertrat Jerusalem?

 

Die Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik waren zu diesem Zeitpunkt sowohl politisch als auch wirtschaftlich schon sehr gut, auch der Jugend- und Kulturaustausch hatte stark zugenommen. Die israelische Führung musste jedoch Rücksicht auf jene Israeli nehmen, die noch selbst Erinnerungen an Grossdeutschland hatten oder Familienangehörige im Holocaust verloren hatten. Ende der 1980er Jahre gab es auch in der Knesset noch viele Abgeordnete, die selbst schlechte Erfahrungen mit Grossdeutschland gemacht hatten. Israelische Politiker und Diplomaten klärten die Bevölkerung aber über die erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung in Deutschland auf und reduzierten so die Ängste.

Israel und Ostdeutschland hatten dagegen nie diplomatische Beziehungen unterhalten, denn die DDR hatte sich nie zur nationalsozialistischen Vergangenheit bekannt. Das Land hat sich immer als antifaschistische Macht dargestellt - die Nazi-Verbrechen habe Westdeutschland begangen. Auch im Nahen Osten trat die DDR rhetorisch als „Friedensengel" auf, allerdings verfolgte sie einen strikt anti-israelischen Kurs und unterstützte die PLO. Israelische Diplomaten konnten zwar Termine in Westberlin wahrnehmen, Ostberliner Boden durften sie jedoch anders als die anderen Diplomaten nicht betreten. Dort herrschte für uns immer eine angespannte Situation.

Nach dem Fall der Mauer wollte die DDR dann jedoch Kontakte zu Israel einfädeln. Da Israel sich seit jeher normale Beziehungen mit allen Staaten der Erde wünscht, kam es in Westberlin zu einem Treffen. Doch, wie wir rasch erkannten, war der einzige Grund für die Initiative der DDR, dass sich die Führung von einer Anerkennung Israels Unterstützung für die weitere Existenz von zwei deutschen Staaten erhoffte. Israel hätte dafür sozusagen das wichtigste diplomatische Gütesiegel vergeben. Deshalb lehnte Israel die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ab.

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"Wir haben keine territoriale Tiefe, deshalb benštigen wir Sicherheitsgarantien." - Fotos: A. Gerstl

Aufgrund der Nazi-Vergangenheit sind Österreich und Deutschland doch sicherlich schwierige Posten für israelische Diplomaten?

 

Beide sind emotional sehr schwierig. Deutschland ist das einzige Land, in das israelische Diplomaten aus Gewissensgründen eine Entsendung ablehnen dürfen. Dass meine erste Auslandsmission in Bonn war, empfand ich jedoch als eine grosse Auszeichnung. Und in meiner Familie herrschte die Einstellung, dass die zweite Generation Brücken zwischen Israel und Deutschland schlagen sollte. Meine Frau hatte am Anfang Bedenken, als wir 1981 nach Bonn gingen. Doch diese wurden rasch zerstreut: Wir haben sehr positive Alltagserfahrungen gemacht und gesehen, wie aktiv die Deutschen versuchten, mit ihrer Vergangenheit klar zu kommen.

Sie kennen ja die Geschichte und Politik Österreichs und Deutschlands bestens. Im Vergleich zu Deutschland: Wie beurteilen Sie den Stand der Vergangenheitsbewältigung in Österreich?

 

Dass sich Österreich lange als erstes Opfer Hitler-Deutschlands gesehen hat, hat zu Problemen und Missverständnissen geführt. Lange Zeit waren in Österreich Verdrängen und Vergessen angesagt, es hiess, „das waren die Nazis da drüben" Deutschland war mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit schon viel früher viel weiter. Unter Bruno Kreisky waren die politischen Beziehungen nicht die besten. Doch er hat immer einen Unterschied gemacht zwischen seiner Kritik an der Politik Israels und der Unterstützung der Araber im Nahost-Konflikt auf der einen Seite und seiner Hilfe z.B. für jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion auf der anderen Seite.

Seit der Waldheim-Affäre hat Österreich grosse Fortschritte in der Vergangenheitsbewältigung gemacht. Der damalige Bundeskanzler Vranitzky fand bei seinem Israel-Besuch 1993 deutliche Worte und bekannte sich zu allen guten wie schlechten Taten der Österreicher. 2009 kritisierte Bundespräsident Fischer vor ehemaligen jüdischen Auswanderern die Opfer-These. Dazu gibt es viele positive Initiativen des Unterrichtsministeriums, des National- und des Zukunftsfonds sowie beachtliche Fortschritte wie z.B. bei der Restitution von Kunstschätzen.

Erlauben Sie mir sozusagen die umgekehrte Frage: Welches Image hat Israel aus Ihrer Sicht in Österreich und Deutschland heute?

 

Das Image Israels hat seit Ende des Kalten Krieges und unter dem Nahost-Konflikt sicherlich gelitten. Nach der Gründung Israels genossen wir als die schwächere Seite viel Sympathie. Auch weil unsere Umgebung nicht bereit war, uns als Tatsache zu akzeptieren: Die arabischen Nachbarstaaten begannen 1948 und 1967 Kriege, um uns auszulöschen. Selbst heute haben wir nur mit Ägypten und Jordanien Friedensverträge.

Heute werden jedoch die Palästinenser als die schwächere Partei gesehen: Israel ist wirtschaftlich erfolgreich und ein demokratischer Staat. Man erwartet von uns, als der stärkeren Seite, dass wir mehr Kompromisse machen, um den Konflikt zu beenden. Ephraim Kishon fasste dies schon nach dem Sechs-Tage-Krieg im ironischen Titel seines Buches „Verzeihung, wir haben gewonnen" zusammen.

Israel ist die einzige Demokratie im Nahen und Mittleren Osten, und trotzdem wird Israel in den internationalen Institutionen, etwa dem Menschenrechtsrat in Genf, am meisten kritisiert. Vor wenigen Wochen hat ausgerechnet Assads Syrien Israel offiziell wegen der Situation am Golan angeprangert. Wenn man immer nur Negatives hört, so belastet das das Image natürlich, nach dem Grundsatz: Es wird schon irgendetwas an diesen Vorwürfen dran sein, wenn sie sooft wiederholt werden. Wir haben in unserer Öffentlichkeitsarbeit den Fehler gemacht, dass wir ganz einfach davon ausgegangen sind, dass die Welt unsere Sichtweise versteht und teilt.

Der Schriftsteller Günther Grass hat in seinem Gedicht heftige Kritik an Israel geübt. Ihm wurde daraufhin Antisemitismus vorgeworfen.

 

Es ist ein unsinniger Vorwurf, dass jeder, der Israel kritisiert, ein Antisemit ist, wie das jetzt Günther Grass vorgeworfen wird. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es nach wie vor sehr viele Antisemiten gibt. Und selbstverständlich gibt es auch legitime Kritik an Israel - das ist völlig in Ordnung in einer Demokratie, das politische System Israels muss das aushalten. Israel ist eine freie Gesellschaft, und es gibt viel Selbstkritik. Doch natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Israeli oder ein Nicht-Israeli die Politik Israels kritisiert.

Die legitime Kritik endet jedoch dort, wo das Existenzrecht Israels betroffen ist. Die Menschen, die argumentieren, das Judentum sei eine Glaubensgemeinschaft - wozu braucht es einen eigenen Staat? Der Grund ist, dass das Judentum die einzige Religion ist, die sich auch als Volk versteht und daher ein Recht auf nationale Selbstbestimmung besitzt.

Im Fall Grass spiegelt sich das derzeitige Problem exemplarisch. Sein Bild des Nahen Ostens ist total verzerrt, wenn er Israel als die grösste Gefahr für die Region bezeichnet. Die aktuellen Revolutionen im Nahen Osten zeigen, dass der Israel-Palästina-Konflikt nicht das Hauptproblem in der Region ist, denn diese Krisen haben nichts mit der Palästinenser-Frage zu tun. Es gibt in Israel viele hervorragende Schriftsteller - Grass sollte ihnen oder anderen Intellektuellen aus dem Nahen Osten das Schreiben über Israel und die Region überlassen.

Sie haben den israelisch-palästinensischen Konflikt angesprochen: Welche Schritte müssen Israeli und Palästinenser unternehmen, um einen fairen Friedensschluss zu erreichen?

 

Es gibt keine Alternative zu einem Palästinenser-Staat. Doch zuerst geht es um die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Israel muss sich immer verteidigen können. Wir haben keine territoriale Tiefe, deshalb benötigen wir Sicherheitsgarantien. Das Dilemma, vor dem unsere Politik steht, ist: Welche Risiken kann Israel für ein Friedensabkommen auf sich nehmen, ohne damit die eigene Existenz zu gefährden? Alle politischen Parteien sind für ein Abkommen, aber sie unterscheiden sich darin, wie weitreichend die Kompromisse sein sollen. Es wird darüber heftig diskutiert.

Warum gestalten sich die Verhandlungen dermassen schwierig? Und was sind die grossen Streitthemen?

 

Die grossen Streitthemen sind Jerusalem, der Grenzverlauf und die Siedlungen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass ungefähr eine Million Araber in Israel leben. Warum sollen da nicht 3000 bis 4000 Juden in der Westbank leben dürfen? Soll die Westbank „judenrein" werden? Die Situation ist weder für Israeli noch Palästinenser einfach, es sind mutige und schwierige Entscheidungen und Zugeständnisse notwendig. Doch die Palästinenser streben in internationalen Gremien die Anerkennung als Staat an, das heisst, sie möchten anerkannt werden, ohne mit uns zu verhandeln und Konzessionen zu machen.

Die Palästinenser sind gespalten. Das Hamas-kontrollierte Gaza ist zu einer Raketenbasis geworden. Wir wollen nicht, dass das gleiche in der Westbank passiert. Ein neues politisches Abkommen darf unsere Sicherheit nicht verringern.

Ich will nicht die Fehler, die Israel in den letzten Jahren in den Verhandlungen gemacht hat, unter den Teppich kehren, allerdings sind sie sicherlich auch nicht gravierender als jene, welche die arabischen Despoten gemacht haben.

 

Zurück zu Österreich: Wie schwierig ist es, auch bei emotional aufwühlenden Themen als Repräsentant des Staates Israel stets diplomatisch zu bleiben?

Ich trage hier in Österreich immer gewissermassen drei Mützen: einmal bin ich Jude, dann Israeli und schliesslich Botschafter.

Exzellenz, herzlichen Dank für das Gespräch!