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Komm, wir rennen schnell

Kerstin KELLERMANN

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Erst durch das „Krieg gegen die Armut"-Programm des US-Präsidenten Johnson entschloss sich Bill Price, aus echten Kriegs-Programmen auszusteigen. Mit acht Jahren floh er mit einem Ladeschiff vor den Nazis nach Panama. „Das Leben war damals mager", sagt er heute, „fünf Jahre lang hätten wir ständig ausgewiesen werden können."

„Wir waren sechs Wochen auf Ellis Island, das jetzt ein Immigrations-Museum ist, bevor die Behörden entschieden, dass wir provisorisch in Amerika bleiben dürfen. Die Insel liegt direkt vor New York, in der Nähe der Freiheitsstatue, mit Aussicht auf die Stadt und eingepflanzt in den Wasserwegen, die in die Stadt führen." Bill Price, in Berlin geboren, lebt inzwischen in Österreich, wohin er eigentlich wegen der Nazi-Vergangenheit nie wollte. Als Kind musste er vor den Nazis flüchten, seine Familie erwischte 1938 in Bremerhaven eines der letzten Schiffe, das noch den Hafen verlassen konnte - einen Bananen-Frachter, der nach Costa Rica fuhr. „Ich weiss nicht, wie viele Juden noch hinter uns waren. Jetzt kann man auf Ellis Island die Namen derer anschauen, die gekommen sind", erzählt Price, „es sind seit 1940 über 4,5 Millionen Menschen insgesamt." 

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Bill Price. Foto: Florian Fusco. Mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.

Das Leben von Bill Price und alle seine Werte sind davon geprägt, dass er schon als Kind arbeiten musste und diese Tüchtigkeits-Massstäbe internalisiert hat. Damals gab es in den USA keine Art von sozialer Unterstützung für Flüchtlinge, und nur wenige ehrenamtliche  Hilfsorganisationen. „Ich konnte meine Grossmutter nicht mit dem Handy anrufen, ob sie im Konzentrationslager oder in Sicherheit ist", trauert er vermeintlichen Priviliegien von heutigen Flüchtlingen nach. Beide seine Grossmütter wurden im KZ ermordet. Schon als Kind musste er sofort Arbeit finden, denn sein Vater war der schweren Schlepperei in einem Lager nicht gewachsen, und der kleine Bill arbeitete 1942 mit zwölf Jahren als eine Art Knecht auf einem Bauernhof in Vermont. „Ich musste alle schmutzige Arbeit machen, die die Bauern nicht selbst machen wollten."

Seine Mutter Margarete Loser, die Tochter eines berühmten „Egg-Händlers", der auf dem Land Eier besorgte und in der Stadt verkaufte, und sein Vater Simon Preiss, der Besitzer eines „Mens Clothing Store" war, hatten schleunigst aus Berlin verschwinden müssen. In der sogenannten Kristallnacht wurde ihr Herren-Modengeschäft total verwüstet. „Ich sah, was eine Kristallnacht bedeutet", sagt er. Überall Glas! „Wir versuchten, die Kleidung zu retten, die noch da war, alles war voller Scherben." In der Schule hatte er schon gemerkt, „that the Jews were in danger". „Ein Achtjähriger weiss, wenn er in Gefahr ist oder nicht. Es herrschte eine feindliche Atmosphäre vor. Die Synagoge brannte, andere Juden wurden getötet. „You feel scared", sagt er.  

Görings jüdischer Taxler 

In Bremerhaven schifften sie sich auf der Ulm ein, einem Transportschiff für Früchte, das zwischen Costa Rica und Deutschland hin und her fuhr. „Unten im Loch des Laderaums hielten wir uns mit Decken warm, nur unsere Familie fuhr mit. Mit Schwarzgeld, Schleppergeld würde man das heute nennen, bezahlten wir. Fünfzehn bis zwanzig Matrosen arbeiteten auf dem Schiff. Es gab keine Kajüten, nur die Ladefläche." Viele Verwandte von Price starben in Konzentrationslagern wie Bergen-Belsen oder Theresienstadt, wie eben leider auch seine beiden Grossmütter. „Es gab keine Möglichkeit, jemanden mitzunehmen. Die waren älter, das war keine leichte Sache. Man konnte nicht sagen, Komm, wir rennen schnell." Bill Price blättert in dem dicken, alten Fotobuch, das die Familie durch alle Wirrnisse hindurch retten konnte. Lauter kleine schwarz-weisse Bildchen kleben darin. Immer wieder schaut er durch die Fenster des Wiener Café Westend auf den gegenüberliegenden Westbahnhof und rätselt über die heutigen Flüchtlinge und deren Leben. „Die Gesetze, die die Migration kontrollieren, haben die Amerikaner 1933/34 für uns jüdische Flüchtlinge eingeführt", sagt Bill Price. „Aber 1940 wurden nur wenige Juden aufgenommen. Vorher konnte man frei einreisen. Dann gab es eine Quote für Chinesen, Deutsche, Juden - für alle. Die Quote war oft schon voll, zum Beispiel 30.000 Juden, und der Nächste konnte nicht mehr rein. Hunderttausende Juden wollten damals aus Europa heraus. Die Quote war niedrig." Ein anderer Onkel überlebte ganz alleine in Berlin. „Onkel Otto war ein Taxler und hatte einen Zettel von Göring. Den hat er durch den ganzen Krieg gebraucht. Ein Jude, mit einem Zettel von Göring", lacht Price. „Auf dem Zettel muss gestanden sein, lasst diesen Mann in Ruhe. Hier siehst Du Göring!" Ein weiteres kleines Bildchen im Fotobuch. Onkel Willi hingegen, der in seinen Flitterwochen im Gasthaus das riesige Führerbild über dem Bett abgenommen und auf die Rückseite einen Davidstern gemalt hatte, konnte sich ebenfalls in die USA retten.

Der Krieg verfolgt Price 

Das alte Flüchtlingskind wusste bisher nicht, dass die Flüchlinge in Österreich nicht arbeiten dürfen und oft Jahre zum Nichtstun gezwungen sind, bis sie Asyl erhalten. Er hingegen wurde zum Arbeiten gezwungen: „Schon auf dem Schiff musste ich täglich den Motorraum putzen, das Öl wegwischen, kontrollieren, dass sich die Fracht nicht bewegt. Das Schiff brachte uns nach Panama. Mein Vater hatte einen Job am Panama-Kanal, aber wir konnten dort ohne Visa nicht bleiben. 18 Monate lebten wir in Unsicherheit." Sein Vater starb schon im Jahre 1949 im Alter von nur 57 Jahren an Krebs, erzählt der 85-Jährige traurig. In Berlin war der Geschäftsmann erfolgreich gewesen und gut situiert, in den USA gab es nach dem Krieg keine Arbeitsstelle für einen Fünfzigjährigen. „Wir wollten wie Amerikaner sein [er haut auf den Tisch]. Viel arbeiten und reich werden. Wir hatten die Ahnung, reich werden zu können, man musste nur ein bisschen tüchtig sein. 1943 besass ich schon mein eigenes Bankkonto mit einem Sparguthaben von 100 Dollar. Amerika war ein guter Platz und wir haben uns doch gerettet. Wir lebten, wo das Leben gut war." Ab 1943 hatte die Familie eine eigene Mietwohnung in Queens, New York. „Man war als Junge einfach erstaunt, es war eine Zeit wie ein Abenteuer", lächelt er. „Wir wollten Amerikaner sein. An der Wand hängte eine Zeichnung der US-Flagge meines Bruders. Wir lebten, und andere von dieser Zeit lebten nicht mehr." Obwohl er durch seine kurzen Hosen als Fremder erkennbar war. „Typisch deutsch eben. Wenn jemand meine kurzen Hosen sah, lächelte er zynisch. Mit dem ist was los, mit dem Jungen, dachten die sich." Price verkaufte Eiscrème in einem alten Kinderwagen. „Es war selbstverständlich für uns, wir müssen hinausgehen und irgendetwas zu tun finden", sagt er. Er  trug Pakete für einen Dollar pro Tag, und mit 18 Jahren musste er zur Armee. „Sie schickten mich nach Korea", sagt er und schweigt plötzlich. Der Krieg liess ihn sein Leben lang nicht los, denn nachdem er Korea überlebt hatte, arbeitete er im Atomwaffen-Programm im Nuklearbau, was er mit „weil die Atombombe doch den Faschismus der Japaner gestoppt hatte" begründet. Als frisch gebackener Ingenieur arbeitete er in Los Alamos in der Wüste. Robert Jungk, der gegen Atomwaffen auftrat, sagt ihm nichts. Auch die jüdischen Spione, die im Atomwaffenprogramm arbeiteten, um für die Kommunisten zu spionieren, kennt er nicht. Erst als Präsident Johnson den „Krieg gegen die Armut" ausrief, bot Price ihm seine Dienste an und verliess die militärische Kriegs-Produktion. [Einige Wochen später im Musikgymnasium als Zeitzeuge eingeladen, möchte er zuerst auch lieber so wenig wie möglich zum Atomwaffen-Thema sagen, doch als er die asiatischen Kinder näher ins Auge fasst, meint Price, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wären das Schlimmste am Zweiten Weltkrieg gewesen.]

„Pale Face" bei den Ureinwohnern 

„Der Krieg ist nie weggegangen", resümiert Price, „der Krieg blieb ständig in meinem Lebenslauf." Erst durch Präsident Lyndon B. Johnson sagte er sich, „ich brauche nichts mehr mit Waffen zu tun zu haben! Dann bin ich einfach aus dem nuklearen Krieg ausgestiegen und fand meinen Platz bei den sehr armen Ureinwohner-Stämmen. Die brauchten Hilfe und da war ich" [er zeigt mit der Hand auf]. Unter dem War against Poverty-Programm1 erhielten die „Indianer" das Recht, ihre Reservate zu entwickeln. Zehn Jahre machte Bill Price Projekte mit Hilfe der Subventionen der Regierung, bei insgesamt 25 verschiedenen UreinwohnerInnen-Stämmen, wie den Whiteriver Apaches, die ihm den Spitznamen Pale Face gaben.  

Lange Zeit seines Lebens weigerte er sich, Deutschland zu besuchen, denn „Was haben sie meiner Familie angetan? Warum sollte ich in Österreich oder Deutschland sein?". Aber nach drei Tagen Berlin-Aufenthalt auf Einladung des Bürgermeisters dachte er sich, „vielleicht muss ich meine Einstellung wechseln, denn sonst kann ich hier nicht meine Arbeit machen". Zur Unterstützung der Atomwaffen-Kontrolle lebte er dann schliesslich doch in Wien und arbeitete für die International Atomic Energy Agency (IAEA), die durch Präsident Eisenhowers Initiative Atoms for Peace entstanden war. Neugierig betrachtet der 85-Jährige den Kellner, einen afghanischen Flüchtling, und die Kartenspieler im Café Weidinger: „Der Krieg ist hinter mir her. Ein Schaden ist ein Schaden, und hier gibt es neue Möglichkeiten." Ein ziemlicher Amerikaner ist er schon geworden. 

  

War on Poverty war die inoffizielle Bezeichnung für jene Gesetzgebung, die zum ersten Mal vom US-Präsidenten Lyndon B. Johnson bei seiner Rede zur Lage der Nation am 8. Januar 1964 vorgestellt wurde.