404: Not Found Jüdisches Leben in Vorarlberg David - Jüdische Kulturzeitschrift

Ausgabe

Jüdisches Leben in Vorarlberg

Anika REICHWALD

400 Jahre Hohenemser Schutzbrief (1617 – 2017)

 

Inhalt

Am 1. Juli 1617 trat der vom Grafen Kaspar von Hohenems ausgestellte „Erste Hohenemser Schutzbrief“ in Kraft. Diese Urkunde ermöglichte zwölf Juden und deren Familien, sich hier niederzulassen und eine Gemeinde zu gründen. Im Jahr 2017 feiert das Jüdische Museum in Hohenems den vierhundertsten Jahrestag der Unterzeichnung dieses Schutzbriefes – und damit den Beginn der jüdischen Ansiedlung in Vorarlberg. Die kleine Ausstellung „Alte Freiheiten von Ems“ im Foyer des Museums reflektiert den Weg zu den politischen Entscheidungen, einen „Schutzbrief“ zu gewähren, sowie die sich bis zur Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert fortsetzenden ständigen Auseinandersetzungen um Rechte und Pflichten der jüdischen Minderheit in Hohenems.

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„Hohenemser Schutzbrief“ vom 3. April 1617: „Conditiones und Bedingtnussen, wie und was Gestallt die Juden inn dem Gräflichen Marckht Embs, da sie sich Haussheblich darinnen niederlassen würden, gehallten werden sollen.“ Das Original der Urkunde befindet sich im Jüdischen Museum Hohenems.

 

Die Geschichte des Schutzbriefes begann bereits Anfang April 1617 mit einem Brief des Schutzjuden Wolf von Langenargen an Graf Kaspar von Hohenems. Wolf von Langenargen war zu Ohren gekommen, dass der Graf beabsichtige, Juden in seinem Herrschaftsgebiet anzusiedeln. Er bot sich an, den Grafen in dieser Angelegenheit zu beraten und ansiedlungswillige jüdische Familien zu vermitteln. Der Reichsgraf wiederum hatte ein grosses Interesse daran, die wirtschaftliche Stellung des Marktes Hohenems zu stärken, zumal er darum bemüht war, ein geschlossenes Territorium zu erwerben und in den Fürstenstand aufzusteigen. Die Ansiedlung einer eigenen jüdischen Gemeinde sollte zugleich gegenüber dem Haus Habsburg seine rechtliche Unabhängigkeit demonstrieren und den Anspruch auf politische Souveränität untermauern. Bereits am selben Tag, dem 3. April 1617, an dem das erste Schreiben aus der Feder Wolfs von Langenargen beim Grafen respektive seinem Kanzler Schaleck einging, verfasste dieser eine erste Vorlage für einen möglichen Schutzbrief.

 

Das Inkrafttreten des ersten Schutzbriefes im Jahr 1617 war so keineswegs Ausdruck einer milden Toleranzpolitik Graf Kaspars oder der Vorstellung von gesellschaftlicher Gleichheit verschiedener religiöser Gruppen in der Frühen Neuzeit. Vielmehr war er das Ergebnis einer diffizilen Aushandlung verschiedener Interessen zwischen Wolf von Langenargen und Graf Kaspar bzw. dessen Kanzler Dr. Christoph Schaleck. Ein intensiver Briefwechsel, abgeänderte Entwürfe sowie die eingeholten Ratschläge von aussen zeugen von Verhandlungen, in denen sich die jüdische Seite durchaus selbstbewusst zeigte. Einige der auf einer ersten Liste von Ansiedlungswilligen genannten Juden waren bereit, eine Eintrittsgeld zu zahlen – ohne sofort von der Ansiedlungsmöglichkeit Gebrauch machen zu wollen. Anscheinend wollte man sich auch in den Verhandlungen mit der jeweiligen eigenen Herrschaft an anderen Orten zunächst einen Vorteil sichern. 

 

Der Graf wiederum hatte sich verschiedentlich über die Ansiedlungspolitik religiöser Minderheiten informiert, bevor er einem Schutzbrief zustimmte. Unter anderem wandte er sich im Juni 1617 an seinen Bruder Markus Sittikus von Hohenems, Fürsterzbischof von Salzburg. Sittikus bestärkte Kaspar in der Absicht, Juden in seinem Herrschaftsgebiet längerfristig anzusiedeln. Auch der Vorschlag des Grafen, die Juden vorläufig nicht bauen zu lassen und ihnen stattdessen Häuser zu einem gewissen Entgelt zur Verfügung zu stellen, stiess beim Fürsterzbischof auf Zustimmung. Er legte aber nahe, ihnen ein begrenztes Gebiet zuzuweisen. Ein Vorschlag auf den Graf Kaspar allerdings nicht einging.

Der Versuch Wolfs hingegen, kurz vor Unterzeichnung des fertiggestellten Schutzbriefes dessen Geltung auch auf kommende Generationen auszudehnen und damit Rechtssicherheit für die zukünftige kleine jüdische Gemeinschaft zu schaffen, wurde jedoch von Graf Kaspars Kanzler Schaleck abgelehnt. Am 1. Juli 1617 wurde dementsprechend ein nicht übertragbarer und zeitlich begrenzter Schutzbrief unterzeichnet, basierend auf der ersten Vorlage vom 3. April mit aufgelisteten Rechten und Pflichten für die namentlich genannten Juden, die sich in den Folgemonaten und -jahren Hohenems ansiedeln sollten. 

 

In den darauffolgenden zweihundert Jahren erfuhr der Schutzbrief für die Hohenemser Juden nicht nur unzählige Erweiterungen und Umschreibungen, er wurde auch von Kaspars Urenkel, Franz Karl, ausser Kraft gesetzt und die Juden aus Hohenems vertrieben – nur um ihnen 1688 aus finanziellen Nöten die Ansiedlung erneut zu gewähren. Der Blick in die verschiedenen abgeänderten und erweiterten Versionen des Hohenemser Schutzbriefes verdeutlicht, wie sehr die Juden politischen Ereignissen und der Willkür der jeweiligen Herrscher ausgesetzt waren. Der Schutzbrief war folglich der Versuch, eine gesellschaftliche Randgruppe zu integrieren – je nach Nutzen der Mehrheitsgesellschaft.

 

Die verschiedenen, zum Teil bis heute erhaltenen und zeitweilig im Jüdischen Museum Hohenems erstmals nebeneinander ausgestellten Schutzbriefe bezeugen die sich ändernden Intentionen der Landesfürsten, ebenso wie politische, soziale und kulturelle Umwälzungen von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Diese Wandlungen spiegeln auch das Bild der Juden in der jeweiligen zeitgenössischen Gesellschaft wider. Deutlich wird das vor allem am sich immer wieder erhöhenden Schutzgeld, das die Hohenemser Juden abgeben mussten, den sich neuformierenden Regularien für ihre Viehhaltung, die Ausübung religiöser Praktiken sowie Handelsbedingungen, die in aller Ausführlichkeit in den insgesamt neun Schutzbriefen festgehalten wurden. Vor allem die von Beginn an festgelegte Laufzeit des Schutzbriefes stellte eine unüberwindbare Schwierigkeit für die weiter wachsende jüdische Gemeinde dar: Nach dem Ende der Hohenemser Herrschaftslinie mit dem Tod des Grafen Franz Wilhelm III. 1759 ging Hohenems als „erledigtes Reichslehen“ an das Haus Habsburg über. Dieser Regierungswechsel war mit erheblichen Existenzängsten der jüdischen Gemeinde verbunden, deren Schutzbrief bereits 1757 auslief und nicht erneuert wurde. Nach etlichen Entwürfen, unter anderem vom Bregenzer Oberamt sowie der vorderösterreichischen Regierung in Freiburg, unterzeichnete Kaiserin Maria Theresia am 15. März 1769 einen neuen Schutzbrief. Im Vergleich zu den vorhergehenden war dieser Schutzbrief deutlich umfangreicher und umfasste ein minutiöses Regelwerk. Doch es sollte der letzte sein. Unter ihrem Nachfolger Joseph II. begann mit dem „Toleranzpatent“ ein neues Kapitel auf dem langen Weg zur Emanzipation.

Im Juli 2017 trafen sich in besonders grosser Zahl, nun bereits zum dritten Mal und dieses Mal auch anlässlich der Vierhundertjahrfeier des Hohenemser Schutzbriefes, Nachkommen Hohenemser Juden zu einer Reunion an dem Ort, der für viele von ihnen neu an Bedeutung gewonnen hat: als Ort ihrer Wurzeln, ihrer jüdischen Identität und als Erinnerung an eine Geschichte, die sie kontinuierlich weiterschreiben. Die Geschichte des Hohenemser Schutzbriefes, seiner Entstehung und seiner Folgen für die jüdische Minderheit und der herrschenden Mehrheitsgesellschaft steht symbolisch für die Widrigkeiten, die die jüdische Gemeinde über dreieinhalb Jahrhunderte hinweg bis zu ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten überwunden hat. Die über 3000 lebenden Nachkommen hingegen stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der jüdischen Geschichte von Hohenems.

 

Die Autorin:

Dr. Anika Reichwald absolvierte ihr Studium am Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich und promovierte dort 2016 mit einer Dissertation über Das Phantasma der Assimilation. Interpretationen des „Jüdischen“ in der deutschen Phantastik 1890-1930. Frau Dr. Reichwald ist Leiterin des Arbeitsbereichs Archiv und Sammlungen des Jüdischen Museums Hohenems.