Ausgabe

ROSCH HASCHANA 2019

Rabbiner Dr. Joel Berger

Inhalt

In den Prozessordnungen der Gerichtshöfe erhalten die Angeklagten vor dem Urteilsspruch das letzte Wort. Sie versuchen, ihre Sicht der Dinge nochmals zu schildern und beim Richter oder bei den Geschworenen ein milderes Urteil zu erwirken. Das Schlusswort, über das ich nun in einem anderen Zusammenhang reden möchte, sprach ein Hochschullehrer in einer Universität in Pittsburgh, in den U.S.A.  Es war „The Last Lecture“, seine letzte Vorlesung vor seinen Studentinnen und Studenten.  Es scheint, dass diese Einrichtung in dortigen akademischen Kreisen verbreitet ist, nämlich, dass die Professoren sich mit einer Summierung ihrer Lehrtätigkeit zu verabschieden pflegen.  Den besonders traurigen, tragischen Hintergrund für die „Last Lecture“ des beliebten, jungen Professors Dr. Randy Pausch bildete seine schwere, unheilbare Krankheit und das Wissen, dass er nur noch wenige Wochen oder Tage zu leben hatte. In diesem Bewusstsein hielt er seine wahrhaftig letzte Vorlesung.

Der amerikanische Rabbi, der mir diese Episode überlieferte, öffnete seine Ausführungen mit der Frage: Wenn Du eines Tages diese „Last Lecture“ vor dem Tode halten würdest, was würdest Du dem Auditorium sagen? Zugegeben, die Situation ist nicht so leicht zu bewältigen, die Frage noch schwerer zu beantworten. Die meisten von uns würden lange schweigen, bevor wir etwas Sinnvolles, Vernünftiges von uns geben könnten.

Dennoch meine ich, dass diese wahre Begebenheit den Inhalt und das Wesen des Rosch Haschana Festes, den Jom Hadin, G'ttes Gerichtstag über uns, für die Menschen von heute wohl verdeutlichen kann. Wir stellen uns vor, dass wir am Rosch Haschana über unsere Taten des vergangenen Jahres Rechenschaft vor dem Allmächtigen ablegen. Das Urteil des höchsten Richters könnte gegen uns gefällt werden. Somit wäre unser Gebet am Rosch Haschana unsere „Last Lecture“ vor Ihm, wie auch vor unseren Angehörigen und Freunden. Was könnten, was würden wir zu unserer Verteidigung vorbringen können? Sehr viel, oder auch nichts. Würden wir einsam in unserem „Kämmerlein“ eingesperrt mit diesen Fragen konfrontiert, wäre es für uns auch nicht einfacher. Aber bei uns Juden sind die Elemente der Umkehr, der Reue, die Wünsche nach einer Änderung des Lebenswandels keine privaten Angelegenheiten, die nur zur exklusiven Privatsphäre des Individuums gehören. Im Gegenteil:  Die Auffassungen, die auf Grund der Lehren unserer Meister formuliert wurden, machen zwischen den Handlungen der Einzelnen und denen der Gemeinschaft keinen Unterschied. Eine der bekanntesten Aussagen der rabbinischen Lehre betont: „Kol Jisrael arewim se bese“.  Ein jeder Jude ist auch für den anderen verantwortlich, oder sinngemäss, ein jeder Jude bürgt für den anderen. Auch daher suchen wir die Gemeinschaft der Gleichgesinnten vornehmlich an den Hohen Feiertagen.

Man verstand den klassischen Standpunkt so, dass in der Welt das Mehrheitsprinzip entscheidet, also werden wir auch als Individuen  nach der Mehrzahl unserer richtigen oder falschen Handlungen und Taten beurteilt. An einer Stelle des Talmuds (Kiduschin 40) wird sogar die Ansicht verbreitet: Wenn jemand an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit eine bedeutsame, hilfsreiche Tat vollbringt, so könnte er seine gesamte Umgebung in eine positive Richtung lenken. Wobei an der gleichen Talmudstelle leider auch das Gegenteil vorstellbar ist. Wenn jemand hemmungslos rücksichtslose Taten zu Lasten seiner Mitmenschen durchführt, so könnte er damit seinen Mikrokosmos, aber vor allem sich selber ungünstig beeinflussen und in die falsche Richtung lenken. Es klingt vielleicht anmassend, aber der Zohar, das Werk der Kabbala, geht noch weiter. Man möge die eigenen Handlungen so abwägen, als ob das Schicksal der ganzen Welt auch von unseren Taten abhängen würde. Dies ist eine zutiefst individualistische Auffassung über die Gewichtung der Taten des Einzelnen.


So weit ging Professor Pausch in seiner „Last Lecture“ nicht.  Er betonte indessen, dass uns, wie im Kartenspiel des Lebens, die Karten zugeteilt wurden; dies könnten wir nicht mehr ändern, aber für uns, für unsere Runde bestimmen, wie wir mit den Blättern spielen. Sinnlos, oder eher inhaltsreich…

In den Synagogen lauschen die Betenden während der Rosch Haschana Tage besonders andächtig und aufmerksam ihren Vorbetern und Kantoren. Die klassische Bezeichnung für den Vorbeter der Synagogen ist auf Hebräisch „Schaliach Zibbur“, d.h. er ist der „Gesandte der Gemeinschaft“, der das Flehen der Anwesenden dem Herrn übermittelt. Daher kann nur jemand diese besondere Aufgabe erfüllen, wenn auch die Gemeinde ihn, vor allem wegen seines tadellosen, frommen Lebenswandels, akzeptiert. Über die Bestimmung des Vorbeters für die Hohen Feiertage sind mehrere Anekdoten überliefert. Um seine Rolle zu erläutern, möchte ich eine chassidische Geschichte weitergeben: In einer jüdischen Gemeinde im Osten Europas wollte ein aufdringlicher, reicher Kaufmann erzwingen, dass man ihn als Vorbeter für die Hohen Feiertage ernennen sollte. Die Vorstände dieser Gemeinde fürchteten, wenn sie ihm nun eine Absage erteilten, so würden sie ihn als Förderer verlieren. Sie baten Rabbi Meir, den Rabbi von Premischlan in Galizien um seinen Rat. Der Rabbi bot an, noch vor den Festtagen mit dem Kaufmann ein ernstes Wort zu reden. Im Laufe der Unterredung sagte Rabbi Meir: Aus unserer Bibel kennen wir dreierlei Arten von Gebeten: Das von Moses aus dem Psalm 90, das von König David aus dem Psalm 17 und Psalm 102 berichtet uns über das Flehen eines armen Menschen zu G'tt. Wie du weisst, hatte Moses zwar einen Sprachfehler, aber er war dennoch der grösste Lehrmeister Israels. König David ist bis heute der grösste Meister der Gebete und Gesänge. Sogar Nichtjuden entleihen seine Psalmen. Und der arme Mensch, der das Leiden seines gebrochenen Herzens vor dem Ewigen vorträgt, wird vom Herrn niemals zurückgewiesen werden. Heute, setzte Rabbi Meir fort, kennen wir die gleichen Gebete und die sie vortragen könnten. Einen, der keine schöne Stimme hat, aber ein Zaddik ist, also ein wahrhaft frommer Mensch, der würdig ist, als „Schaliach Zibbur“ zu amtieren. Dann gibt es Menschen, die zwar keine berühmten „Zaddikim“ sind, aber sie tragen die Melodien der Gebete schön und einfühlsam vor.  Die Gemeinde hört ihnen gerne zu. Und dann kommt es vor, dass einer kein Zaddik ist, auch kein guter Sänger, aber das gebrochene Herz weint aus seinem Gebet, das von G'tt erhört wird.

Du aber, hob Rabbi Meir seine Stimme, bist weder ein Zaddik, noch ein guter Sänger; du bist auch nicht arm, daher kann dein Gebet keinem unserer Vorbilder entsprechen. Wenn Du aber dennoch „Schaliach Zibbur“ sein möchtest, bete dafür, dass Du, wie Moses, oder wie David beten kannst.  Dies scheint aber unerreichbar. Jedoch, du könntest dafür beten, dass du an den Hohen Feiertagen, als armer, mittelloser, leidender Vorbeter, das Flehen der Gemeinde vorträgst. Nein, sagte darauf der Kaufmann, dann doch nicht. Ich will lieber doch kein „Schaliach Zibbur“ sein. Ich werde andächtig unserem Kantor folgen.

Zum Anbeginn des neuen Jahres wünschen wir allen Brüdern und Schwestern, dass es uns wie ihnen vergönnt werden möge, den Gebeten Moses oder Davids zu lauschen und hoffen, dass diese erhört werden und dass alle guten Wünsche für Frieden und Segen in Erfüllung gehen.