Ausgabe

Fackel im Ohr des Jahrhunderts zum 25. Todestag von Elias Canetti

Tina Walzer

Im bulgarischen Rustschuk geboren, vor den Nazis nach London geflohen, in Zürich verstorben, verbrachte Elias Canetti die prägenden Jahre seiner Jugend und der ersten literarischen Erfolge in Wien.

Inhalt

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Elias Canetti

Rechte: Dutch National Archives,
The Hague, Fotocollectie Algemeen
Nederlands Persbureau
(ANEFO), 1945-1989. Quelle: Wikimedia commons.

 

Elias Canetti kam am 25. Juli 1905 in der bulgarischen Donaustadt Rustschuk (heute Ruse) als Kind der sefardischen Familien Canetti-Arditti zur Welt. Aufgewachsen im Kreis des Clans, empfand er das traditionelle Judenspanisch der Grosseltern als ebenso altmodisch wie seine Eltern sich durch überkommene Vorstellungen in der Provinzgemeinde eingeengt:

„Alles, was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen. Die übrige Welt hiess dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte. Von den Spaniolen waren die meisten noch türkische Staatsbürger. […] Im Laufe der Jahrhunderte seit ihrer Vertreibung hatte sich das Spanisch, das sie untereinander sprachen, sehr wenig verändert. Einige türkische Worte waren in die Sprache aufgenommen worden, aber sie waren als türkische erkennbar, und man hatte für sie fast immer auch spanische Wörter. Die ersten Kinderlieder, die ich hörte, waren Spanisch, ich hörte alte spanische ‚Romances‘, was aber am kräftigsten war und für ein Kind unwiderstehlich, war eine spanische Gesinnung. Mit naiver Überheblichkeit sah man auf andere Juden herab, ein Wort, das immer mit Verachtung geladen war, lautete ‚Todesco‘, es bedeutete einen deutschen oder aschkenasischen Juden. Es wäre undenkbar gewesen, eine ‚Todesca‘ zu heiraten […].“1

„Über den Einfluss Österreichs auf uns schon in dieser frühen Rustschuker Zeit wäre viel zu sagen. Nicht nur waren beide Eltern in Wien in die Schule gegangen, nicht nur sprachen sie untereinander deutsch: der Vater las täglich die „Neue Freie Presse“. […] Ich wusste, dass die Zeitung aus Wien kam, das war weit weg, vier Tage fuhr man hin auf der Donau. Man sprach oft von Verwandten, die nach Wien fuhren, um berühmte Ärzte zu konsultieren. […] Ich stellte mir vor, dass sie in einer eigenen Sprache redeten, die niemand verstand und die man erraten musste. Ich kam nicht auf den Gedanken, dass es dieselbe Sprache war, die ich von den Eltern hörte und heimlich, ohne sie zu verstehen, für mich übte.“2

In seinen autobiografischen Schriften identifiziert sich Canetti nicht mit den sefardischen Traditionen seiner Herkunftsregion, die vom mittelalterlichen Spanien über den Balkan bis hinüber ins türkische Edirne reichte, sondern ganz klar mit den modernen, westlich orientierten Werthaltungen der aschkenasischen Aufklärung, wie sie seine Eltern vertraten. Die beiden blieben damit in Rustschuk unverstanden, ihr Abweichen wurde vom Clan nicht toleriert. Als der Erstgeborene sechs Jahre alt war, wanderten Vater und Mutter mit ihren Söhnen Elias, Nissim Jacques und Georges 1911 nach England aus und liessen sich in Manchester, wo bereits Verwandte der Mutter lebten, nieder. Das Glück der dort empfundenen Freiheit hielt nicht lange an, der Vater verstarb bereits 1913 und hinterliess eine schwer traumatisierte Kleinfamilie. Die alleinerziehende Mutter wurde zum alles beherrschenden Mittelpunkt, um den Elias‘ Leben kreiste, nun in Wien, wo die vier bei den Wiener Ardittis, Verwandten der Mutter, untergekommen waren. Eine Rückkehr in den Schoss der Familie nach Rustschuk schien nach den seinerzeitigen Zerwürfnissen um den Canetti-Grossvater, der den Vater beim Abschied nach England verflucht hatte, ausgeschlossen.

In Wien allerdings herrschten umgekehrte Verhältnisse, die aschkenasischen Familien dominierten das jüdische Leben der Stadt, und die traditionsreiche Türkisch-Israelitische Gemeinde befand sich bereits in Auflösung. Wiewohl Canetti intensiv Anschluss ans Wiener Kulturleben suchte und eine Zeitlang heftig um Alma und Gustav Mahlers Tochter Anna warb, heiratete er schliesslich 1934 doch Veneziana Veza Taubner-Calderon (21.11.1897 Wien – 01.06.1963 London, Schriftstellerin), deren sefardische Mutter aus Belgrad stammte und der aschkenasische Vater aus dem damals ungarischen Kroatien, und überwand damit auf seine Weise die strengen Regeln seiner Herkunft.

Die Jahre der genossenen Ausbildung in Frankfurter und Zürcher Privatschulen sind vor den überwältigenden Wiener Eindrücken kaum auszumachen im späteren literarischen Werk. Bis zum vorzeitigen Tod der kränklichen Matriarchin im Jahr 1937 wurde Canettis Leben und Denken von der engen Bindung an sie, die in Wien mit drei kleinen Kindern in misslichsten Lebensumständen Aufnahme gefunden hatte, bestimmt. Seine in Wien gemachten Erfahrungen, nicht zuletzt auch jene des Nichtdazugehörens, des Massenphänomens Antisemitismus und der Verfolgung, spielen schliesslich auch die zentrale Rolle im Werk des Schriftstellers, der 1981 den Nobelpreis für Literatur dafür erhielt. Am 14. August 1994 verstarb Elias Canetti in Zürich.

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Grabmal von Elias Canettis Grossvater mütterlicherseits, Nissim Josef Arditti,
in Wien, alte jüdische Abteilung Zentralfriedhof, Tor 1.

Foto: T. Walzer 2017, mit freundlicher Genehmigung.

Nachlese:

Elias Canetti, Die Blendung.
Roman.
(Reichner: Wien 1935)

Ders., Masse und Mache.
(Claassen: Düsseldorf 1960)

Ders., Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1941 – 1972.
(Hanser: München-Wien 1972)

Ders., Das Gewissen der Worte.
Essays.
(Hanser: München-Wien 1975)

Ders., Die gerettete Zunge.
Geschichte einer Jugend.
(Hanser: München-Wien 1977)

Ders., Die Fackel im Ohr.
Lebensgeschichte 1921 - 1931.
(Hanser: München-Wien 1980)

Ders., Das Augenspiel.
Lebensgeschichte 1931 - 1937.
(Hanser: München-Wien 1985)

Veza Canetti, Die gelbe Strasse.
Roman.
(Hanser: München-Wien 1990)

Veza Canetti, Die Schildkröten.
Roman.
(Hanser: München-Wien 1999)

 

1In: Elias Canetti, Die gerettete Zunge.
Geschichte einer Jugend.
Hanser: München-Wien 1977, S. 11f.

2 Ebd., S. 42.