Kohelet 7,16. „Trachte nicht im Übermaß daran,  
 weise zu werden, warum willst du  dich zerstören?“
Was ist eigentlich jüdische Philosophie? Gibt es diese überhaupt?  
 Den Anspruch,  wirklich alles zu hinterfragen, auch die Religion, kennzeichnet die Haltung  eines Philosophen. Aber haben das die „jüdischen Philosophen“ wirklich jemals  getan? Wollten sie nicht vielmehr die jüdische Tradition philosophisch erklären  und verteidigen? 
 
 Bereits Julius Guttmann, Autor von „Philosophie des Judentums“  (1933 ) fällte ein vernichtendes Urteil: „Das Judentum hat keine Philosophie  hervorgebracht.“ 
 
 Wenn wir auf die große Ahnenreihe der jüdischen Denker zurückblicken, springen  natürlich Namen ins Blickfeld, wie Moses Maimonides, Moses Mendelssohn oder  Martin Buber. Aber waren diese etwa Vertreter eines synthetischen Gebildes, das  wir jüdische Philosophie nennen? Keiner der Giganten der jüdischen  Geistesgeschichte von der Antike bis zum Ende des Mittelalters, der sich mit  philosophischen Fragestellungen beschäftigt hat, verstand sich als Philosoph,  schon gar nicht als jüdischer Philosoph. Moses Mendelssohn war der erste Jude,  der sich Philosoph nannte, dabei aber keineswegs so etwas wie jüdische  Philosophie betrieb. Er gehört, wie zahlreiche Juden vor und nach ihm, zu einer  Gruppe, die die Quellen des Judentums mit dem rationalen Rüstzeug der  Philosophie bearbeiteten. Dies ist die Ausgangssituation jedes Werkes der  jüdischen Philosophie, vom „Führer der Unschlüssigen“ bis zum „Stern der  Erlösung“. Es sind Denker, die hauptsächlich philosophische Methoden und  Elemente bei ihrer Interpretation der jüdischen Tradition anwandten, wobei die  Grenzen zuweilen verschwommen sind. Mystische Spekulationen verzahnen sich oft  mit philosophischen, wie wir bei einigen Kabbalisten des Mittelalters sehen  können. Das hängt aber damit zusammen, dass sowohl kabbalistische als auch  philosophische Denker sich mit den gleichen Problemen - Schöpfung, Offenbarung  und Erlösung - befassten und dieselben Texte – Tanach, Talmud und Midrasch - als  Quelle heranzogen. Sie - von Philo bis Lévinas - haben sich immer wieder  aufgemacht, mit den Büchern ihrer Überlieferung zu ringen. Jakobs Kampf mit dem  Engel ist das symbolische Bild der Geschichte dieses sich immer wieder  wiederholenden Prozesses. Der gemeinsame Nenner aller jüdischen Philosophen ist  das Ringen um die Offenbarung, also um die schriftliche und mündliche Lehre.  Eine Lehre, in der eigentlich nur wenige Ansätze zum philosophischen Denken zu  finden sind.
 Die Ablehnung der Philosophie wird im Tanach und der rabbinischen Literatur  sogar eindeutig betont. 
 
 „Erforsche nicht Dinge, die zu schwierig für dich sind und suche nicht Dinge,  die vor dir verborgen sind.“(Talmud Bavli, Chagiga 13a)
 Dennoch handeln Tanach, Talmud und Midrasch-Sammlungen an vielen Stellen von  philosophisch relevanten Themen, wie Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, der  göttlichen Vorsehung, dem freien Willen, Recht und Gerechtigkeit. Man könnte es  auch so formulieren: der gesamte Korpus der Tora ist das traditionelle  Fundament, eine ungeheure nicht zu unterschätzende Schatzkammer der Lehren und  Ideen. Alles andere ist Kommentar dazu. 
 Zwei große Konzepte beeinflussten die jüdischen Denker des Mittelalters- der  Aristotelismus und der Neuplatonismus. Manchmal auch beide zusammen. Es gibt  natürlich welche, die weder in das eine noch das andere Schema passen, z. B.  Sa’adia Gaon (882-942) aus Ägypten war der muslimischen Schule des Kalam  verpflichtet. Dieser bedeutende Denker war das Oberhaupt der Akademie von Sura  und schrieb u.a. bedeutende Werke zum Tanach, zur hebräischen Lexikographie,  Grammatik und zum Kalenderwesen. In seinem einflussreichen „Buch der  philosophischen Meinungen und der Religionslehren“ schrieb er, dass Religion und  Philosophie nicht Gegensätze sein sollten, sondern einander helfen müssten, um  die Wahrheit zu finden. Die Meister der mittelalterlichen jüdischen Philosophie  lebten im muslimischen Spanien, wie Salomo Ibn Daud (1021-ca.1050), Bachya Ibn Paquda (11.Jahrhundert) oder Jehuda Halevi  (1075-1141). All diese Menschen lebten nicht in einem kulturellen Vakuum,  sondern befassten sich mit den denkerischen Fragen ihrer Zeit, kurz sie waren  modern. Sie debattierten um die Frage nach der Natur von Gottes Einheit, der  Schöpfung oder der Vorsehung. Die jüdischen Philosophen bildeten mit den  arabischen Philosophen eine Art wissenschaftliche Streitmacht des Monotheismus  gegen das Heidentum. Sie bauten auf den arabischen Philosophen auf und  reagierten auf sie. Sie schrieben nicht Hebräisch, sondern arabisch, wenn auch  oft in hebräischen Lettern. 
 
 Ibn Gabirol war ein düsterer Lyriker, dessen philosophisches Hauptwerk „Der  Lebensquell“ ist. 1167 entwickelte er in Saragossa ein System der menschlichen  Neigungen und Triebe (Tikkun Midot ha-Nefesch), worin er aufzeigte, wie man in  Harmonie zu leben hätte. Als Beispiele für schlechte Seelenzustände nannte er  Leute aus seiner Gemeinde: „Namen brauche ich nicht zu nennen, sie sind bekannt  genug“, worauf er ausgewiesen wurde. Berühmt ist er durch seine religiösen  Hymnen, die teilweise auch in die Liturgie aufgenommen wurden, wie die  „Königskrone“.
 
 Jehuda Halevi, der Autor des „Kusari“ war im Grunde ein prä-zionistischer  Denker, der feststellte, dass eine religiöse oder säkulare Existenz in der  Diaspora nicht möglich sei: 
 „Ich beschäftige mich selbst in den Stunden, die weder zum Tage noch zur Nacht  gehören, mit der Eitelkeit der Heilkunde, obgleich ich nicht zu heilen vermag.  Die Stadt, in der ich lebe, ist groß, die Bewohner sind Riesen, aber es sind  harte Herren. Womit könnte ich sie beschwichtigen, als indem ich meine Tage mit  der Heilung ihrer Krankheit vergeude. Ich heile Babel, aber es bleibt immer  siech. Ich flehe zu Gott, dass er mir bald die Erlösung sende und mir die  Freiheit gewähre, die Ruhe zu genießen, dass ich zu einem Orte lebendigen  Wissens, zur Quelle der Weisheit wandern könnte.“
 
 Mosche ben Maimon (Maimonides, abgekürzt RaMbaM), der zwar 1135 in Cordoba  geboren wurde, aber bereits 1148 mit seiner Familie nach Ägypten emigrierte, ist  der bedeutendste jüdische Denker des Mittelalters. Als Leibarzt des Hofviziers  des Sultan Saladin verdiente er seinen Lebensunterhalt, während er in der freien  Zeit sein rabbinisches Hauptwerk, die „Mischne Tora“ und seine zentrale  philosophische Schrift, den „Führer der Unschlüssigen“ niederschrieb. Darin  erörtert er das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion, wobei er zwischen  der intellektuellen Elite und den Massen (zu denen auch Toragelehrte gehören,  die nur das rabbinische Werk studieren) unterschied.
 
 Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 gab die jüdische  Philosophie nur ein kurzes Zwischenspiel in der italienischen Renaissance mit  Azaria dei Rossi (1511-1578) oder Leone Modena (1571-1648). In ihren Werken  finden sich sogar historisch-kritische Auseinandersetzungen mit den religiösen  Traditionen der rabbinischen Gelehrsamkeit.
 
 Jedoch sollte erst mit Moses Mendelssohn (1729-1786) in der Zeit der Aufklärung  die jüdische Philosophie zu größere Bedeutung erlangen. Mendelssohns  Zeitumstände waren sein Kampf gegen das Ghetto von außen und innen. Er war kein  zerrissener Mensch, der daran zerbrach, traditioneller Jude und deutscher  Philosoph zugleich sein zu wollen. Er lebte bewusst in zwei Welten, er war  Mauscheh aus Dessau, wie er seinen Namen jüdisch-deutsch schrieb und Moses  Mendelssohn aus Berlin. Unter dem Druck der Judengesetze Preussens mußte er aber  eine energieraubende Existenz als Buchhalter bei Tag und Philosoph in der Nacht  führen. Vor allem sollte Mendelssohn seine Gedankenwelt in Schriften wie  „Jerusalem“ (1783) ausformulieren. Der Staat und die religiösen Institutionen  haben das Ziel, das Glück des Menschen zu fördern. Allerdings besitzt der Staat  die Macht zu befehlen und die Religion sollte nur lehren und überzeugen. Das  Judentum hat ein anderes Verständnis von Offenbarung als das Christentum: Den  Juden wurden Gesetze, Vorschriften und Gebote offenbart und übergeben, die sie  allein halten sollen. Diese religiösen Wahrheiten, die unerlässlich für das  Glück des Menschen sind, können durch die menschliche Vernunft allein  vollständig erreicht werden. Die Juden sind - bis der Messias kommt - dazu  aufgefordert, die offenbarten Vorschriften zu erfüllen.
 
 Aus der langen Reihe bedeutender jüdischer Philosophen nach Mendelssohn, wie  Hermann Cohen (1842-1918), Leo Baeck (1873-1956) oder Emanuel Lévinas  (1906-1995) sollen nur kurz Franz Rosenzweig (1886-1929) und Martin Buber  (1878-1965) erwähnt werden. Franz Rosenzweig aus Kassel wird als der  bedeutendste jüdische Philosoph des 20. Jahrhunderts gesehen. 1921 wurde sein  Hauptwerk gedruckt, „Der Stern der Erlösung“. 1918 hatte er ihn auf  Feldpostkarten im Schützengraben verfasst. Dieses äußerst schwierige Werk ist  der Versuch seines „neuen Denkens“ und stellt im Grunde eine philosophische  Theologie des Judentums dar. 1920 gründete er in Frankfurt u.a. zusammen mit  Buber das „Freie Jüdische Lehrhaus“. An dieser Volkshochschule lehrten z. B. Leo  Baeck, Erich Fromm und Gershom Scholem. Nachdem Rosenzweig durch eine schwere  Krankheit seit 1922 ans Bett gefesselt war, setzte er dennoch seine literarische  Arbeit fort, darunter Übersetzungen von Jehuda Halevi. 1924 begann er mit Buber  eine Bibelübersetzung, die bis zu Rosenzweigs Tod das Buch Jesaja erreicht hatte  und 1961 von Buber beendet wurde.
 
 Martin Buber war ein äußerst vielseitiger Denker. Er war ein bedeutender  Vertreter der dialogischen Philosophie („Ich und Du“, 1922), prägte den  Kulturzionismus und lehrte chassidisches Gedankengut. Im Grunde war er ein von  der Ästhetik geprägter glänzender Literat, der ewige Wahrheiten, teilweise in  unendliche Tiefen gehend, teilweise nur angedeutet, die Menschheit lehrte.  Daneben war er jedoch ein philosophischer Schriftsteller, der es ablehnte als  Philosoph bezeichnet zu werden. Dennoch sind seine Lehren ein Schlag gegen all  jene Denker, die glauben, ein philosophisches Gedankengebäude müsse ein  komponiertes System besitzen. Ebenso vertrat er ein überkonfessionelles  Judentum, das jenseits der Debatten zwischen Orthodoxen und Reformern oder  anderen jüdischen Gruppierungen stand. Buber entmystifizierte und  enthalachisierte den Chassidismus und beschrieb ihn als „Heiligung des Alltags“.  Bei dieser „chassidischen Botschaft“ ging es natürlich um eine universalistische  Lehre, nicht um eine historisch-kritische Darstellung.
 
 Die jüdischen Denker der Gegenwart sind nicht zu trennen von den Problematiken  der Post-Shoah Zeit, bzw. der Shoah selber und all ihren psychologischen  Komplikationen der ersten, zweiten und dritten Generation. Sie stehen wie  Richard L. Rubinstein auch in unmittelbarer Berührung mit Konzeptionen wie der  „Gott ist tot-Theologie“. Emil Fackenheim (1916-2003) schrieb in „God’s Presence  in History”, dass wir nicht begreifen können, wieso Gott Auschwitz zugelassen  hat, aber müssen darauf insistieren, dass er dort war. „Es ist uns Juden  verboten, Hitler nachträglich siegen zu lassen.“ Das bedeutete für Fackenheim,  dass man als Jude überleben und der Opfer gedenken müsse. Auch war es für ihn  Tabu, am Gott Israels zu verzweifeln, damit das Judentum nicht untergeht.
 
 Im zeitgenössischen jüdischen Denken werden eigentlich nicht mehr neue Systeme  entwickelt oder gar Lösungen für das jüdische Dasein entwickelt, vielmehr wird  hier jüdische Gegenwart aufgezeigt.
 Rafael Seligmann: „Ich persönlich bin gläubig — mit Zweifeln. Und diese Zweifel  drücke ich in meinen Romanen aus. Solange der Mensch an Gott glaubt, hegt er  Zweifel. Nicht erst seit Auschwitz. Warum gibt es Leid, Krankheit, Verbrechen,  Tod? Wir wissen es nicht. Also suchen wir, haben Zweifel und hadern.“