Ausgabe

Der jüdische Friedhof in St. Petersburg

Marianne Enigl

Der Architekturhistoriker Rudolf Klein stellt in seinem ­prächtigen Band über jüdische ­Friedhöfe in zwanzig europä­ischen Metropolen die einzigartige St. Petersburger Anlage in einer faszinierenden Detailstudie vor.

Inhalt

Die russische jüdische Gemeinde in St. Petersburg war einmal die grösste der Welt. Dies resultierte daraus, dass sich ihre Ansiedlungsrayons zu grossen Teilen im historischen Polen und Litauen befanden, die seit der Regentschaft von Katharina II. zum Russischen Reich gehörten. Russland selbst, schreibt Autor Rudolf Klein in seinem beinah 500 Seiten umfassenden Band über jüdische Friedhöfe in Europa, war lange Zeit für Juden gesperrt, die gezwungen wurden, in den Ansiedlungsgebieten zu leben. Dennoch: Juden waren seit der Antike auf dem späteren russischen Gebiet präsent, vor allem im Süden und hier besonders auf der Krim. Zur Zeit des Kiewer Rus (vom späten 9. bis Mitte des 13. Jahrhunderts) existierte in der Stadt Kiew im historischen Kernland Russlands, der heutigen Ukraine, ein Viertel, das „Zhidove“, Juden, genannt wurde.

Vom späten 19. Jahrhundert bis 1924 flüchteten mehr als zwei Millionen jüdische Menschen vor Pogromen im Russischen Reich in die U.S.A. Aus Moskau wurden 1881 die meisten Juden vertrieben, und so ist St. Petersburg der Ort, in dem historisch im 19. und 20. Jahrhundert eine gewisse jüdische Kontinuität herrschte. Und: In diesem Teil der Sowjetunion kam es nicht zum Holocaust, da die Nazis ihn nicht einnehmen hatten können. Generell reichte die Akzeptanz von Juden in den russischen und später sowjetischen Gebieten nie an jene in anderen Ländern auf dem Kontinent heran, dennoch nahmen Juden zahlreich an der russischen Avantgarde teil, und manche von ihnen schafften trotz der stalinistischen Verfolgung in der Sowjetzeit die Integration in das kommunistische System. Am Beginn der 1930er-Jahre stellten Juden 1,8 Prozent der sowjetischen Bevölkerung und zwölf bis 15 Prozent aller Universitätsstudenten. In der Roten Armee kämpften an die 500.000 jüdische Soldaten gegen die Nazis, von ihnen wurden 200.000 getötet und 160.000 ausgezeichnet. Mehr als einhundert wurden Generäle.

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Auf dem jüdischen Friedhof in St. Petersburg: Grabstätte der kleinen Olsinka Krishtal.

Foto: R. Klein, mit freundlicher Genehmigung.

Der jüdische Friedhof

Der jüdische Friedhof in St. Petersburg ist 1875 gegründet worden und unterscheidet sich von allen anderen städtischen europäischen jüdischen Friedhöfen wesentlich. Ursache dafür sind die unterschiedliche Geschichte der Juden in Russland sowie in der Sowjetunion und die vielfältigen lokalen Einflüsse. Von seiner Anlage her ist der Polis-, also Stadt-Charakter der Nekropole auffallend, er wird durch Strassen und Gassen, die Namen tragen, betont. Das einzigartige Entwässerungssystem mit Wasserrinnen links und rechts der grossen Gassen erinnert an jenes in osteuropäischen Dörfern und Schtetln. Die Vegetation wiederum erinnert an einen typisch russischen Wald.

Bereits der Eingang ist singulär. Er wird von zwei gewaltigen turmartigen Bauten markiert, das Gittertor gibt den Blick frei auf den riesigen proto-modernistischen Zeremonienbau mit dem Tahara-Haus und den auffallenden Arkaden links und rechts. Seine gewaltigen Ausmasse und die eleganten Details sind eine Reminiszenz an die zentraleuropäische Architektur der Zeit. Entworfen wurden die Bauten vom jüdischen Architekten Yakov Gevirt (1879 Odessa – 1942 Leningrad). Die preisgekrönte Architektur stammt aus 1908, ausgeführt wurde sie bis 1913. Der Friedhof umspannt einen Belegungszeitraum von rund 140 Jahren. Sein stilistisches Spektrum reicht weit. Es rangiert von der Neogotik – obwohl es in der russischen Architektur keine gotische Periode gab – bis zu explizitem Postmodernismus, letzterer ist für jüdische Friedhöfe europäischer Metropolen einzigartig.

Christlich-orthodoxer Einfluss ist unübersehbar. Es gibt nirgendwo sonst einen jüdischen Friedhof mit so vielen Fotografien der Verstorbenen, manche Grabmäler erinnerten den weitgereisten Architekturhistoriker Klein an Foto-Stammbäume. Er fand auf manchen jüdischen Friedhöfen am Balkan auf Grabstelen Fotos, aber nie so viele wie hier. Für die Verwendung von Bildnissen ist ein Grabstein aus der spät-stalinistischen Periode charakteristisch, er wurde zur „Foto-Galerie“ der verstorbenen Familie eines hochdekorierten Sowjethelden. Die letzte Beerdigung in diesem Grabmal fand im Jahr 2004 statt. Zahlreiche Mausoleen sind in orientalischem Stil gehalten. Der charakteristische Sowjetstil, Sozialistischer Realismus oder manchmal „Stalinistisches Barock“ genannt, ist nicht signifikant vertreten. Wahrscheinlich wurde er als zu formal oder als zu sehr mit dem Staat verwandt angesehen. Die Atmosphäre des Stalinismus atmen jedoch die zahlreichen Bildnisse der Toten: viele sind mit militärischen und hochrangigen Auszeichnungen abgebildet.

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Prominente Grabmäler

Für Künstler, Wissenschaftler und andere öffentliche Persönlichkeiten wurden grosse modernistische Grabmäler von oft hoher Qualität errichtet. Ein Beispiel ist das imposante Grab von Professor Kuslik Mikhail Isakovich aus dem Jahr 1965. Es besteht aus weissem Marmor, auf einem Marmorkubus ruht eine überdimensionierte Handskulptur, auf der ausladenden Grabeinfassung steht eine Marmorbank. Die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wird an einigen sehr grossen post-modernistischen Monumenten nahe beim Eingang sichtbar. Dieses Areal ist eine informelle Version der Ehrenabteilungen auf anderen jüdischen Friedhöfen in Europa, wie sie im späten 19. und 20. Jahrhundert eingerichtet worden sind. Unzählige berühmte Persönlichkeiten sind da bestattet. Ärzte, Künstler, Revolutionäre wie Vera Klimentev­na Slutzkaya oder der Philantroph und Publizist Baron David Günzburg. Auffallend das Grabmal eines Millionärs, der namentlich nicht genannt werden wollte, da er sich als berühmt, jedem bekannt und damit unvergesslich ansah: in der jüdischen Tradition ist es nicht erlaubt, einen anonymen Grabstein zu haben. Art Nouveau-Grabsteine sind hier in der Form runder russischer Öfen gestaltet. Völlig unüblich für einen jüdischen Friedhof ist das Grab der kleinen Olsinka Krishtal: Wie ein Engel steht auf einem Sockel hier die steinerne Figur eines betenden Kindes, darunter ist ein Foto des verstorbenen Mädchens angebracht.

Insgesamt, so Autor Rudolf Klein, vermittle der Friedhof Integrität und Authentizität. Er ist gut gepflegt und hat – im Moment noch – eine ansprechende Pufferzone gegenüber der Stadt. Obwohl die Front zwischen der Deutschen Wehrmacht und den russischen Verteidigern nahe war – auf dem christlichen Friedhof befanden sich einige Bunker – blieb der jüdische Friedhof von Sankt Petersburg vom Zweiten Weltkrieg unbeschädigt. Auch das macht ihn einzigartig in Zentral- und Osteuropa. An das Ende des Bandes stellt Rudolf Klein seinen Wunsch: „Jüdische Friedhöfe sollten Geschichtsbücher in situ [am Ort, Anm.] bleiben, als unveränderte, greifbare Evidenz eines einst blühenden jüdischen Lebens.“ Klein beschreibt sie als Zeugen einer aufstrebenden und optimistischen Minderheit die von `säkularem Messianismus´ erfüllt war – und ebenso als Zeugen von liberalen Gesellschaften, die ermöglichten und manchmal sogar ermutigten, dass Juden integriert wurden.

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Rudolf Klein:
Metropolitan Jewish Cemeteries of the 19th and 20th Centuries in Central and Eastern Europe; ICOMOS. Hefte des deutschen Nationalkomitees LXVI, Michael Imhof Verlag 2018.