Gregor Gatscher-Riedl
Harald Seewann (Hg.): A. V. Kadimah. Fundstücke zur Chronik der ältesten jüd.-nationalen Studentenverbindung (Wien 1882–1938), Band 2.
Graz: Selbstverlag 2022.
774 Seiten, DIN A 4 broschiert, zahlr. Abb. u. Faksimile, Euro 28,00.- zzgl. Porto erhältlich beim Autor: Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26, 8020 Graz, c.h.seewann@aon.at
Die Wiener „Kadimah“ steht in der Welt der jüdischen Organisationen einzigartig da. Sie war die erste studentische Organisation jüdischen Charakters in Westeuropa, mit Mitgliedern wie Jehuda Leib Pinsker (1821–1891), Perez Smolenskin (1842–1885), Nathan Birnbaum (1864–1937), der die Wortschöpfung „Zionismus“ verantwortet und natürlich Theodor Herzl (1860–1904). Sie war das „Mutterschiff des politischen Zionismus“ und dank zahlreicher, als Multiplikatoren fungierender Mitglieder an der Verbreitung der Idee territorialer Selbstbestimmung des jüdischen Volkes beteiligt. Der Name der Organisation umschliesst mit der Dichotomie „Kadimah“ als „vorwärts“ oder „ostwärts“ die Stossrichtung, die sich diese junge akademische Freundesrunde gibt, „vorwärts“ sozusagen in eine Zukunft eines jüdischen Selbstbewusstseins, einer jüdischen Selbstvergewisserung. Die Lesung des hebräischen „Kadimah“ als „ostwärts“ deutet natürlich in Richtung der Levante und damit in Richtung auch der geographischen Verortung des „Zions“-Begriffes in Jerusalem.
Seit einigen Jahren darf die einzigartige „Kadimah“, die sich Schritt für Schritt die Gestalt einer waffenstudentischen, farbentragenden Studentenverbindung gab, für sich in Anspruch nehmen, die wohl am Besten dokumentierte jüdische Studentenorganisation zu sein. Dass dem so ist, liegt am Grazer Historiker Harald Seewann, der seit mehreren Jahrzehnten zu den jüdischen Hochschulkorporationen forscht. Nach einer 2017 erschienenen Quellenedition mit knapp 500 Seiten zur „Kadimah“ hat er nun eine 774 Seiten starke Fortsetzung herausgegeben, sodass die Wirksamkeit und auch das innere Leben dieser Gruppe bestens dokumentiert sind. Bei seinem nun erschienenen zweiten Band der Edition setzt Seewann den „Quellenmix“ fort, er greift auf verstreute, zumeist in Privatbesitz befindliche Rarissima zurück und ergänzt diese mit ausgewähltem Aktenmaterial aus öffentlichen Archiven und – auch das eine Stärke bereits des ersten Bandes – einer überreichen Fülle an Presseberichten aus den unterschiedlichsten ideologischen Lagern. Mit mehr als 1.200 Seiten ist nun, 140 Jahre nach der Gründung der „Kadimah“ in einem Kaffeehaus in der Wiener Leopoldstadt, ein ganz bedeutendes Kapitel der Vorläufergeschichte der israelischen Staatswerdung ausgeleuchtet. Der Rezensent, der bei eigenen Arbeiten selbst auf Seewanns in der Reihe Historia Academia Judaica publizierte Quellensammlung geradezu angewiesen ist, ist überzeugt, dass auch die nunmehr abgeschlossene „Kadimah“-Edition eine belastbare Plattform für weitere Einzeluntersuchungen darstellen wird.