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Ignaz Kuranda – Lebensbild eines Liberalen

Gerald BRETTNER-MESSLER

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Ignaz Kuranda ist heute nur mehr Kennern der österreichischen Geschichte bekannt, wiewohl sein Werdegang mit dem kulturellen und politischen Leben des 19. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht verbunden ist. Geboren als deutschsprachiger Jude in Böhmen, wurde er Schriftsteller und, in prominenter Position, auch Politiker. Leider wurde seinem Wirken kaum Nachhaltigkeit zuteil.

Ignaz Kuranda wurde am 8. Mai 1811 in der böhmischen Landeshauptstadt Prag geboren. Sein Vater war Buchhändler und Antiquar; die literarische Tätigkeit war ihm somit gewissermassen in die Wiege gelegt. 1834 übersiedelte er nach Wien, dem Zentrum des Habsburgerreiches. Es war die Zeit, die wir heute „Vormärz" nennen. Politisch wurden diese Jahre vor der Revolution 1848 von Staatskanzler Clemens von Metternich geprägt, der im Inneren die unbeschränkte Macht der Krone zu bewahren trachtete. Kuranda wurde Student an der Wiener Universität und arbeitete für die Zeitung „Telegraph" als Theaterkritiker. Literarisch trat er zum ersten Mal 1835 in Erscheinung, als die „Bohemia" in Prag ein Huldigungsgedicht anlässlich des Geburtstages von Kaiser Franz I. veröffentlichte.

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Ignaz Kuranda (1811 - 1884). Quelle: Adolf Kohut, Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit, Leipzig-Reudnitz: Payne o.J. [ca. 1900], Seite 313.

Journalist und Dramatiker

Bereits 1837 legte er sein Hauptwerk, das Drama „Die letzte weisse Rose", vor. Inhalt war die Geschichte des Hochstaplers Percy Warbeck, der vorgab, der letzte Vertreter des Hauses York, der in Wahrheit vermutlich im Tower ermordete Richard of York, zu sein - daher der Titel, da die weisse Rose Symbol dieses Geschlechts war. Warbeck diente als nützliche Figur im Spiel der europäischen Herrscher, darunter auch Kaiser Maximilian, und endete schliesslich am Galgen. Schiller hatte ein Fragment zu dieser Geschichte hinterlassen, das Kuranda als Vorlage diente. In Wien wurde das Stück zunächst nicht angenommen, sondern gelangte in Stuttgart zur Uraufführung. Es wurde dann auf mehreren deutschen Bühnen gegeben, 1844 endlich auch in Wien.

Kuranda reiste zur Premiere nach Stuttgart und weiter nach Tübingen, wo er eine Zeit verbrachte. Schliesslich begab er sich nach Paris und von dort nach Brüssel, wo er Korrespondent der „Augsburger Allgemeinen Zeitung" wurde. Das war insofern bedeutsam, als Belgien seit 1831 über eine Verfassung verfügte, wie sie auch Liberalen in anderen Staaten vorschwebte: Zweikammern-Parlament, Wahlen, Ministerverantwortlichkeit, unabhängige Richter, bürgerliche Grundrechte. Kuranda entfaltete in Belgien eine reichhaltige literarische und kulturelle Tätigkeit. Er hielt Vorträge über deutsche Literatur und setzte sich für die Sache der Flamen als Volk mit einer ebenfalls germanischen Sprache ein. 1841 gründete er die Zeitschrift „Die Grenzboten", die in Brüssel frei von der Zensur in deutschen Ländern erscheinen konnte. Von dieser Freiheit wurde auch ausgiebig Gebrauch gemacht und die herrschenden Verhältnisse in Österreich kritisiert, gleichzeitig aber eine führende Stellung Österreichs im Deutschen Bund befürwortet. Ein Unternehmen, das drucktechnisch gar nicht einfach zu bewerkstelligen war, gab es doch in Belgien keine deutschen Lettern.

Die liberale und pro-österreichische Haltung von Kuranda und den „Grenzboten" führte dazu, dass die preussische Regierung schliesslich Druck auszuüben begann, zumal sich Kuranda geweigert hatte, trotz Wunsch des preussischen Gesandten ein Begrüssungsgedicht auf König Friedrich Wilhelm IV. zu veröffentlichen. Das Mittel dazu war die Untersagung des Transportes der Zeitschrift durch die Post - von Belgien aus ging der Weg ins übrige Deutschland über preussisches Territorium. Kuranda verlegte daher die Redaktion ins sächsische Leipzig. Dort wurde die Zensur weniger streng gehandhabt, und ausserdem war man näher zu Österreich. Die Zeitschrift veröffentlichte nicht nur literarische Beiträge, sondern weiterhin auch politische Artikel, wobei Kuranda darauf achtete, dass sie nicht ins radikale Fahrwasser glitt. Er selbst publizierte in den „Grenzboten" selten, hielt aber die Fäden der Redaktion in seiner Hand und war auch anderweitig schriftstellerisch tätig. An der Universität Leipzig erwarb er während dieser Jahre das Doktorat der Philosophie.

1848: Der Politiker Kuranda

März 1848: In Wien brach die Revolution aus. Kuranda eilte in die österreichische Hauptstadt, um am Puls der Ereignisse zu sein. Die Redaktion der „Grenzboten" gab er ab. Hatte Kuranda bis zu dieser Zeit ausschliesslich als Schriftsteller auf die Politik Einfluss genommen, so konnte er nun aktiv politisch tätig werden. Diese Aktivitäten führten ihn nach Frankfurt, wo die deutsche Nationalversammlung, die erste Volksvertretung in den Ländern des Deutschen Bundes, zusammentreten sollte. Kuranda wurde Mitglied des sogenannten „Fünfziger-Ausschusses". Dieser sollte die Wahlen zur Nationalversammlung vorbereiten und eine deutsche Regierung bilden. Ähnlich wie für die Flamen setzte sich Kuranda in Frankfurt für die Interessen der nichtdeutschen Völker innerhalb des Deutschen Bundes ein: „Wir wollen in der deutschen Verfassung die Aufrechthaltung und Hochachtung fremder Nationalitäten aussprechen und dadurch der Welt ein Beispiel von Humanität und höheren Staatsrechtes geben."

Am gleichen Tag, als Kuranda seine Forderungen erhob, formulierte František Palacký, der „Vater der Tschechen" und Vorkämpfer für die Rechte der Tschechen in Österreich, seine Ablehnung, an dem Vorparlament, zu dem er geladen worden war, teilzunehmen. Palacký begründete dies damit, dass er kein Deutscher sei und die Verbindung Böhmens mit Deutschland lediglich eine solche des Königs von Böhmen (gewesen) sei, aber nicht des böhmischen Volkes. (Palacký implizierte damit, dass dies für die deutschen wie die tschechischen Böhmen galt.) Auf diese Mitteilung hin wurden Kuranda und zwei Kollegen nach Prag entsandt, um Palacký zu einer Änderung seiner Haltung zu bewegen - erfolglos. Die Differenzen zwischen Deutschen und Tschechen waren schon damals geeignet, die Gemüter so zu erhitzen, dass Gewaltausbrüche drohten - ein Omen für die Nationalitätenkonflikte nachfolgender Jahrzehnte. Auf dem Prager Slawenkongress im Juni 1848 wurden erstmals politische Forderungen der Slawen erhoben, die auf der nationalen Gleichberechtigung mit Deutschen und Ungarn und einer föderativen Ausgestaltung des Kaisertums Österreich beruhten.

Im Mai 1848 wurde Kuranda zum Abgeordneten des deutsch-böhmischen Badeortes Teplitz (später Teplitz-Schönau, heute Teplice, CZ) gewählt. (In den tschechischen Gebieten Böhmens wurde nicht gewählt.) Seine erste Rede vor der in der Paulskirche tagenden Nationalversammlung galt dem Militäreinsatz gegen den Aufstand in Prag, der von Feldmarschall Fürst Alfred Windischgrätz geleitet worden war. Die Prager Revolutionäre hatten die Abtrennung der slawischen Kronländer von Österreich verlangt. Kuranda ergriff im Parlament für die Deutschen Böhmens Partei und meinte, dass es diese aufgrund ihrer Leistungen für Böhmen nicht verdient hätten, als „geduldete Fremdlinge" im eigenen Land behandelt zu werden. Er verteidigte Windischgrätz, während die Linke des Hauses dessen Vorgehen verurteilte. Mit dieser Stellungnahme demonstrierte Kuranda seine gemässigte Haltung und Skepsis gegenüber der Revolution. Er sprach sich dezidiert gegen eine Republik aus und bezeichnete die Monarchie als die „allein und ausschliesslich zweckmässige" Staatsform. Weil er aber den evolutionären Weg der Veränderung nicht gefährden wollte, suchte er die Linke einzubinden.

Kuranda behielt sein Mandat nur kurz. Ende Juli nahm er schon nicht mehr an den Abstimmungen teil, im August 1848 legte er das Mandat zurück. Kurz zuvor hatte er geheiratet. Am 15. August nahm er Regine Wittelshöfer im böhmischen Kolin zur Frau. Die Hochzeit eines deutschen Abgeordneten provozierte Demonstrationen tschechischer Gegner vor dem Haus, in dem die Hochzeitstafel stattfand. Im Herbst begab sich Kuranda wieder nach Wien und gründete - nachdem er die „Grenzboten" übergeben hatte - eine neue Tageszeitung, die „Ostdeutsche Post". Die erste Ausgabe erschien am 1. Oktober 1848, fünf Tage vor Beginn der Oktoberrevolution, dem Höhepunkt und Abschluss der revolutionären Ereignisse in Wien. In der Erstausgabe legte Kuranda sein politisches Programm dar. Er trat für die konstitutionelle Monarchie auf demokratischer Grundlage ein. Hinsichtlich der Deutschen in Österreich und der Stellung Österreichs innerhalb Deutschlands betonte er die emanzipatorische Haltung der Deutschen in Österreich, die Garant der Freiheit für alle Völker der Monarchie seien. Kuranda wollte den Habsburgerstaat erhalten und keine Eingliederung seiner deutschen Territorien in ein neu zu schaffendes Deutschland. Er argumentierte dabei mit nationalen Interessen. Österreich als Gesamtstaat würde Deutschland aufgrund seiner grossen Bevölkerungszahl und der daraus resultierenden militärischen und wirtschaftlichen Stärke nützlicher sein, als wenn Teile in Deutschland aufgehen würden.

Für Kuranda gab es aber eine Grenze. Sollte „Gefahr" für die deutsche Nationalität drohen oder Österreich slawisch dominiert bzw. die Deutschen durch die anderen Völker politisch majorisiert werden, „dann mag immerhin die Monarchie in Trümmern zerfallen", denn „Österreich (...) ist zu alten Zeiten deutsch gewesen und muss auch für alle Zukunft deutsch bleiben". Worte und Ansichten, wie sie eine Politikergeneration später bei den „Deutschnationalen" gang und gäbe waren, allerdings mit der grossen Einschränkung, dass Juden dann nicht mehr darunter waren; im Gegenteil: Antisemitismus und Judenhass hatten die Vereinbarkeit von Deutschtum und Judentum, wie sie Kuranda vertreten und gelebt hatte, zum Verschwinden gebracht.

Im „Neoabsolutismus", der auf die gescheiterte Revolution folgte, hatte Kuranda mit erneuten Repressalien zu kämpfen. Anfang 1849 musste er die „Ostdeutsche Post" kurzzeitig einstellen, nach der Festigung der kaiserlichen Macht durch die Sistierung der Verfassung 1851 wurde Kuranda in seine Heimat Böhmen ausgewiesen. Erst 1853 übernahm er wieder die Leitung der Zeitung. Er konnte seine Position behaupten, da sich seine gegen das geplante Konkordat gerichtete Haltung mit jener der antiklerikalen Polizeiführung deckte. Die Liberalen bekämpften das Konkordat, weil mit diesem der katholischen Kirche gewisse staatliche Funktionen, insbesondere der Schulunterricht, übertragen wurden. Mit der katholischen Kirche führte Kuranda noch eine andere Auseinandersetzung. Er griff in einem Artikel den Herausgeber der „Wiener Kirchenzeitung", Sebastian Brunner, wegen der antisemitischen Ausrichtung dieses Blattes an. Brunner klagte, Kuranda wurde aber freigesprochen. Der Prozess war aufsehenerregend, die Akten wurden sogar ins Französische und Italienische übersetzt.

Präsident der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde

1860/61 trat Österreich in die konstitutionelle Ära, und Kuranda konnte sich wieder aktiv in der Politik betätigen. Er wurde zuerst in den niederösterreichischen Landtag gewählt (Wien gehörte bis 1920 zu Niederösterreich) und wurde vom Landtag in den Reichsrat entsandt, dem er - später als direkt gewähltes Mitglied - bis zu seinem Tod angehörte. Kuranda war Vertreter der liberalen Partei und verfocht eine „grossösterreichische" Position. Er wollte die Monarchie als einheitliches Gebilde erhalten - verwarf daher den Ausgleich mit Ungarn 1867, also die Doppelstaatlösung - und eine möglichste enge Anbindung an Deutschland. Die Niederlage von Königgrätz gegen Preussen 1866 und das darauf folgende Ende Österreichs als deutscher Staat wirkten auf Kuranda wie ein Schock. Er stellte aufgrund der nun geänderten politischen Verhältnisse die „Ostdeutsche Post" ein und überlegte sogar, sein Mandat niederzulegen.

Wenige Jahre später fand er ein neues Betätigungsfeld. 1872 wählte ihn die Wiener Israelitische Kultusgemeinde zu ihrem Präsidenten. Auch in der Kultusgemeinde war er ein Unterstützer von Reformen, konnte aber als ein Mann des Ausgleichs ein Auseinanderbrechen in „Reformer" und „Orthodoxe" verhindern. Ausserdem setzte er sich für die Juden im Osten der Monarchie ein, deren wirtschaftliche Lage vielfach eine schlechte war.

Anlässlich seines 70. Geburtstages bekam er die Ehrenbürger-Würde der Stadt Wien verliehen. Er war auch Träger des Leopold-Ordens, eine damit verbundene Erhebung in den Adelsstand lehnte er aber ab. Kuranda litt an Asthma und starb infolge eines schweren Anfalls am 3. April 1884. Er wurde am Wiener Zentralfriedhof zur letzten Ruhe gebettet. Eine grosse Anzahl Abgeordneter wohnte dem Begräbnis bei; Eduard Herbst, Führer der Liberalen, hielt die Trauerrede. Sein Grab kann noch heute besucht werden (Alte israelitische Abteilung, Tor 1, Gruppe 6, Reihe 1, Nr. 1). Zu seinem Gedenken wurde im 15. Wiener Bezirk ein an der Diefenbachgasse gelegener Park nach ihm benannt.