Ausgabe

Der Holocaust im Leben von drei Generationen

Rafaela STANKEVICH

Inhalt

Wenn ich meine emotionale Beziehung zum Thema Holocaust beschreiben wollte, käme ich in Schwierigkeiten. Es ist sehr schwierig für mich, mit dem Gefühl fertig zu werden, dass so viele Mitglieder meiner Familie auf industrielle Weise in den Tod getrieben worden sind. Ich möchte meinen Artikel mit einigen grundsätzlichen Gedanken bezüglich des Umgangs Österreichs mit den dunklen Seiten seiner Geschichte beginnen. In Österreich waren Erinnerungen und Reflexionen über die Vergangenheit des Landes Jahrzehnte lang tabu. Auch kam die Entschuldigung von offizieller Seite erst sehr spät – als erster österreichischer Regierungschef reiste Franz Vranitzky 1993 nach Israel und brach dort mit der Opferthese Österreichs. 

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Meine Grossmutter Karolina Lichtblau.

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 Meine Familie mütterlicherseits im Jahr 1905.

 

Wien war bis 1938 die Heimat von ca. 200.000 Juden und in der Stadt existierte eine blühende jüdische Gemeinde. Viele Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle und Ärzte jüdischer Herkunft haben die Entwicklung Wiens zur mitteleuropäischen Metropole entscheidend geprägt. Kunst, Literatur und Musik kommen einem in den Sinn, wenn man an die kulturellen Leistungen Österreichs denkt. Österreichische Jüdinnen und Juden spielten eine wichtige Rolle, sowohl als schaffende Künstler, als auch als Mäzene. Der Kritiker Friedrich Torberg erklärte, dass „Wenn man sagen kann, dass in der Zeit zwischen den Weltkriegen drei Viertel der prominentesten Schriftsteller der deutschen Literatur Österreicher waren, ist es auch wahr, dass zwischen den österreichischen Schriftstellern ein ähnlicher Anteil Juden waren“. Eine Welt, die nicht mehr existiert. Der Naziterror führte zu einem jähen Ende dieser blühenden Ära. Heute leben in Wien maximal 15.000 Juden. Zweidrittel der Wiener Jüdinnen und Juden wurden vertrieben, mehr als 65.000 im KZ umgebracht.

Während meiner Forschungsarbeiten habe ich mit vielen Holocaustüberlebenden gesprochen und sie haben ihre Erinnerungen und Gefühle mit mir geteilt. Die meisten sprachen über Verfolgung, Diskriminierung, verlorene Familien, Freunde und Heimat. Tatsache ist, dass Jahrzehnte lang viele in Österreich, wie auch in anderen Ländern, nicht an ihre Nazi-Vergangenheit erinnert werden wollten. Für einige ist es immer noch ein unbequemes Thema. Es gibt eine Menge Gründe, warum eher das Vergessen auftrat, als sich zu erinnern. Bis in die neunziger Jahre glaubte man an die Opferthese, dass Österreich das erste Opfer Nazi-Deutschlands gewesen sei. Die Geschichtsforschung zeigte, dass diese These falsch war. Grosse Teile der österreichischen Bevölkerung hatten die deutschen Truppen herzlich begrüsst. Schon vor dem Anschluss gehörte eine grosse Zahl der Österreicher der NS-Partei an und setzte sich für die Vereinigung mit Deutschland ein. Ein hoher Anteil hochrangiger nationalsozialistischer Offiziere waren Österreicher und eine grosse Anzahl von Österreichern profitierte von der sogenannten Arisierung des jüdischen Vermögens und Eigentums.

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Meine Familie mütterlicherseits im Jahr 1935.

 

Ich möchte von einem Mann namens Isidor Lichtblau, geboren am 14. April 1876, erzählen. Isidor heiratete Karolina (geborene Preis) und er war zur Zeit des Anschlusses 62 Jahre alt. Im September 1939 erhielt seine Frau die Genehmigung, zusammen mit 1.200 Emigranten aus Wien nach Palästina zu reisen. Im April 1941 wurde sie wieder von den Nazis in Jugoslawien gefangen genommen. Im Dezember 1939 – in der letzten Minute – flüchteten die zwei Kinder Isidors. Der 15-jährige Sohn und Tochter Rosa, die damals 12 war, bekamen ein Zertifikat für einen Kindertransport nach Palästina. Isidor wurde am 15. Oktober 1941 nach Litzmannstadt deportiert. Am 25. November 1941 wurde er ermordet. Er war 65 Jahre alt. Isidor war mein Grossvater. Ein Grossvater, den ich nie kennenlernen konnte. Von ihm gibt es nur noch seine Geschichte. Ich fühle, dass mein Grossvater einen bleibenden Einfluss auf mein Leben hat, weil unsere Familiengeschichte meine Forschungsinteressen stark beeinflusst hat. Wie viele Kinder der zweiten Generation wuchs ich in einer Familie auf, wo das Schweigen dominierte. Ich weiss, dass einige dieser Erinnerungen für immer fehlen werden. Als ich anfing, diesen Artikel zu schreiben, fragte ich meine Mutter Rosa: „Was soll ich den Leuten 78 Jahre nach dem Holocaust erzählen?“ Sie wollte, dass ich erzähle, dass sie im Alter von 12 Jahren mit dem Verlust eines Vaters, einer Familie und eines Heimes fertig werden musste, sowie mit der Flucht nach Palästina. So jung schon allein zu sein, und sich um sich selbst kümmern zu müssen, war sehr schwer für sie. „Ich war sehr ängstlich. In jedem, den ich gesehen habe oder den ich gekannt habe, habe ich einen Nazi gesehen, und ich habe überhaupt Angst gehabt. Ich war ängstlich und bin heute noch ängstlich. Was wir dort mitgemacht haben, hat auf mich verschiedene Eindrücke hinterlassen.” Sie hatte ihren Vater verloren, und es muss furchtbar sein, zu wissen oder sich vorzustellen, wie er ums Leben gekommen ist. Sie hat nie darüber gesprochen, und ich habe sie nie direkt gefragt. War das ein Familientabu? Ja. Lange Zeit dachte ich, der Grossvater wäre in Auschwitz umgekommen. So wenig wusste ich, bis sie dann einmal den Namen dieses Ortes ausgesprochen hat: Litzmannstadt. 

Meine Familie

Es gibt Grosseltern, die man nicht kennengelernt hat, die erniedrigt, deportiert, ermordet wurden oder die, im besten Fall, in ein fernes Land ausgewandert sind. Meine Grossmutter mütterlicherseits, also Isidors Frau, wurde in 1896 in Neunkirchen (Niederösterreich) geboren. Ihr Vater war die ganzen Jahre Kultusvorsteher, die Mutter Hausfrau. Die Familie war religiös und in jeder Hinsicht österreichisch. Meine Grossmutter war inmitten einer Gruppe jüdischer Frauen, als die Nazis auf sie schossen. Meine Grossmutter wurde ohnmächtig und fiel zu Boden. Die Nazis dachten, dass sie wie alle anderen tot war und gingen. Nachdem Grossmutter das Bewusstsein wiedererlangt hatte, schaffte sie es zu fliehen. Irgendwie kam sie auf einem illegalen Schiff mit Einwanderern nach Palästina. Dort wurde sie von den Briten verhaftet und nach Mauritius gesandt, wo sie fünf Jahre unter schwierigen Bedingungen blieb. Erst 1945 konnte sie nach Palästina kommen, wo sie ihre beiden Kinder wieder traf. Ludwig Preis, der Bruder meiner Grossmutter, wurde am 9. November 1938 von der Gestapo verhaftet und nach Dachau geschickt. Um ihn heraus zu bekommen hat die Familie ein Shangai Zertifikat zu einem hohen Preis gekauft. Ein weiterer Bruder, Sigmund Preis,  wurde im Mai 1938 in Neunkirchen von den Nazis ermordet. Die Tanten Anna Lackenbacher und Gisela Preis wurden in Kladovo- Šabac in Jugoslawien von den Nazis ermordet. Eine Tante (Hilda Adler) und Onkel (Heinrich Preiss) mussten nach Ecuador fliehen. Es gelang ihnen zu entkommen und ein Visum zu bekommen. 

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Meine Grossmutter in Mauritius.

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Gelber Stern meiner Grossmutter. Wir fanden ihn in ihrem Schrank nach ihrem Ableben.

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Das Rote Kreuz informierte die Familie, dass weder Anfragen noch Nachrichten in die jüdischen Lager in Serbien weitervermittelt werden können.

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Meine Eltern – Rosa Shoshana (1925-) und Herman (1920-2009) Cohen.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung R. Stankevich.

Die Wunden des Holocaust bluten noch immer

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich meine Gedanken zum Schicksal meiner Familie und zum Holocaust erforschen musste. Seitdem ich ein Mädchen war, habe ich mich mit der Familiengeschichte beschäftigt, und die meiste Zeit davon mit der Geschichte der Shoah. In Israel ist diese Wunde noch weit offen. Die Überlebenden kamen nach Israel, um ein Trauma zu heilen. Sie suchten ein Obdach, sie wollten eine normale Nation werden. Als erste Generation werden die Menschen bezeichnet, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse“ – so die Definition des Nationalsozialismus – in die Konzentrationslager geschickt wurden und überleben konnten. Dazu gehören auch jene, die dem Nazismus entfliehen konnten und nicht durch die „Lager“ gingen. Diese überlebenden Emigranten bilden die letzte Generation ihrer ermordeten Familien. Es gäbe viel zu sagen über die psychosozialen Auswirkungen des Holocaust in der ersten Generation, aber das ist ein anderes Thema. Ich werde mich zunächst auf die Kinder der zweiten Generation beziehen, die zwischen Mitte der vierziger und Mitte der sechziger Jahre geboren ist. Was bedeutet es, ein Sohn oder eine Tochter in der Zeit nach der Verfolgung und dem Massenmord zu sein? Ein Kind war zumindest das Symbol für das Leben und für die Kontinuität der Existenz. Es geht hier vor allem darum, die Trauer zu verarbeiten, nachdem der Körper des toten Angehörigen nicht auffindbar war und die Rituale der Beerdigung nicht stattfinden konnten. Die Kinder ermöglichten nun den Eltern die Phantasie, dass die Toten ersetzbar wären und nichts verloren gegangen sei. Die Informationen, die die Eltern weitergaben, waren minimal. Einige Gründe dafür waren das Schamgefühl, die Furcht, nicht verstanden zu werden oder sogar nicht gehört zu werden und auch den Wunsch, den Kindern die erlebten traumatischen Situationen zu ersparen. Ein Mann erzählte mir, dass er sich erst nach vielen Jahren der Tatsache bewusst wurde, dass seine Eltern ihm eigentlich sehr wenig erzählt hatten. Und als er den Wunsch verspürte, Fragen zu stellen – worauf er übrigens vorher überhaupt nicht gekommen war -, waren seine Eltern bereits tot. Angehörige der zweiten Generation berichten von Angst und tiefem Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Vielfach leiden sie an Härte zu sich selbst, an einem starren Gefühlsleben, an ständiger Beschäftigung mit den Eltern und wiederkehrenden Träumen vom Tod. Diesen Kindern wurde zudem ein unerfüllbarer Wunsch aufgelastet. Sie sollten das Trauma heilen, dass in der Familie die Kontinuität zwischen den Generationen abgebrochen war. Viele erhielten daher die Namen ermordeter Verwandter. Sie sollten an Tote erinnern, deren Geschichte ihnen aber niemand erzählte.  Die Geschichte unseres Grossvaters war unsere Familiengeschichte, die Geschichte des Holocaust damit unsere eigene.

Die zweite Generation hat mit ihren eigenen Schuldgefühlen gegenüber den Eltern zu kämpfen. Wir haben uns geschämt, dass sie Opfer waren und wirklich schmerzhafte Dinge wurden nicht diskutiert. Schweigen ist immer die erste Wahl.  Als Kind hatte ich keinen Vergleich. Ich fühlte, dass etwas anders oder falsch war, aber ich wusste nicht was. Ein Beispiel: Ich hörte immer wieder das Wort „Kristallnacht“, aber ich wusste nicht, was das war. Es klang jedoch so schön. Also ging ich in die Schulbibliothek und fragte nach einem Roman über die Kristallnacht. „Das muss ein romantisches Buch sein“, sagte ich zu der Bibliothekarin. „Und wer ist der Autor?“, fragte die. Da sagte plötzlich von hinten eine Stimme: „Adolf Hitler.“ Ich ging nie wieder in die Bibliothek. Als eine Israeli konnte ich nichts akzeptieren, was meiner Mutter wichtig war. Sie sprach Deutsch mit mir, das war ihre Muttersprache. Deutsche Sprache und deutsche Kultur waren in der Nachkriegszeit tabu in Israel. Ich habe mich immer geschämt, wenn Kinder zu uns nach Hause kamen. Deutsch war die einzige Sprache, die meine Grossmutter sprechen konnte. Als sie einwanderte, konnte sie wegen ihrer geistigen und auch wirtschaftlichen Situation nicht Hebräisch lernen. Meine Kinder haben ihre Forschungsarbeit als Prüfung für die Matura über den Holocaust gemacht. Das sagt auch etwas über die dritte Generation aus. Die Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren in Israel aufgewachsen ist, wurde durch alle möglichen Medien über den Holocaust informiert. Der Einfluss des Holocaust kam selten zu Hause zur Sprache, war aber trotzdem allen Israelis der Generation nach dem Holocaust bewusst, deren Wurzeln in Europa lagen. Es gibt wahrscheinlich zwei grosse Linien, wie nach dieser Erfahrung weitergelebt werden kann. Die eine ist, glücklich zu sein, dass man überlebt hat und zu versuchen, möglichst viel Liebe zu geben, vor allen den Kindern. Und die andere ist eine Unfähigkeit zu lieben. Um mit den Worten von Bertolt Brecht zu enden: „Emigranten wie man uns nannte, schien mir immer die falsche Bezeichnung zu sein, denn das sind Menschen, die ihr Land verlassen, um in einem anderen zu leben. Aber wir gingen von unserem Land nicht freiwillig fort, um uns ein neues auszusuchen. Was wir taten, war fliehen. Wir wurden hinausgetrieben, verbannt; Ach! Die Stille der Stunden täuscht uns nicht! Wir hören das Schreien der Lager bis hierher.“