404: Not Found Das jüdische Florenz im Wandel der Zeit (Teil 2) David - Jüdische Kulturzeitschrift

Ausgabe

Das jüdische Florenz im Wandel der Zeit (Teil 2)

Martin MALEK

Inhalt

Das Ghetto

1555 erliess Papst Paul IV. die Bulle Cum nimis absurdum, die das Leben der Juden regelte, sprich: massiv einschränkte. Zu den folgereichsten der darin enthaltenen Anordnungen gehörte, dass die Juden nur in zugewiesenen Vierteln, Stadtteilen und besonders gekennzeichneten Strassen sowie von Christen getrennt zu wohnen hatten. Die Juden durften an Christen kein Getreide oder andere lebenswichtige Waren liefern. So wurde auch in Florenz, und zwar nahe des Alten Marktes (Mercato Vecchio) im Zentrum, ein Ghetto errichtet. Stefanie Siegmund (University of Michigan, USA) stellte die damaligen Ereignisse in einer umfangreichen, u.a. auf Archivrecherchen beruhenden und mit mehreren Preisen ausgezeichneten Studie in den Kontext von statecraft und katholischer Gegenreformation.1 Das (im Rahmen des Medici Archive Project stattfindende) Ghetto Mapping Project beleuchtet zudem den ökonomischen Aspekt dieser Vorgänge: „The ghetto of Florence […] was not only the expression and result of a widespread and substantially omnipresent anti-Jewish feeling but also the produce of a major, very rewarding investment plan [der Medici].“2

Das Ghetto ist wohl der am besten erforschte Stadtteil von Florenz. Seine Evolution lässt sich anhand zahlreicher überlieferter Dokumente und Karten gut nachvollziehen. Auch die Juden aus den nahegelegenen Ortschaften Montalcino, Torricella, San Miniato, Montepulciano und Prato mussten in dieses Ghetto, das über zwei mit Toren verschliessbare Zu- bzw. Ausgänge verfügte. Die Gebäude waren relativ hoch, und so fiel nur wenig Licht in die engen Gassen. Doch gleichzeitig war die Implementierung der antijüdischen Vorschriften in Florenz weniger rigide als anderswo. Das Ghetto administrierte sich weitgehend selbst, es gab Schulen und koschere Geschäfte. Ein Rabbinatsgericht war für rechtliche Angelegenheiten zuständig. 

Die Bewohner des Ghettos wurden nicht brutal behandelt, und wohlhabende Juden konnten überhaupt weiterhin in anderen Stadtteilen ansässig bleiben. Richard A. Goldthwaite (John Hopkins University, USA) meinte in einem detailreichen Buch über die Wirtschaft von Florenz während der Renaissance, dass die Sepharden überhaupt nicht in das Ghetto hätten umziehen müssen.3 Das kann aber entweder gar nicht oder nur für die erste Zeit der Existenz des Ghettos zutreffen, denn dort gab es ab Ende des 16. Jahrhunderts zweifellos zwei Synagogen – je eine für den italienischen und den sephardischen Ritus (im 15. Jahrhundert hatte Florenz nur eine Synagoge beherbergt, natürlich mit italienischem Ritus). Es kann aber als gesichert gelten, dass sich unter den Juden, die mit Ausnahmegenehmigung ausserhalb des Ghettos lebten, überproportional viele Sepharden befanden. Grossfürst Cosimo III. de’ Medici (1642-1723) störte sich insbesondere daran, dass manche in der Nähe von Kirchen wohnten, und erzwang ihre Rückkehr bzw. Übersiedlung ins (1704-1714 erweiterte) Ghetto. Doch im Vergleich mit anderen europäischen Städten und Ländern war man in Florenz gegenüber den Juden „liberal“; von Pogromen, Massenmord usw. an ihnen konnte keine Rede sein.

1591 und 1593 lud Cosimos I. Sohn Ferdinando I. de’ Medici jüdische Kaufleute zur Niederlassung in der Hafenstadt Livorno ein und garantierte ihnen unbeschränkte Handelsfreiheit sowie Selbstverwaltung. Den Christen war verboten worden, direkt mit „Ungläubigen“ (Arabern, Osmanen usw.) Handel zu treiben, und so übernahmen die Juden diese lukrative Aufgabe. Um 1600 lebten ca. 3.000 Juden in Livorno, das sich hinsichtlich seiner Bedeutung für das jüdische Geschäftsleben in Europa nur von Amsterdam übertroffen sah. Livorno war ausserdem – insbesondere unter dem Einfluss von Rabbi Joseph ben Emanuel Ergas (1685-1732) und anderen Exponenten der Kabbala – ein Zentrum für jüdische Gelehrsamkeit und Mystizismus. 

Aus jüdischer Sicht lässt sich folgendes Fazit der Herrschaft der Medici über Florenz und die Toskana (bis 1737) ziehen: „In practice, Medici rule was characterized by a shifting balance of privileges and concessions, and for Jews […] the door was never as open nor as closed as it might seem.“4

 

Befreiung aus dem Ghetto und Emanzipation

Nach 1737 regierten die Habsburger, die den Juden schrittweise mehr Rechte zugestanden, die Toskana und damit Florenz. 1799 geriet Florenz unter die Verwaltung der Franzosen, die sich im Gefolge der Revolution zehn Jahre zuvor „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf die Fahnen geschrieben hatten; konsequent proklamierten sie Bürgerrechte und Emanzipation für die Juden, von denen viele in der Folge das Ghetto verliessen und sich in andere Teile von Florenz aufmachten. 1848 wurde das Ghetto formal aufgelöst. Bei der Proklamation des Königreiches Italien 1861 erhielten die Juden volle Bürgerrechte. Sie spielten nun eine aktive Rolle in den ökonomischen, politischen und kulturellen Angelegenheiten (auch) von Florenz. In diese Zeit des neuen Aufbruchs fiel 1874-1882 die Errichtung einer neuen und grossen Synagoge. Das Ghetto wurde im Zuge einer massiven Stadterneuerung (Risanamento) völlig abgetragen, an seine Stelle trat die Piazza della Repubblica (deren heutiges Aussehen insbesondere auf 1885-1895 durchgeführte Arbeiten zurückgeht). 1899 übersiedelte das Collegio Rabbinico Italiano nach Florenz. 

1931 lebten etwa 3.000 der insgesamt 48.000 italienischen Juden in Florenz. Sie alle waren von der Politik des faschistischen Diktators Benito Mussolini betroffen, der sich mit zunehmender Anlehnung an Hitlerdeutschland immer antisemitischer gebärdete. Im Herbst 1943, nach dem Sturz Mussolinis, besetzte deutsches Militär Florenz mit seinen noch ca. 2.500 Juden. Von den „offiziell“ 248 (tatsächlich dürften es Hunderte mehr gewesen sein) in Konzentrationslager Deportierten überlebte nur ein Dutzend.5 Die Okkupanten und ihre italienischen Helfershelfer raubten und zerstörten jüdisches Eigentum. Die Synagoge wurde zuerst als Garage und Lagerhaus zweckentfremdet und war im August 1944 zur Sprengung vorgesehen, was allerdings an italienischen Partisanen weitgehend scheiterte; der eingetretene Schaden war überschaubar. 

Seit 1954 erinnert eine grosse Gedenktafel im Garten der Synagoge an die Deportationen. 1957 entstand in Florenz ein jüdisches Altersheim, 1964 eine jüdische Schule. Eine Überschwemmung, die Florenz 1966 verheerte, beschädigte in der Synagoge die Einrichtung, Fresken, die historische Bibliothek und 90 Thora-Rollen. Heute besichtigen ca. 50.000 Menschen pro Jahr die Synagoge und das ihr angeschlossene Museum. 

Die meisten Schätzungen über die heutige Zahl der Juden in Florenz schwanken zwischen 800 und 1.400, für die es zwei Synagogen gibt. Abgesehen von den Orthodoxen besteht noch eine kleine „progressive“ Gemeinschaft, genannt Shir Hadash.6

 

Synagoge und Museum

Die Architektur der Grossen Synagoge in der Via Luigi Carlo Farini kombiniert italienische, byzantinische und maurische Einflüsse. Letzteres sollte an die Ursprünge der Sepharden im arabischen Spanien (al-Andalus) erinnern. Die Synagoge ähnelt keinem anderen Gebäude in Florenz, womit die Bauherren veranschaulichen wollten, dass Traditionen und Kultur der Juden eben anders sind. 

Das – eher kleine – Museum skizziert auf zwei Etagen (eröffnet 1981 bzw. 2007) den Weg der Gemeinde von 1437 bis in die Gegenwart. Hier kann man u.a. Möbelstücke und andere Einrichtungsgegenstände, Textilien, Kultgegenstände aus Silber (die bei Zeremonien in den Synagogen im Ghetto Verwendung fanden), Photos, Dokumente, Modelle usw. betrachten. Man gewinnt so eine plastische Vorstellung vom jüdischen Gemeindeleben mit seinen Festen und Feiertagen, dem Ghetto, Mussolinis Rassengesetzen, der Deportation und dem Holocaust sowie dem Wiederaufbau nach 1945. Viele der ausgestellten Objekte stammen von jüdischen Familien, die ihre Verbundenheit mit der Gemeinde betonen wollten.7 Ein Laden bietet diverse Souvenirs und Bücher an.

Es ist auch möglich, Exkursionen durch das „jüdische Florenz“ zu buchen: Sie werden etwa von der einheimischen Architekturhistorikerin und Fremdenführerin Giovanna Bossi Rosenfeld angeboten (für Interessierte: http://www.florence-jewish-tours.com/ ).

 

1 Stefanie B. Siegmund: The Medici State and the Ghetto of Florence. The Construction of an Early Modern Jewish Community. Stanford 2006. Übersetzung der Lektorin: „Das Ghetto von Florenz […] war nicht nur Ausdruck und Resultat eines weitverbreitenden und substantiellen, allgegenwärtigen antijüdischen Ressentiments aber auch das Produkt einer massiven, sich sehr lohnenden Investitionsplanes [der Medici].“

2 Ghetto Mapping Project, <http://www.medici.org/ghetto-mapping-project/> (16.02.2017).

3 Richard A. Goldthwaite : The Economy of Renaissance Florence. Baltimore 2009, S. 123. Übersetzung der Lektorin: „In Wirklichkeit war die Herrschaft der Medici durch eine wechselnde Balance von Privilegien und Zugeständnissen gekennzeichnet und für die Juden […] war die Tür niemals so offen oder so geschlossen wie es den Anschein haben könnte.“

4 Jewish Virtual Library: The Jews and the Medici, <http://www.jewishvirtuallibrary.org/the-jews-and-the-medici> (14.02.2017).

5 Dora Liscia Bemporad: Sinagoga – The Synagoge. Museo Ebraico di Firenze – The Jewish Museum of Florence. Firenze 2007, S. 81.

6 Shir Hadash – Progressive Judaism in Florence. <http://www.shirhadashfirenze.com/enghome> (16.02.2017).

7 Jewish Florence. Jewish community of Florence, <http://moked.it/jewishflorence/synagogue-and-museum/florence/museum/> (13.02.2017).