Dem Biographien-Hype auf dem  deutschsprachigen Buchmarkt scheinen keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Die  Spiegel-Bestsellerliste der Woche 48 im Jahr 2005 verzeichnet nicht weniger als  acht von zwanzig Titeln in der Sparte Sachbuch mit biographischem Inhalt. 
 Denn:  Nahezu jeder Prominente jeden Alters schreibt heutzutage seine Autobiographie  oder, in Ermangelung von Talent und Zeit, er lässt eine Biographie über sich  schreiben. Von gut recherchierten Lebensgeschichten bedeutender KünstlerInnen  und ihrer Ehemänner bzw. -frauen (man denke da an das Ehepaar Inge und Walter  Jens, die sich der Frauen der Familie Mann intensiv angenommen haben) bis hin zu  Frauen ohne künstlerischen Anspruch aber dafür umso prominenterem Status (man  denke an Victoria Beckham) scheint neuerdings jedes Leben einer Dokumentation  würdig. Und mit Ausnahme von Victoria Beckham, die kürzlich gestand, niemals ein  Buch gelesen zu haben, schon gar nicht ihre eigene Biographie, scheinen sich die  biographischen Ergüsse und Lebensbeichten der Stars, Sternchen und des  nachfolgenden Schnuppenglitters einer großen Leserschaft zu erfreuen. 
 
 Doch was  macht die Faszination von Biographien tatsächlich aus? Es wäre vermessen zu  denken, das Leben der Menschen von heute wäre interessanter als das der Menschen  früherer Generationen, allerdings haben diese ihr Leben nicht massenweise in  Buchform festgehalten. Doch Gesellschaftsstrukturen ändern sich über die  Jahrzehnte und Jahrhunderte und stellen auch die Biographik vor neue  Herausforderungen. Haben wir es hier also mit einem aktuellen Trend zu tun, der  sich über die Grenzen des Buchmarkts hinweg in der Biographisierung von  Gesellschaft als Ausdruck einer Individualisierung von Gesellschaft zu erkennen  gibt?
 
 Ernst Jandl bei einer Lesung
Biographien geben nicht nur Einzelschicksale  wieder, sie stehen im besten Fall auch über die Abbildung des Lebens von  Individuen hinaus für das Leben innerhalb einer ganzen Epoche. Biographien  helfen uns dabei, Epochengeschichte in der Geschichte des Einzelnen zu  visualisieren und greifbar zu machen. Dazu tragen nicht nur Biographien sondern  auch immer beliebter werdende TV-Porträts oder Spielfilme bei. Auch Museen  können in diesem Zusammenhang für den Besucher zu biographischen Erlebniswelten  werden - man denke da an das Anne Frank Haus in Amsterdam oder das  Buddenbrook-Haus in Lübeck. Dabei steht möglicherweise weniger das Interesse an  der dokumentierten Persönlichkeit im Vordergrund, ebenso wenig der Lerneffekt  bei Leser oder Zuseher durch Nachahmung oder Adaption biographischer  Gegebenheiten einer prominenten Persönlichkeit, sondern vielmehr das Begreifen  von Geschichte in und durch das Leben und Erleben eines Einzelnen. Dies könnte  auch den Boom an historisch-biographischer Literatur erklären, der im Rahmen der  Jahrestage zu den Ereignissen von 50 Jahre Staatsvertrag Österreich bzw. 60  Jahre Kriegsende die Buchhandlungen gefüllt hat. Besonders die Zeit des  Nationalsozialismus scheint in Buch- und Filmform noch einmal in ihrer  biographischen Darstellung von Tätern und Opfern einer dringenden Aufbereitung  zugeführt worden zu sein, die, so darf man hoffen, eine intensive  Auseinandersetzung mit Geschichte abseits von distanzierten Allgemeinplätzen  möglich machen wird. Täter wie Opfer bekommen damit ein Gesicht – vielleicht die  effektivste Methode um ihre Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. 
 In Wien gibt es nun eine neue Anlaufstelle der Biographieforschung, die sich  unter anderem auch mit den genannten Fragestellungen zukünftig befassen wird. Im  April dieses Jahres wurde auf Betreiben von Dr. Wilhelm Hemecker und Dr.  Bernhard Fetz das »Institut für Theorie und Geschichte der Biographie« im Rahmen  der Ludwig Boltzmann Gesellschaft ins Leben gerufen und beschäftigt derzeit ein  internationales Team von zehn Mitarbei-terInnen, das in den kommenden sieben  Jahren ein neues Zentrum der Biographieforschung in Österreich bilden wird. Die  feierliche Eröffnung fand am 20. Oktober dieses Jahres in der Nationalbibliothek  bei regem Besucherandrang statt.
 
 Turnunterricht auf dem Dach der  Schwarzwaldschule
In den zwei großen Forschungszweigen des  Instituts, der Theorie und der Geschichte der Biographie, werden nicht nur neue  methodische Ansätze in der Biographik sowie gattungstheoretische Aspekte zur  Biographie erarbeitet, sondern auch an Hand von vier ausgewählten Beispielen  konkrete Biographieforschung am Objekt betrieben. Zu den hier ausgewählten  Persönlichkeiten der österreichischen Literatur und Gesellschaft der Moderne  zählen Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard, Ernst Jandl und Eugenie  Schwarzwald. Daneben sind auch Symposien zu den unterschiedlichsten  Themengebieten der Biographieforschung in Planung, so z. B. im April 2006 zum  Thema »Spiegel oder Maske? Konstruktion biographischer Wahrheit«, in dem man u.  a. der Widersprüchlichkeit zwischen subjektiver Wahrheit und Fiktionalität in  der Biographie nachspüren wird. Weiters sind bereits jetzt mehrere Ausstellungen  in Planung (in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Wien), so etwa eine im  Jahr 2009 zu Hugo von Hofmannsthal und eine darauf folgende über Jüdische  Schriftstellerinnen. Gleichfalls geplant sind Vortragsreihen zu  forschungsrelevanten Themen wie »Biographie und Religion«, in der der Frage  nachgegangen wird, »welche Funktion Lebensmodelle von Religionsgründern und  charismatischen religiösen Figuren für das Selbstverständnis von Weltreligionen  haben«.
 
 Das neue Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft tritt in Kooperation mit der  Österreichischen Nationalbibliothek, dem Institut für Germanistik der  Universität Wien, dem Jüdischen Museum Wien und der Thomas Bernhard  Privatstiftung auf. Die Ausrichtung des Instituts ist interdisziplinär und  siedelt sich im Spannungsfeld zwischen Literaturwissenschaften, Zeitgeschichte  und Kulturwissenschaften an, mit dem erklärten Ziel die Biographie endlich in  den Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Diskussion zu rücken. Anders als im  englischsprachigen Raum, in dem die Biographik nicht mehr vom  Wissenschaftsbetrieb ausgeklammert wird, fehlt eine derartige Auseinandersetzung  im deutschsprachigen Raum bis heute. Dem neuen Institut und seinen  MitarbeiterInnen sei bei ihrer Erarbeitung eines aktuellen und spannenden  Forschungsfeldes viel Erfolg und vor allem die Aufmerksamkeit gewünscht, welche  der Biographieforschung im deutschsprachigen Raum längst hätte zukommen sollen.
Nähere Informationen finden Sie auf der Homepage des »Institus für Theorie und  Geschichte der Biographie«: http://gtb.lbg.ac.at 
 Fotonachweis: Reimund von Hofmannsthal, 
 Matthias Creutziger, Stadtarchiv der Stadt Wien