Am 7. Dezember 2002 fand im Royal Opera House Covent Garden in London die umjubelte Premiere von Nicholas Maws Oper „Sophie’s Choice“ statt. In der Titelpartie brillierte Angelika Kirchschlager, die die Rolle der Sophie auch in der Österreichischen Erstaufführung am 26. Oktober 2005 an der Volksoper Wien gesungen hat. Der Oper zugrunde liegt William Styrons gleichnamiger Bestseller-Roman, der 1982, nur drei Jahre nach Erscheinen, verfilmt wurde. Meryl Streep erhielt damals für ihre Darstellung der polnischen Katholikin Sophie, die im Konzentrationslager Auschwitz ihre beiden Kinder verliert, selbst aber den Holocaust überlebt, einen Oscar.
Wo war der Mensch?
Im Talmud heißt es: „Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung.“ Die Volksoper erinnert mit der Österreichischen Erstaufführung von „Sophie’s Choice“ im Gedankenjahr 2005 an das Trauma Auschwitz, das seine Schatten noch lange auf Gegenwart und Zukunft werfen wird. Im Veranstaltungsreigen des heurigen Gedankenjahres setzt die Volksoper somit einen späten Höhepunkt. Das Staatssekretariat für Kunst und Medien hat aus Anlass der großen österreichischen Jubiläen – 60 Jahre Zweite Republik und Friede, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Beitritt – bisher zahlreiche Initiativen gesetzt, aber auch die Institutionen und Veranstalter aus allen Bereichen der Kultur, der Wissenschaft und der Medien bei ihren Projekten zum Gedankenjahr unterstützt. Leitidee für Franz Morak, Kunststaatssekretär im Bundeskanzleramt war und ist es, „während des Gedankenjahres eine Standortbestimmung Österreichs zu treffen. Ein Jubiläum ist letztlich nur relevant, soweit es Zukunft gestaltet, oder wenigstens gestalten hilft. Diese Chance, aus dem Wissen und dem Bewusstsein um unsere Vergangenheit Perspektiven für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft zu erarbeiten gilt es wahrzunehmen.“
Die Oper „Sophie’s Choice“ thematisiert verdrängte Vergangenheit. Über Sophies schreckliche Erlebnisse erzählt die Oper aber zunächst gar nichts. Vielmehr erlebt man zu Beginn drei junge Menschen in einem Mietshaus in Brooklyn im Sommer 1947: Sophie, Nathan und Stingo. Sophie, eine junge Polin und Nathan, ein genialischer jüdischer Intellektueller, führen eine sehr turbulente Beziehung, die vor allem durch Nathans besinnungslose Wut- und Eifersuchtsanfälle immer wieder an die Grenze des Erträglichen für Sophie geführt wird. Doch die beiden können nicht voneinander lassen. Ihre Liebe ist wie ein „taubstummes Kind, das mit ausgebreiteten Armen und lachendem Gesicht dahin rennt, dessen Mund sich aber langsam zum Weinen verzieht, weil keiner es versteht und weil es kein Ziel sieht.“ (Imre Kertész)
Im selben Haus wie Sophie und Nathan lebt auch Stingo, ein junger Mann aus den Südstaaten, der Schriftsteller werden will und an seinem ersten Roman arbeitet. Das exzentrische junge Paar und Stingo freunden sich an und verbringen unbeschwerte Stunden miteinander. Doch auch diese Freundschaft wird immer wieder durch Nathans unberechenbare, verletzende Ausbrüche auf die Probe gestellt. Stingo entwickelt eine große mitfühlende Liebe für Sophie. Diese erzählt ihm im Laufe der Oper zahlreiche Geschehnisse aus ihrer Vergangenheit. Stück für Stück bricht sorgsam Verdrängtes aus ihrem Unterbewusstsein heraus: die Angst vor dem strengen, lieblosen, antisemitischen Vater, die Deportation nach Auschwitz, die Zeit als Schreibkraft bei dem Obersturmbannführer Rudolf Höß – und ganz zum Schluss erlebt sie noch einmal die „Wahl“, die ihre Lebenskraft zerstört hat, lange bevor sie wirklich aufhört zu leben: Bei ihrer Ankunft im Lager „darf“ sich Sophie, weil sie keine Jüdin, sondern „nur“ polnische Katholikin ist, entscheiden, welches ihrer Kinder – Jan oder Eva – sie freiwillig hergibt. Sie opfert das Mädchen, in der Hoffnung, den Buben zu retten. Wie nicht anders zu erwarten finden beide Kinder den Tod … Allein sie selbst überlebt. Am Ende des Stücks fragt der Erzähler: „Wo war Gott in Auschwitz?“ Die Antwort lautet: „Wo war der Mensch?“
Keine Scheu vor Emotionen
Über drei Stunden Oper, noch dazu zeitgenössische Musik, obendrein thematisch mit dem Holocaust verknüpft. Ein attraktiver Opernabend? Nun, auch wenn diese Aspekte auf Maws „Sophie’s Choice“ zutreffen - sie charakterisieren in keiner Weise dieses Werk. Eher treffend ist, was Lenus Carlson, der Sänger des Erzählers, sagt: ‚It’s a love story - with a past.’ – Eine Liebesgeschichte wird erzählt, die eine tragische Wendung nimmt - ähnlich wie in „La Bohème“. Übrigens ist auch die Musik ungeheuer berührend, die keine Scheu vor Emotionen kennt. Und auch keine Scheu davor, eine Geschichte zu erzählen, die sich mit Individuen beschäftigt. Da sprüht alles vor Lebensfreude - um sich im nächsten Moment ins Gegenteil zu verkehren. Die Beziehungen zwischen den Hauptdarstellern folgen fatalen Mustern, die sich nicht aufbrechen lassen. So scheitert Sophie schließlich an der Vergangenheit. Sie hat es zwar geschafft, Auschwitz zu überleben, doch ihr Versuch, in New York ein wirklich neues Leben zu beginnen, misslingt - die Schatten der Vergangenheit sind übermächtig. Abgesehen von dem nicht zu bewältigenden Verlust ihrer Kinder, kämpft Sophie mit großen Schuldgefühlen, sieht sich nicht nur als Opfer sondern vor allem als Täterin: Ihr hat der Vater damals seine antisemitische Schrift über die totale Vernichtung der Juden diktiert, und genau diese Schrift hat sie später Rudolf Höß gezeigt, als Beweis ihrer Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten. Natürlich hat sie das in absoluter Verzweiflung getan, weil sie auf diese Weise den Sohn, Jan, retten wollte. Er war zunächst in ein Kinderlager gesteckt worden, und nie hat sie etwas über dessen Verbleib erfahren. Und auch der mutigen Widerstandskämpferin Wanda hat sie - noch vor der Deportation nach Auschwitz - die Unterstützung verweigert, aus Angst ihren Kindern könne etwas zustoßen. Es hat alles nichts genutzt.
Vergangenheit in Erinnerung rufen
Im Mittelpunkt von Maws Oper steht nicht der Holocaust, sondern das Zerbrechen eines Menschen an seiner Vergangenheit. Der Holocaust hat ein kollektives Trauma verursacht, das noch Generationen nachwirken wird. Maws Oper zeigt, wie ein Einzelner sich (scheinbar) dagegen aufbäumt und dann abstürzt. So erscheint uns Sophie auf den ersten Blick als vitale, sich nach dem Leben, der Liebe sehnende junge Frau. Tanzen, essen, trinken, all das genießt sie, wie andere junge Leute in ihrem Alter auch. Nicholas Maw hat diese zeitweise Unbeschwertheit in leidenschaftliche, betörende Musik umgesetzt. Erbarmungslos rollen die Erinnerungswellen aus der Vergangenheit heran, bis die kleine (heile) Welt in Brooklyn vollkommen überschwemmt ist, im wahrsten Sinne des Wortes auseinander bricht und Sophie jeden Halt verliert.
Verdrängen kann etwas Negatives sein; bei Sophie ist es eine sehr menschliche Überlebensstrategie: Sie erträgt das Geschehene nicht und versucht es daher aus dem Bewusstsein zu löschen. Leben wäre sonst nicht mehr möglich und Krankheit, Tod oder Wahnsinn wären die Folge. Den Hauptfiguren gelingt aber letztlich nicht, der Vergangenheit zu entrinnen: Nathan verfällt dem Wahnsinn und nimmt sich gemeinsam mit Sophie das Leben. Doch das Stück weist noch einen anderen Weg auf: sich den Fragen der Vergangenheit und der Gegenwart stellen, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen, nach Antworten suchen - auch dann noch, wenn man weiß: Es wird diese Antworten nie geben.