Am Anfang der Geschichte steht ein Aufstand. Von 167 - 164 v. d. Z. rebellierten die sogenannten Makkabäer (der Priester Mattathias und seine Söhne Jochanan, Juda, Simon, Eleazar und Jonathan) erfolgreich gegen die Seleukiden-Dynastie aus Syrien, die unter ihrem König Antiochus IV. Epiphanes versucht hatten, das Judentum zu „hellenisieren“. Der Kampf endete mit der Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels, der von den Seleukiden Zeus geweiht worden war. Diese spannende Geschichte, die in den „Makkabäer-Büchern“ erzählt wird, findet sich allerdings nicht im jüdischen Tanach, sondern nur in der griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta und in der katholischen Ausgabe des sogenannten „Alten Testamentes.“ Im Talmud wird vor allem das allseits bekannte Chanukka-Wunder über den einzigen Krug reinen Öls berichtet, der statt einem Tag ganze acht Tage lang brannte (Traktat Schabat 21b). Jahrhunderte lang fristete Chanukka eher ein Nischendasein im jüdischen Festtagskalender. Es werden zwar acht Tage lang die Chanukka-Lichter entzündet, aber sonst hat das Fest keinerlei Einwirkungen auf das Alltags-Leben.
Im 19. Jahrhundert wurde Chanukka von zwei völlig verschiedenen jüdischen Strömungen geradezu „wiederbelebt.“ Der Sieg des traditionellen Judentums gegenüber dem assimilierten hellenisierten Judentum wurde im Zionismus zu einem Symbol nationaler Befreiung.
Theodor Herzl (1860-1904) schrieb am Ende seines „Judenstaats“:
„Darum glaube ich, dass ein Geschlecht wunderbarer Juden aus der Erde wachsen wird. Die Makkabäer werden wieder aufstehen.“ (Theodor Herzl, „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, Altneuland / Der Judenstaat, Königstein / Taunus 1985, S.250)
So wurde in zionistischen Gruppen Chanukka zum „Chag ha-Makkabim“ (Fest der Makkabäer) oder „Chag ha-Chaschmonaim“ (Fest der Hasmonäer) umgewandelt. Martin Buber (1878-1965) politisierte Chanukka 1914 in seiner Rede „Die Tempelweihe“ sogar so weit, indem er den 1. Weltkrieg mit dem Krieg der Makkabäer verglich. In dieser Rede, die er bei einer zionistischen Chanukka-Feier gehalten hatte, bezeichnete Buber die Teilnahme am Weltkrieg als eine befreiende national-jüdische Erfahrung. Diese Rede rief bei Zeitgenossen und Freunden wie Gustav Landauer (1870-1919) oder Gershom Scholem (1897-1982) tiefes Entsetzen hervor.
„Wegen der geringeren Bedeutung des Feiertages war seine Umdeutung leichter als die eines der großen religiösen Feste. Die Makkabäer boten sich geradezu an für die Schaffung einer heroischen nationalen Tradition. Das göttliche Wunder des Lichts als zentrales Element der Chanukka-Geschichte trat in den Hintergrund, dagegen betonte die zionistische Lesart das Vorbild für Aufstand und Selbstbefreiung, den Kampf der Nationalisten gegen Assimilation und das großartige Ziel: eine unabhängige jüdische Nation.“ (Michael S. Friedlander, Makkabai – Das Branding eines jüdischen Helden, in: Weihnukka, Geschichten von Weihnachten und Chanukka, Berlin 2005, S.61)
Nachdem allerdings später in Israel der nationale Feiertag „Jom Ha-Atzmaut“ geschaffen wurde, verlor Chanukka seinen nationalen Charakter und die Basketballspieler des „Makkabi Tel Aviv“ sind die Helden von heute.
Die Umdeutung des Chanukkafestes war für viele junge Zionisten natürlich auch eine Rebellion gegen ihre Eltern – falls sie aus den Kreisen des assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums kamen. Dort war nämlich seit Ende des 19. Jahrhunderts Chanukka immer stärker aufgeweicht und mit dem christlichen Weihnachten auf witzig bis absurde Weise vereinigt worden, ironisch „Weihnukka“ genannt. Eine andere Variante war es, gleich Weihnachten als „deutsches Volksfest“ zu begehen.
„Chanukka…wurde von der Zionistischen Bewegung erst richtig hochgespielt – als seien die Makkabäer zionistische Pioniere gewesen. Am Weihnachtsabend fand damals zugunsten der vielen ledigen jungen Männer und Mädchen, die die Weihnachtsfeiern ihrer Eltern nicht mitmachen wollten, der große Makkabäerball statt, eine sonderbare Erfindung, gegen die die Makkabäer wie gegen so manches, was später in ihrem Namen praktiziert wurde, wohl einiges zu sagen gehabt hätten.“ (Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1994, S.32)
Zahlreiche Zeugnisse aus den 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts bezeugen, wie jüdische Familien Weihnachten als völlig säkulares Winterfest begingen. Fanny Arnstein (1757-1818) aus Berlin war es gewesen, die 1814 den ersten Weihnachtsbaum in Wien aufgestellt hatte:
„Bei Arnsteins war vorgestern nach Berliner Sitte ein sehr zahlreiches Weihbaum- oder Christbaumfest. Es waren dort Staatskanzler Hardenberg, die Staatsräte Jordan und Hoffmann, Fürst Radziwill, Herr Bartholdy, alle Anverwandten des Hauses. Alle gebetenen, eingeladenen Personen erhielten Geschenke oder Souvenirs vom Christbaum. Es wurden nach Berliner Sitte komische Lieder gesungen…Fürst Hardenberg amüsierte sich unendlich.“ (Hilde Spiel, Fanny von Arnstein, Frankfurt a. M. 1962, S.434)
In den assimilierten jüdischen Familien spielten dagegen jüdische Feiertage kaum noch eine Rolle. Die Familie von Gershom Scholem war so ein Musterbeispiel des deutsch-assimilierten Judentums Berliner Couleur, gegen das er als „radikaler Zionist“ schon früh heftig rebellierte. Hier fand man die jüdische Tradition nur noch in Bruchstücken.
„So kam ich etwa auf sonderbare Weise zu dem Bild Theodor Herzls…In unserer Familie wurde schon seit den Tagen der Großeltern, in denen dies Durcheinander einsetzte, Weihnachten gefeiert, mit Hasen- oder Gänsebraten, behangenem Weihnachtsbaum…und der großen ‚Bescherung’ für Dienstboten, Verwandte und Freunde. Es wurde behauptet, dies sei ein deutsches Volksfest, das wir nicht als Juden, sondern als Deutsche mitfeiern. Eine Tante, die Klavier spielte, produzierte für die Köchin und das Zimmermädchen ‚Stille Nacht, heilige Nacht’, und nicht nur diese, sondern auch einige der Geladenen sangen die herzergreifende Melodie. Als Kind ging mir das ein, aber 1911…nahm ich das letztemal an diesem Fest teil. Unter dem Weihnachtsbaum stand das Herzl-Bild in schwarzem Rahmen. Meine Mutter sagte: weil du dich so für Zionismus interessierst, haben wir dir das Bild ausgesucht. Von da an ging ich Weihnachten aus dem Haus.“ (Gershom Scholem, Von Berlin…, S.32)
Die abweisende Haltung zur jüdischen Tradition war für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg kein besonderer Einzelfall gewesen. So schrieb Ernst Simon:
„In meinem wohlhabenden, gebildeten, musikfreudigen Elternhaus hatte ich vom Judentum nichts gehört, gesehen oder erlebt: kein Wort hebräisch, kein Fest (außer Weihnachten!), keine Synagoge, keine Barmizwa. Aber Vater war scharf gegen die Taufe: ‚Ein anständiger Mensch verlässt keine belagerte Festung wegen eines Vorteils.’ Am Anfang meines jüdischen Nationalbewußtseins stand der Trotz.“ (Ernst Simon, Mein Judentum, in: Ernst Simon, Entscheidung zum Judentum. Essays und Vorträge, Frankfurt a. M. 1980, S. 13-14.)
Und Schalom Ben-Chorin (1913-1999) erinnerte sich:
„In meinem Elternhause pflegte man Weihnachten ähnlich zu begehen wie die Nachbarn (...). Viele deutsche Juden hatten diese Gewohnheit angenommen, und schon im Hause (...) meines Großvaters (...) strahlte ein Weihnachtsbaum, (...) Wohl aber spürte ich zutiefst, dass wir kein Recht hatten, ein Fest der Christen zu begehen und gleichzeitig an unserem Judentum festzuhalten. Es war eine schmerzliche Erkenntnis, denn ich liebte dieses Fest mit allen Sinnen.“ (Schalom Ben-Chorin, Jugend an der Isar, München 1980, S.15)
Und wiederum Scholem schrieb über Walter Benjamins (1892-1940) Familie:
„Dort stand ein großer Weihnachtsbaum, wie das in vielen liberalen jüdischen Familien üblich war. Ich kannte das aus meiner Kindheit und beschwerte mich bei Benjamin über das, was ich als offenkundige Geschmacklosigkeit des Milieus, aus dem wir stammten, empfand. Ich hörte von ihm dieselbe Erklärung, mit der auch mein Vater, als ich ihn darob attackierte, mich abgespeist hatte. Benjamin erzählte, dass schon seine Großeltern Weihnachten als ‚deutsches Volksfest’ gefeiert hätten.“ (Gershom Scholem, Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 1991, S.49)
Statt Weihnachten und Chanukka mehr oder weniger geschickt zu verschmelzen, gibt es natürlich auch die zeitlose Tendenz, das ganze „Dezember-Dilemma“ in Witz und Sarkasmus aufzulösen. Sammy Gronemann erzählte von einem jüdischen Mädchen, das erstaunt ausrief: „Mutti, die Christen haben auch einen Weihnachtsbaum.“ Eine Karikatur in der Zeitschrift „Schlemiel“ (Nr. 1, 1904) zeigte unter dem Stichwort „Darwinistisches“, wie sich der „Chanukaleuchter des Ziegenfellhändlers Cohn in Pinne zum Christbaum des Kommerzienrates Conrad in der Tiergartenstraße entwickelte.“
Wie sehr das säkularisierte Weihnachtsfest für Verwirrung sorgte, zeigt auch der Besuch des Wiener Oberrabbiners Moritz Güdemann (1835-1918) am Weihnachtsabend 1895 bei Theodor Herzl. Herzl feierte ebenso Weihnachten als Volksfest. Güdemann, der Weihnachten als das Geburtstagsfest von Jesus betrachtete, war erstaunt über den großen Weihnachtsbaum.
„Eben zündete ich meinen Kindern den Weihnachtsbaum an, als Güdemann kam. Er schien durch den ‚christlichen Brauch’ verstimmt. Na, drücken lasse ich mich nicht! Na, meinetwegen soll’s der Channukabaum heißen – oder die Sonnenwende des Winter?“ (Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Band 2, Berlin 1983, S.288)
Im deutsch-jüdischen Bürgertum jener Zeit finden wir auch Erscheinungen und Vermischungen, von denen man glauben könnte, dass sie erst Produkte des amerikanischen Judentums unserer Tage seien:
„Als ich in den Kriegsjahren einmal Chanukka zu meinem Onkel kam und die Töchter fragte, woher sie denn all die schönen Geschenke bekommen hätten, sagten sie: das hat uns der liebe Chanukkamann gebracht.“ (Gershom Scholem, Von Berlin…, S.32)
In den USA wurden solche Ideen übernommen – aus „Weihnukka“ wurde „Christmukka“.
„Die eher oberflächliche Beziehung zu den theologischen Inhalten ist für die meisten der heute lebenden Juden vergleichbar mit der globalen Einstellung der Christen zum Weihnachtsfest. Auch aufgrund demographischer Entwicklungen wird eine religionsübergreifende Form des Feierns gesucht. Von den über fünf Millionen Juden in den USA, der größten jüdischen Gemeinschaft in der Welt, sind fast die Hälfte mit nichtjüdischen Partnern verheiratet, ein Phänomen, das außerhalb Israels in allen jüdischen Gemeinschaften zu beobachten ist.“ (Cilly Kugelmann, O chanukka, o Chanukka! Eine historische Verortung des Chanukka-Dilemmas, in: Weihnukka, Geschichten von Weihnachten und Chanukka, Berlin 2005, S.14)
In den USA wurde Chanukka vor allem durch eine wahre Produktschwemme zunehmend kommerzialisiert und klassische Elemente wie Weihnachtsbaum und Christbaumschmuck nicht nur übernommen, sondern auch „judaisiert“. Davon zeugen Süßigkeiten wie „Maccabeans“-Geleebohnen, die 46 cm große Stoffpuppe des Juda Makkabi und „Chanukka-Kalender“ an Stellle von Adventskalendern. Dort kann man statt der 24 nur 8 Tage öffnen, hinter denen die Geschichte der Makkabäer in Fortsetzungen erzählt wird – Schokolade inbegriffen. Aus dem Weihnachtsbaum wird der „Chanukka-Busch“, der dementsprechend mit Davidsternen und Kugeln mit jüdischen Motiven wie Menorot geschmückt wird.
Was wundert es dann noch einen, wenn eines der berühmtesten amerikanischen Weihnachtslieder, „White Christmas“, von Irving Berlin (1888-1989), einem Kantorensohn, geschrieben wurde