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Der eingebildete Jude und der ausgeblendete Jude

Felice Naomi WONNENBERG

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Im Sommer 2002 wurde im deutschen Potzlow der 16-jährige Marinus Schöberl von drei jungen Männern ermordet. Der Fall dieses besonders grausamen Mordes ging nach Auffindung der Leiche vier Monate später durch die Weltpresse. Seine Reflexion im Spiegel filmischer Vor- und Nachbilder auf Grundlage der kulturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung soll hier beleuchtet werden.

Antisemitischer Mord an einem Nicht-Juden

Obwohl die Täter ihr Opfer kannten und wussten, dass es nicht jüdisch war, zwangen sie den Burschen unter Misshandlungen und Schlägen, „zuzugeben", dass er Jude sei und ermordeten ihn sodann. Die Täter, die dem rechtsextremen Millieu entstammen, „konstruierten" sich also einen künstlichen „Juden", der als Opfer herhalten musste, um sie ihre fatalen antisemitischen Aggressionen ausleben zu lassen. Die Durchführung der Mordtat war, wie in den Gerichtsakten und im Gutachten des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin festgestellt wird, „Imitation" einer Gewalttat, die ein Neonazi im US-amerikanischen Film American History X begeht. Der Film war zwei Wochen vor der Tat im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden.

Heute, 2009, liegen in der intellektuellen Aufarbeitung nicht nur aufschlussreiche soziologische Forschungen zu dem erschütternden Mordfall von Potzlow vor, sondern auch zwei Filme von Andres Veiel (Der Kick, 2006) und Tamara Milosevic (Zur falschen Zeit am falschen Ort, 2005) über den Fall. Beide Filme erhielten renommierte deutsche Filmpreise. In diesem Kontext ist wichtig anzumerken, dass die kulturwissenschaftlichen Forschungen zeigen, dass es sich bei Potzlow leider nicht um einen „perversen Einzelfall" handelt, sondern dass sich dieser Mord auf der Matrix antisemitischen Denkens analysieren lässt und Antisemitismus im Zentrum des Tatmotivs steht.1

Konstruktion und Dekonstruktion eines „Juden"

Der Mordfall kann in einem Dreieck von medialer Impulsgebung und medialer Rezeption betrachtet werden. Auffälllig ist dabei, dass in beiden preisgekrönten Filmen die antisemitische Tat nicht als solche thematisiert und weitgehend aus dem Blickfeld entfernt wird. John Rosenthal, Historiker an der Stanford Universität schreibt dazu, dieser Mordfall sei in auffallender Weise nicht als antisemitisch eingeschätzt worden: „Der Mord an M. Schöberl wurde (in den Statistiken der deutschen Behörden) nicht als ein solcher (antisemitischer) klassifiziert".2 So steht das reale Opfer im zweifachen Zerrspiegel der cinematografischen Werke: Einerseits wurde von realen Neonazis künstlich ein Jude imaginiert, denn um ihren tödlich-aggressiven Antisemitismus auszuleben, fehlte den Potzlower Tätern „der Jude". Also musste „ein Jude konstruiert" werden. In der Rezeption der beiden intellektuellen Filmemacher wurde das zentrale Motiv des Mordens, der Hass gegen „den Juden" dann in ebenso frappierender Weise systematisch künstlich „dekonstruiert".

Die beiden je 90-minütigen Filme gehen auf das Haupt-Mordmotiv beinahe gar nicht ein. In Milosevic‘ Film kommt das Wort Jude nicht vor (!!!).3 In Veiels Film wird zwar ein Auszug aus den Gerichtsakten verlesen, in dem der Staatsanwalt feststellt, dass Marinus Schöberl „sein eigenes Todesurteil unterschrieb"4, als er unter Folter genötigt sagte, er sei Jude, aber diese alamierende Gerichtsnotiz wird im Film nicht weiter besprochen. Nur in einen 40-minütigen Interview mit Veiel, das als Zusatzmaterial auf der DVD-Version seines Filmes Der Kick mitgeliefert wird, sagt Veiel, und auch nur, als er explizit danach gefragt wird, welche Bedeutung der Begriff Jude im Kontext des Mordgeschehens habe, es handle sich um „ein allgemeines Schimpfwort [...] losgelöst vom historischen Kontext", Andres Veiel berichtet weiter, er habe mit einem der beiden Haupttäter, Marco Schönfeld, zum Zeitpunkt der Tat schon seit Jahren Neonazi, „nicht persönlich gesprochen". Eine an sich schon erstaunliche Tatsache, da Veiel jahrelange Recherchen vor Ort für den Film betrieben hat! Veiel vermutet im Interview, dass Marco S. „weiss, dass er (mit der Verwendung des Begriffes Jude) in eine Tabuzone reintritt und dass er damit natürlich auch spielt". Diese Formulierung ist in ihrer Wortwahl symptomatisch für das Verleugnen des antisemitischen Charakters der Mordtat. Hier wird intellektuell ganz „natürlich" etwas „überspielt", nämlich das Motiv eines Handlungsmusters zum „Spiel" erklärt: Ein Spiel, das stundenlange Misshandlungen an Marinus sowie Folterszenen einleitet, in denen Marinus das falsche „Geständnis" abgepresst wird, und das auf einen antisemitisch motivierten Mord hinzielt.

Der reale und der imaginierte Jude

Die Tatsache, dass Marinus de facto nicht jüdisch und dies den Tätern sehr wohl bewusst war, scheint, naiv betrachtet, absurd, ist im Rahmen der tödlichen Logik des Antisemitismus aber erklärbar und wurde von der Antisemitismusforschung analysiert. Dort wird gezeigt, dass Antisemitismus nicht etwa von Begegnungen mit Juden ausgelöst wird, sondern ganz im Gegenteil in Gesellschaften mit besonders niedrigem jüdischen Bevölkerungsanteil frei imaginiert und entwickelt werden kann, in der Konsequenz dann aber, wie der Fall Potzlow zeigt, ein jüdisches Opfer fordert. Christina von Braun, Professorin für Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin schreibt dazu unter dem Kapitel Der reale und der imaginäre Jude: „Je fiktiver das Feindbild war, desto mehr schien es für den Antisemiten an Glaubwürdigkeit zuzunehmen". Von Braun verweist in diesem Kontext auf den Antisemiten

„Theodor Fritsch [...] der in seiner Schrift „Ursprung und Wesen des Judentums" [behauptete,] dass Shakespeares Figur des Shylock ein „echterer" Jude sei als Lessings „Nathan der Weise". Shakespeare hat mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nie einen Juden gesehen, da Juden zu seinen Lebzeiten in England kein Niederlassungsrecht besassen. Lessings Nathan hingegen war einer realen Person, nämlich der des Philosophen Moses Mendelssohn, nachgebildet".5

Nach diesen Ausführungen wird auch verständlich, warum ein Nicht-Jude de facto als Projektionsfläche für antisemitische Aggression benutzt werden konnte. Ein weiteres Beispiel für einen antisemitischen Mord an einem Nicht-Juden, weil er angeblich „Jude" sei, kommt im Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber von Peter Greenaway (1989) vor. Auch hier wird gezeigt, wie irrelevant die Realität für den antisemitischen Aggressor ist. Das Opfer sagt ganz klar: „Ich bin keine Jude", was auch den Tatsachen entspricht. Der Mörder ignoriert die Klarstellung und sagt: „Du kannst es ruhig zugeben."6

Der „verweiblichte" Mann wird als der „effeminierte Jude" imaginiert

Die für den aussenstehenden Betrachter unlogisch erscheinenden „Merkmale des Jüdischen", wie sie die Potzlower Täter an ihrem Opfer festzustellen glaubten, haben innerhalb der antisemitischen Theorien ihre eigene Logik.

Wie schon in den Schriften Ottos Weiningers und in den Forschungsarbeiten Nicolas Sombarts deutlich wird, war das Feindbild des deutschen Chauvinisten der sogenannte effeminierte, der „verweiblichte" jüdische Mann.7 Auch die Schrift des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung zum Fall Potzlow8 stellt fest:

„Für den Mord an Schöberl ist insbesondere die Aggression gegen „Unmännlichkeit" von Bedeutung."9

„Im Wesentlichen betrifft dies kulturgeschichtlich tradierte Stereotypen, die Weiblichkeit mit Schwäche, mit Passivität und Sensitivität und mit Emotionalität, insbesondere mit Angst, Traurigkeit und Peinlichkeit, also depressiven Gefühlsqualitäten, gleichsetzten [...]. Die Aggressivität [richtet sich] gegen diejenigen, die Unmännlichkeit verkörpern. „Weiblichkeit" ist hier nicht als Synonym für „Frauen" misszuverstehen, die Träger von Merkmalen, die aus der Perspektive der Männlichkeit als unmännlich gelten, sind überwiegend Männer."10

Wie in diesem Fall Marinus Schöberl und seine Freunde.
Bemerkenswert ist in diesem Kontext eine Aussage, die der Vater des besten Freundes von Marinus und Leiter einer inoffiziellen Jugendgruppe des Ortes in Milosevic' Film macht. Er kritisiert in seiner Interview-Aussage nicht nur das „unmännliche Verhalten" seines eigenen Sohnes, dessen tiefes Trauma über den Mord an seinem Freund er nicht akzeptieren kann, und dessen Trauerverhalten der Vater als „verstockt" abtut, ja, ihm sogar unterstellt, er nehme die Tat als Vorwand dafür, faul zu sein: „Er ruht sich darauf aus", und er „hockt mit 16 Jahren immer noch zu Hause herum"11. Hier kritisiert der Vater die oben als stereotyp weiblich beschriebenen Gefühlsqualitäten. Dieser Vater sagt über den Ermordeten:

„Der Marinus war ein ängstlicher Junge, nur Mitläufer, nur Mitläufer [zwei Mal im Originalinterview], [...] er hat mit sich machen lassen, was die anderen wollten [...], der hätte normaler Weise in ´ne Sonderschule gehört, aber nicht so in die Gesellschaft."

Mit dieser Aussage beschuldigt er das Opfer, anstatt die Schuld bei den Tätern zu suchen, indem er den vom Gebrauch im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus stark eingefärbten Begriff des „Mitläufers" nicht wie gewöhnlich auf einen (Mit-)schuldigen, sondern im Gegenteil auf das Opfer anwendet. Sein Urteil über das Opfer (!) Marinus gibt er im Anschluss daran ab: Dieser, das Opfer, hätte aus der Gesellschaft verwiesen gehört. Hier sieht man eine Verurteilung der klassisch als „weiblich", „effeminiert", wahrgenommenen Verhaltensweisen von Trauer, Passivität und Unterordnung. Daniel Boyarin, Professor für Talmudische Kultur an der Universität Berkeley, schreibt zu diesem Thema in seinem Buch über Heterosexualität und die Erfindung des jüdischen Mannes: „Der jüdische Mann in Europa war eine Art „Frau" [...] mit einem Verhaltensmuster, [...] das als unmännlich in einer gegebenen historischen Kultur" interpretiert wurde.12 So wurde also der jüdische Mann gesehen, oder, wie in Potzlow, im Umkehrschluss jemand „zum Juden gemacht", weil er anscheinend diese Gefühlsqualitäten aufwies.

American History X - Aufklärungsfilm gegen Neonazismus oder Inspiration für nazistischen Mord?

Ein weiterer wichtiger Punkt in der Reflexion des Falles Potzlow ist das mediale Dreieck der Wechselwirkungen zwischen dem Film American History X, dem realen Mord und der Rezeption des Mordfalles in den beiden deutschen Filmen von Veiel und Milosevic. Interessant ist die Funktion des Vor-Bildes des Filmes American History X, oder, genauer gesagt, der Mordszene in diesem Film.

Im Forschungsbericht der TU Berlin heisst es dazu:

„Die Tötung war - so unsere These - das Ergebnis eines spezifischen Zusammenwirkens verschiedener selbständiger Kräfte. Hierzu gehören insbesondere das Ausagieren einer situationsabhängigen Aktionsmacht, die Abwertung des Opfers als „unmännlich" sowie seine Depersonalisierung, die im Kontext rechtsextremer Kommunikation über die Titulierung als „Jude" vollzogen wurde. Zur Tötung selbst kam es schliesslich, nachdem der Haupttäter ein - auch filmisch verbreitetes - Handlungsschema als konkretes Vorbild gewählt und die Selbstkontrolle verloren hatte."

Sowohl John Rosenthal als auch die Autoren des Zentrums für Antisemitismusforschung sehen berechtigterweise die negative Auswirkung des Filmes „American History X" auf die jungen Männer:

 „Es ist [...] für etliche Fälle dokumentiert, dass einige Filmzuschauer - wie dies die sog. Suggestionsthese formuliert - im Anschluss an ihren Bilderkonsum versuchen, einzelne Szenen möglichst direkt nachzuahmen. Die Bedeutung der visuellen Darstellung des Bordsteinkicks für die Ermordung von Marinus Schöberl bekräftigt die medientheoretisch unstrittige [...] Einsicht in die Autonomie der Rezeption."13

 

Ein „Bordsteinkick" ist eine besonders gewalttätige Handlung, bei der das Opfer gezwungen wird, den geöffneten Mund auf eine Steinkante zu legen. Dann springt der Täter auf den Hinterkopf. Dabei werden dem Opfer, wie auch die Gerichtsmediziner im Fall Potzlow feststellten, schwerste Verletzungen beigebracht. Diese Mordmethode kann praktisch von jeden Tatwilligen ohne weitere Vorbereitung nachgeahmt werden.

Doch wie kommt es, dass ein Film wie American History X, der oberflächlich vorgibt, eine Geschichte zu erzählen, in der ein Neonazi sich wandelt und bessert, als Vorbild für einen real verübten antisemitischen Mord dienen kann? Zu diesen Vor-Bildern, den Mordfällen im Film, die besonders junge Menschen dazu inspirieren, tatsächlich jemanden vom Leben zum Tode zu bringen, schreibt Thomas Bronisch, Facharzt für Psychiatrie am Max-Planck-Institut, es handle sich hier um den sogenannten Werther-Effekt (so benannt nach dem berühmten Roman von Johann Wolfgang von Goethe) der

„durch eine Reihe empirischer Studien nachgewiesen wurde. Die Ausstrahlung der Serie [...] mit dem Titel „Tod eines Schülers" [...] hatte [...] einen erheblichen Anstieg der mit gleicher Methode durchgeführten Suizide in der Zeitspanne der Sendung und unmittelbar danach zur Folge [...]. Dabei handelt es sich nicht um vorgezogene Suizide disponierter Personen, sondern um einen echten Häufigkeitsanstieg von Suiziden."14

Lehrer und Erzieher, die - wie von verschiedenen offiziellen Stellen geraten - den Film Amerikan History X als Aufklärungsfilm im Unterricht einsetzen, laufen also Gefahr, in „bester Absicht den Weg zur Hölle zu pflastern". Von den medientechnisch oft nicht speziell geschulten Lehrern darf man voraussetzen, dass sie sich dieser ihrer Intention so gegenläufigen Auswirkungen überhaupt nicht bewusst sind. Seitens der Filmemacher, die sich mit kinematografischen Effekten und deren Wirkungen ja professionell beschäftigen, ist eine solche Naivität höchst unglaubwürdig. Bei einer kritischen Betrachtung des Filmes American History X werden diese Wirkungsmechanismen deutlich.

Die Protagonisten des Filmes, das heisst, die Personen, zu denen der Filmrezipient eine engere emotionale Verbindung aufbauen kann, sind in diesem Film durchwegs Neonazis, und nicht deren Opfer (in diesem Fall ersetzten Afro-Amerikaner „den Juden"). Im Gegenteil, die eigentlichen Opfer werden dem Zuschauer als Einbrecher, Diebe und als im sportlichen Wettkampf foulende Figuren vorgeführt. Insoferne ist es auch nicht verwunderlich, wenn der unkritische jugendliche Betrachter dieses Filmes keine Empathie für die Opfer der Neonazis aufbringen kann.

Die zentrale Szene des „Bordsteinkick"-Mordes wird ausserdem in einen Kontext eingebettet, in dem das Opfer - Täter Schema umgedreht ist. Der Neonazi wird nachts im Haus in seinem Bett gezeigt, als die afro-amerikanischen Diebe versuchen, das Auto aus der Einfahrt des Hauses zu stehlen. Die emotionale, unterbewusste Botschaft, die an den Rezipienten gesendet wird, ist also: Die Neonazis sind unschuldig, die späteren Opfer die Aggressoren. Der Neonazi „verteidigt hier nur" sein Haus, die Schutzzone seiner Familie, die verängstigt an seine Hilfe appelliert, inklusive der weinenden kleinen Schwester, eines Kleinkindes, das herzzerreissend „Help!" schluchzt.

Ausserdem werden im Film American History X

„die konkreten Folgen für das Opfer nicht dargestellt. Ins Bild gesetzt wird allein der Täter und der Akt der Ausführung des Bordsteinkicks selbst. Das Fehlen der Folgen bedeutet, die Täteraktivität stärker herauszustellen".15

Wie im Denken von Kleinkindern werden also die Folgen einer aggressiven Tat für das Opfer weder vorgestellt noch vorgeführt. Da Kameraführung und Drehbuch sich auf den Täter konzentrieren, kann an dieser Stelle des Filmes Empathie für das Opfer logischerweise nicht entstehen, denn der emotionale Fokus wird auf die Bewunderung der Omnipotenz des Täters abgelenkt. Empathie für das Opfer sucht der Film auch gar nicht; das wird auch in der Kamera- und Lichtinszenierung des Filmes sehr deutlich. Der Regisseur, Tony Kaye, ist gleichzeitig fotografischer Direktor des Films, und er beherrscht sein Fach perfekt. So sehen wir das verletzte Opfer gar nicht nach dem „Kick". Der „Kick", das Machtgefühl, das der „Bordsteinkick" dem Neonazi verleiht, wird hingegen überdeutlich in Szene gesetzt. Mit untersichtiger Kameraeinstellung fotografiert, die die Person gross und mächtig erscheinen lässt, und in schwarz-weisser Hochglanz Edel-Ästhetik in Szene gesetzt, breitet der Schauspieler seine muskulösen engelhaft weissen Arme aus. Scheinbar von Polizeischeinwerfern beleuchtet, de facto jedoch höchst effektiv filmisch in Szene gesetzt, wird er strahlend weiss gegen die schwarze Strassenszene beleuchtet. Eine Pose wie die monumentale Jesus Statue über Rio de Janeiro - ein strahlender Held steht in schwarzen Nacht alleine für die Verteidigung seiner Familie ein, und er lächelt seinem jüngeren Bruder siegessicher und selbstzufrieden zu. Unterlegt ist die Szene mit monumentaler Filmmusik, in der Choräle, überirdisch-verzückt klingende pseudo-religiöse Hymnen dem rechtsradikalen „Helden" - unterbewusst wirkend - sehr effektvoll zujubeln.

„Die Täter werden als machtvolle Subjekte präsentiert, als Beherrscher der Szene. Dies erleichtert eine positive Rezeption solcher Szenen im Sinne eigener Machtwünsche und Omnipotenzphantasien. Darstellungen brutaler Gewaltakte, die deren Folgen für die Opfer übergehen, stellen Superakteure mit einer unendlichen Macht und ausseralltäglichen Wirkungsmöglichkeiten dar".16

Das strahlt eine grössere Faszination auf den jugendlichen Zuschauer aus als die langweiligen politischen Diskussionen, die scheinheilig in den Film eingebaut sind. Ganz ihm Gegenteil, diese politischen Diskussionen beim Abendbrottisch der amerikanischen Familie kann man sogar als Arsenal von Argumenten rechtsradikaler Einstellungen benutzen. Sie stehen visuell den Szenen der rechtsradikalen Gewaltdemonstrationen in Attraktivität nach, sind nicht in der Edelästhetik des Hochglanz-Schwarz-Weiss gedreht und von der Figuren- und Lichtkomposition her nicht heroisch inszeniert, sondern wie in einer gewöhnlichen Familien-Vorabend-TV-Serie achtlos abgefilmt. Emotionalität kann der Rezipient nach allen Gesetzen des Filmhandwerkes nur in den Gewalt verherrlichenden Szenen der Neonazi-„Aktionen" aufbauen.

Das Drehbuch sorgt dafür, dass die Täter als Opfer empfunden werden, wie mithilfe des Überfalles auf den schlafenden Neonazi. Auch das Ende des Films folgt dieser Logik: Ein „geläuterter" jugendlicher Neonazi wird von afro-amerikanischen Mitschülern auf der Schultoilette hinterrücks erschossen. Eine besonders perfide Spitzfindigkeit: durch die Wahl des Tatortes kann sich der Filmfotograf eines der ikonografischen Hauptelemente des Holocaust aneignen: Die gekachelten Toilettenwände kommen den „Dusch"räumen von Auschwitz visuell sehr nahe. Als der junge Neonazi angeschossen zu Boder sinkt, wirkt seine Kleidung, ein weites dunkles Hemd, wie eine Gefangenenuniform. Auch der Modus des Schwarz-Weiss- Bildes, das in unserem kollektiven Unterbewusstsein so eng mit den Auschwitz-Bildern verknüpft ist, tut seine Wirkung, und der in sich zusammensinkende Schauspieler imitiert jene Pose, die sich aus den KZ-Fotografien in unser Unterbewusstsein eingeprägt hat. Dass der Neonazi kahl geschoren ist, unterstützt die Ästhtik dieses aus dem entgegengesetzen Kontext genommenen Bildes. „Migration von ikonischen Bildern des Holocaust" nennt der Medienwissenschaftler Tobias Ebbrecht das in seinen Forschungsarbeiten an der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. In diesem Film werden solche Techniken professionell angewendet. Sie verkehren damit visuell die Bewertung historischer Verbrechen der Nazis, der Rassisten und der Neonazis in ihr Gegenteil und bringen die unkritischen Rezipienten zu einer unterbewusst bewundernden emotionalen Grundhaltung gegenüber den Neonazi-Protagonisten. Auch in Potzlow hat man sich von diesen Vor-Bildern inspirieren lassen, sich mit Gewalthandlungen den „Kick" verschafft und den falschen Helden nachgeeifert.n

1 Vgl. zur Relevanz der Tat als Einzelfall oder im gesamtdeutschen Bild John Rosenthal: „Germany, in any case, is rarely mentioned in this context. This is odd, since although the murder of Marinus Schöberl was notable for the baroqueness of the cruelty involved, it was by no means an isolated incident with respect to the anti-Jewish motives involved. The number of anti-Jewish incidents officially reported in Germany is in fact greater than the number of those reported in France. According to statistics published by the French Consultative Commission on Human Rights (CNCDH), there were 924 anti-Jewish incidents reported to the French police in 2002. This figure comprises both acts of violence committed against persons or property (193) and "threats and acts of intimidation" (including under this latter heading, for example, the desecration of Jewish monuments with anti-Semitic graffiti). For the same year and covering roughly the same array of crimes, the German Ministry of the Interior records some 1.594 reported incidents. It is true that Germany has not experienced the sort of marked upsurge in anti-Jewish crime in recent years that has been recorded in France, but this is only because the German incidents, as will be seen below, form part of a much longer-term trend dating back to around the time of German reunification"; vgl. John Rosenthal: Anti-Semitism and Ethnicity in Europe. In: Policy Review, Stanford University, Nr. 121 (2003), http://www.hoover.org/publications/policyreview/3446931.html

2  "Indeed, it should be noted here that the German authorities seem often to prefer not to classify particularly brutal attacks as anti-Semitic in nature even when the prima facie evidence clearly suggests anti-Semitic motives were involved. The murder of Marinus Schöberl, for instance, has not been so classified"; vgl. John Rosenthal: Anti-Semitism and Ethnicity in Europe. In: Policy Review, Stanford University, Nr. 121 (2003), http://www.hoover.org/publications/policyreview/3446931.html

3 Vgl. dazu über die Abwesenheit jüdischer Figuren im deutschen Film Thomas Elsaesser: Absence as Presence, Presence as Parapraxis. In: Framework Jg. 49, Nr. 1 , Frühjahr 2008, S. 106-120.

4   Aus dem Film Der Kick.

5  Vgl. Christina von Braun/ Ludger Heid (Hg.): Der ewige Judenhass. Stuttgart 1990, S. 208.

6   Aus dem Film The Cook the Thief His Wife & Her Lover, Peter Greenaway, 1989.

7   Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien-Leipzig 1903. Vgl. dazu auch Nicolas Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde (wobei die Feinde der deutschen Männer die Frauen und die Juden wären): „Der Kultursoziologe Nicolaus Sombart hat das Werk von Carl Schmitt, einem der einflussreichsten und umstrittensten deutschen Staats- und Politiktheoretiker, dechiffriert: als Manifestation des Ordnungs- und Gewaltdenkens in der deutschen Mentalitätsgeschichte. Nicolaus Sombarts detaillierte Studie klärt auf über den verhängnisvollen Sonderweg der Deutschen, die sexuelle Dimension in der Politik und nicht zuletzt über die spezifischen Ursprünge des deutschen Antisemitismus"; Quelle: Kurzbeschreibung über Sombart www.amazon.de

8   Michael Kohlstruck/ Anna Verena Münch: Der Mordfall Marinus Schöberl. Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin 2004.

9   Michael Kohlstruck/ Anna Verena Münch: Der Mordfall Marinus Schöberl. Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin 2004, S. 23.

10  Michael Kohlstruck/ Anna Verena Münch: Der Mordfall Marinus Schöberl. Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin 2004, S. 25.

11    Aus dem Film Zur falschen Zeit am falschen Ort.

12 Daniel Boyarin: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. University of California Press 1997, S. 5.

13   Michael Kohlstruck/ Anna Verena Münch: Der Mordfall Marinus Schöberl. Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin 2004.

14  Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es mir fern liegt, Mord und den sogenannten Selbst-Mord moralisch gleichzusetzen. Es geht hier nicht um eine ethische Gleichsetzung von Suizid und Verbrechen, sondern um die Analyse des Brechens des mächtigen Tabus, einen Menschen vom Leben zum Tode zu bringen; vgl. Thomas Bronisch: Der Suizid. Ursachen, Warnsignale, Prävention. München 1995.

15  Michael Kohlstruck/ Anna Verena Münch: Der Mordfall Marinus Schöberl. Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin 2004, S. 38.

16  Michael Kohlstruck/ Anna Verena Münch: Der Mordfall Marinus Schöberl. Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin 2004, S. 38.